1- Die Frage an mein Selbst
Das verstehe ich nicht. Eine tiefe Falte bildet sich auf meiner Stirn. Als ich das bemerke, hole ich tief Luft und streiche mir über das Gesicht.
,,Du meinst-, was genau meinst du?", bringe ich die Frage mehr stockend als bedächtig hervor.
,,Habe ich den Willen und die Geduld, dich ein weiteres Mal von Grund auf zu besinnen?" Seine Stimme trieft nur von Ironie, dass es nur rhetorisch gemeint sein kann.
Ich erwidere nur ein Kopfschütteln. Seine Worte rattern in meinem Kopf, als er mit ,,Eine unvergleichbare Chance!" fortfährt und die Hände theatralisch in die Luft wirft.
,,Violet, ich kann dir versprechen, dass du sowas nie wieder finden wirst, ehrlich." Wie üblich wechselt er sekundenschnell vom rasenden zum verletzlichen Typ, der jetzt die Lippen schürzt. So als hätte ich ihn gebrochen und er würde an meiner Scham verenden. Es tut mir leid.
,,Stell dir doch vor", seine Stimme wird leiser, ,,Die Perfektion würde vor deiner Haustür stehen, du machst natürlich die Tür auf, wenn sie anklopft. So ist das mit deiner Zukunft! Unsere Zukunft." Er lächelt, Miles lächelt. Eine Klippe im Meer. Sie flüstert, ich soll springen und in das kalte Wasser eintauchen- etwas wagen.
Aber das Wasser ist zu tief. Allein der Gedanke an die hohe Summe lässt jegliche Hoffnung und Vision in sich zerfallen und räumt nur noch mehr Platz für Zweifel ein. Das Wasser ist viel zu kalt, ich muss schaudern.
,,Du sperrst unsere Zukunft aus, du ignorierst das Potenzial und versteckst dich. Sie wird nicht ewig warten, irgendwann ist es zu spät und was bleibt, ist einzig und allein Reue. Diese Reue ist das schlimmste. Sie raubt Frieden. Also mach dir keine Gedanken um das Geld!" Vielleicht ein Zufall?
,,Miles, ich..."
,,Nein", bringt er mich harsch zum Verstummen. ,,Du weißt, es ist es wert. Wir sind es wert!"
Ich wage keinen weiteren Ansatz zum Sprechen. Warte. Ich warte darauf, dass er wie sonst auch übernimmt. Doch was soll er übernehmen? Alles steht fest und ich bin diejenige hier, die zögert. Meine Kehle ist trocken, ich schlucke schwer. Wäre nicht das laute Pochen meines Herzens, würde ich in Frage stellen, ob wirklich Luft meine Lungen füllt. Irgendwas läuft nicht normal ab. Etwas stimmt nicht mit mir und ich weiß nicht, was es ist.
Im Mondschein werfen meine zitternden Hände und bebender Körper monströse Schatten an die Wand hinter mir. Das Licht fällt durch die hohen Fenster und untermalt die nächtliche Stunde in Düsternis. Meine Stimmbänder fühlen sich zusammengeschnürt an. Vielleicht sind sie das, ich weiß es nicht, aber ich weiß ganz sicher, dass sie mal funktioniert haben.
,,Im Leben musst du etwas riskieren. So läuft das nun mal! Ich hab die Regeln nicht geschrieben. Auf dein jetziges Wohlbefinden wird unerlässlicher Schmerz folgen. Beides ist aneinander gebunden, wobei du dann mehr denn je an dein Ziel denken musst. Warum verstehst du nicht- wer schön sein will, muss leiden." Gegen Ende wird er immer lauter. Ich fühle mich nicht wohl und ich erinnere mich auch nicht, wann ich mich zuletzt anders gefühlt habe. Vor sehr, sehr langer Zeit, verblasst bis hin vergessen.
,,Ja", hauche ich und drehe mich von ihm weg. Mein Versuch gegen die ansteigenden Tränen zu kämpfen, scheitert kläglich, was sich in der Glasscheibe gegenüber spiegelt. Ein Geist starrt zurück. Aus eine ganz anderen Welt, einer fremden Welt ohne Bezug, Halt und Zeit.
,,Gut, ich glaube", ich wische mir über das Gesicht, der Geist vor mir tut es gleich, und korrigiere schnell, ,,Nein, ich weiß sicher, dass ich soweit bin." Mein Gefühl täuscht nicht, ich erwarte keine Antwort von ihm. Im Schutz der Dunkelheit ist Miles bereits verschwunden- wie sonst auch. Die Dunkelheit schützt, aber wärmt nicht. Mir ist so kalt.
Ich fasse nach dem Block und einem Stift, um die nötigen Daten der Visitenkarte zu übertragen. Ich bin soweit, wiederholte ich mehrmals gedanklich. Sie sind laut genug, um sie nicht aussprechen zu müssen, aber zu zerbrechlich und schwach, um sie der Welt zu überlassen. Sie sind mein Geheimnis, an dem Miles ein Teil von ist oder bin ich doch eher ein Teil von ihm? Dennoch stehen die Chancen gut, dass das zu meinem Mantra wird; ich bin soweit. Aber da sind noch seine Worte, die hängengeblieben sind und ihren eigenen Schatten werfen, der merkwürdigerweise schwer auf mir liegt. Er hat einen Stein hinterlassen und ich vermute, wenn ich nicht besser werde, wird er immer schwer auf mir lasten. Wer schön sein will, muss leiden.
Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie
Dr. Enckens
020 7993 4849
Ich betrachte die Karte noch zögernd von allen Seiten, ehe ich sie in unendlich vielen Teilen zerreiße. Die darauf abgebildete strahlende Frau erscheint mir so unsympathisch, so falsch. Vielmehr wie einer typischen Figur oder Puppe gleichend.
Nachdem ich den Block zurück in die Schublade gelegt habe, ganz unten zwischen den Papieren und Briefumschlägen, lasse ich mich an der Wand hinabgleiten. Leider ist es nicht möglich, seine Gedanken in einer Schublade zu vergraben und auf bestimmte Zeit aus seiner Gegenwart verschwinden zu lassen. Lieber würde ich in einer Schublade nach einer Erinnerung wühlen, statt ständig von ihr aufgewühlt zu werden. Es ist ermüdend.
Vor Erschöpfung sinke ich zusammen und ziehe meine Knie an. Von der eigenen Körperwärme umhüllt, kann ich meinen Herzschlag hören. Unregelmäßig, aber verlässlich für diesen Augenblick. Als wäre er das einzig Konstante im Leben- zumindest für diesen bestimmten Augenblick. Das und mein Schluchzen sind das einzige, was die Stille füllen, aber sie genügen für diesen sehr langen Augenblick.
Meine Fingerkuppen wandern über die Rillen im makellosen Boden. Mag sein, dass ich gedankenverloren diesen einen Punkt, der irgendwo im Nirgendwo liegt, anstarre. Diesen einen Punkt, vielleicht Fleck. Zwar lässt mich diese Banalität meiner Gedanken in Selbstmitleid suhlend zurück, doch bin ich wenigstens ein Teil davon. Ein Teil von etwas- der Banalität dieses Universums. Irgendwie.
Ich schließe die Augen und alles, was bleibt, ist eine tickende Uhr.
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