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Fiebrig sucht Luan den Boden ab. Nach einem Auslöser für das Feuer, nach einer plausiblen Erklärung. Mit der in unseren Wänden schlummernden Ungewissheit wird keiner von uns heute Nacht sonst ein Auge zumachen können.
"Das kann doch nicht sein", murmelt er, löst die Überreste einer Diele von den Fugen und reißt mich aus meiner Grübelei.
"Luan, das bringt nichts."

"Das Feuer muss doch irgendwo entstanden sein."
Aufmerksam dreht er die Diele um die eigene Achse und legt sie zu den anderen, die er bereits inspiziert hat. Wenn er so weitermacht, werden wir bald keinen Boden mehr haben. Dabei möchte er einfach nicht akzeptieren, was offensichtlich vor uns liegt. Das Feuer hatte keine erkennbare Ursache. Es war plötzlich da, in einem Ausmaß, das unmöglich auf natürliche Weise entstanden sein kann. Dass keiner von uns beiden eine Verletzung davongetragen hat, bestätigt meine Vermutung - hier war Magie im Spiel. Eine Warnung an mich, dass ich mich nicht in die Angelegenheiten einer fliehenden Magierein einmischen sollte.

Ich schließe die Tür und trete hinter meinen Bruder.
"Du wirst nichts finden." Luans Schultern sacken unter mir ab, als ich ihn vorsichtig berühre. Die Wahrheit gefällt ihm nicht. "Das Mädchen muss mir gefolgt sein. Als sie gemerkt hat, dass ich sie melden will, hat sie uns ein eindeutiges Zeichen gegeben, sie in Ruhe zu lassen."
Wir werden von jemanden beobachtet, der keinerlei Problem hat, uns die Sicherheit in unseren eigenen Wänden zu klauen - nächstes Mal wird uns das Feuer sicherlich nicht verschonen. Obwohl das nur noch Grund mehr ist, jetzt dringend den Stadtherrn vorzuwarnen, werde ich schweigen. Luan in Gefahr zu bringen, nur weil ich einen Fehler begangen habe, kann ich mir nicht leisten. Er ist meine Welt. Er ist alles, was ich noch habe.

"Das ist absurd."
"So absurd wie zwei Magier in Phantasia?", halte ich dem entgegen. Luan legt mir einen Arm um, kaum lasse ich mich neben ihm nieder. Ich tauche in die vertraute Stabilität ein, die er mir wieder einmal bietet, während alles um uns Kopf steht.

Dabei sollte es nicht so sein, denn das Leben in Sonelem ist strukturiert. Viele sprechen von Prädestination durch eine höhere Macht. Unser Vater nannte es vorbestimmt durch Regierung und Gesetze - und gegen die konnte er, im Gegensatz zu einer höheren Macht, vorgehen.

Meine Zeit ist bereits abgelaufen, aber eure beginnt gerade erst, pflegte er zu sagen. Dies führte dazu, dass mein Bruder und ich die Schule besuchen durften. Für einen Jungen ist dies weniger außergewöhnlich. Mädchen hingegen werden meist nach der Grundbildung zurück in den Haushalt verdonnert. Warum sollte eine Frau auch zu mehr fähig sein, als das Rezept aus dem Kochbuch entziffern zu können?

Unser Vater sah das anders. Ich sollte nicht werden, was von mir verlangt wurde. Dienstmädchen oder Hausfrau kann ich auch mit Bildung werden, wenn dies mein Wunsch sein sollte. Also verbrachte ich weitere Jahre in der Schule, untergebracht zwischen pubertären Jungen. Manche von ihnen hielten nicht viel von mir, der ein oder andere bedachte mich mit anstößigen Kommentaren, aber einzelne achteten den emanzipierten Gedanken meines Vaters - und der Lehrer behandelte mich erfreulicherweise genauso wie die Jungen, streng, aber respektvoll.

Wir hatten einen Alltag, Struktur und Ordnung, auch wenn wir nicht nach den ungeschriebenen Gesetzen Sonelems lebten. Dann brach alles an diesem einen stürmischen Oktoberabend zusammen.

An diesem einen Tag, an dem unser Vater nicht mehr vom Meer nach Hause zurückkehrte. Auch nicht an dem Abend darauf. Erst drei Tage später wurde der Mast angeschwemmt und beendete die fürchterliche Ungewissheit mehrerer Familien. Das ist nun vier Jahre her. Vier verdammt harte Jahre, wenn man von heute auf morgen ohne Eltern dasteht - die schützenden Arme und die warme Liebe einer Mutter hatten wir schon lange nicht mehr. Manchmal denke ich an sie und frage mich, ob sie uns auch einen ihrer Gedanken schenkt. Ob sie glücklich sein kann, nach dem, was sie uns angetan hat. Meist verbiete ich mir sofort jeden weiteren Gedanken - sie ist es nicht wert. Luan ist erfolgreicher darin, sie zu verdrängen. Er geht anders mit Schmerz um. Statt an Vergangenes zu denken, handelt er lieber in der Gegenwart.

Vielleicht, weil mein Vater ihn stets darauf vorbereitet hat, ein guter Bruder zu sein. Vielleicht, weil er mit dem Wegfall unserer letzten Stütze selbst die Stütze sein musste. Für mich. Für die kleine Schwester, die wochenlang kein Wort mehr sprach. Für das Mädchen, das jede Nacht in seinen Armen weinte. Für die gebrochene Frau, die noch immer nicht vertrauen kann - ein Teil von mir fürchtet sich davor, dass ich diese Angst niemals ablegen werde. Für immer von der Vergangenheit gezeichnet sein werde. Für immer mehr von meiner Mutter bei mir tragen werde, als sie verdient hat.

"Wenn sie uns zum Schweigen bringen wollte, warum sollte sie uns dann so glimpflich davonkommen lassen?"
Luans Hand streicht mir sanft über den Arm, sucht meine Nähe. Nach außen sichtbar präsentiert er unablässig den selbstbewussten Mann, doch ich kenne ihn und die Anzeichen seiner Unsicherheiten. Für viele wäre diese Berührung nur etwas Beiläufiges. Für Luan ist es die Absicherung, dass ich wahrhaftig noch in Fleisch und Blut neben ihm sitze. Dass ich lebe. Dass die Magie nicht alle gewonnene Sicherheit rigoros entwurzelt hat.

Ich winkle meine Beine an und lege das Kinn auf den Knien ab. "Weil Magier normalerweise Leben retten, statt sie zu nehmen? Was würde es ihr denn bringen, uns hier verbrennen zu lassen, wenn das eben eine eindrückliche Warnung war?"
Luan dreht den Kopf und haucht mir einen Kuss auf den Scheitel. "Ach, Lia."

In seinen Worten liegt ein geplagter Unterton. Weil ich der Magierin gutmütigere Intentionen zuschreibe, als sie vermutlich hatte. Weil ich wieder einmal das Gute im Schlechten suche, obwohl ich weiß, dass ich noch nie fündig wurde.
"Komm." Luan bietet mir seine Hand an. "Da wir schweigend ja wohl sicher sind, sollten wir jetzt nach deinen Verbrennungen schauen."

Ich schüttele den Kopf. "Mir geht es gut."
"Dem Schock sei dank, aber das Adrenalin wird bald abklingen."
"Luan, ich meine es ernst. Meinen Beinen geht es wunderbar."
"Du standest mitten im Feuer."
Demonstrativ drehe ich ihm meine Waden zu. "Wie ich sagte, mir geht es gut."

Luans Blick ruht auf meiner unversehrten Haut, schweift zu meinen Augen und wieder zurück auf meine Beine. Ich kann förmlich sehen, wie sich die Gedanken hinter seiner Stirn überschlagen.
"Sie hat uns versch-"
"Du."
"Wie bitte?" Meine Stimme schießt in die Höhe, so vorwurfsvoll klang das kleine Wort aus seinem Mund. "Ich?"
"Du hast uns verschont." Eilig weicht er vor mir zurück, hält mich mit erhobener Hand auf Abstand. Und zum ersten Mal versetzt mir der Ausdruck in seinen blauen Augen einen qualvollen Stich im Herzen. Ich sehe Angst, blanke Angst in ihnen. "Du hast das Feuer verursacht."

"Das ist doch Schwachsinn! Wie sollte ich das tun?", streite ich seinen Vorwurf sofort ab und komme auf die Beine.
"Ich habe es gesehen, Talia."
"Das Feuer war nicht zu übersehen."
"Nein, nicht das." Luan weist auf meine Hände. "Ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet, aber jetzt macht es Sinn. Deine Finger..."

Er sucht nach Worten. Dabei weiß ich genau, was er meint. Ich hatte es als Kitzeln in den Fingerspitzen abgetan, aber es war wuchtiger. Brennender. Gieriger. Ein Ziehen, das plötzlich Erlösung fand, als das Feuer anfing und sämtliche Aufmerksamkeit auf sich zog.
"...haben geglüht."

Geglüht. Ja, treffender könnte man das Gefühl kaum beschreiben. Ich hebe meine Hände an, doch die Haut ist blass und unscheinbar wie eh und je. Nichts deutet darauf hin, dass wir beide nicht gerade Hirngespinste entfachen.

"Ich..." habe keine Ahnung, wie das gerade passiert ist. Warum das passiert ist. Ob wir nicht gerade komplett am Rad drehen. Ich will so viel sagen, doch Luan zieht nur einen Stuhl heran und kniet sich vor mich, keinerlei Abstand ist mehr zwischen uns. Obwohl meine Finger jeden Moment wieder glühen könnten. Obwohl er Angst vor mir haben sollte. Doch da verstehe ich, dass die Angst in seinen Augen nicht mir galt, sondern der Möglichkeit, mich zu verlieren. An das Feuer. An ... Magie.

"Ich verstehe es nicht", wispere ich. Meine Stimme ist nur ein Hauch in der Stille, als würden die Worte wahr werden, wenn ich sie lauter aussprechen sollte. "Ich kann das doch nicht."
"Offensichtlich schon. Vielleicht war es schon immer in dir."

Ich entblöße den Bluterguss auf meinem Arm und spure seinen Schatten vorsichtig nach. Kann das möglich sein? Magie ist normalerweise angeboren, aber was, wenn der Schmerz der Berührung einen Grund hatte? Wenn sie mir ihre Kraft gegeben hatte, weil sie auf der Flucht war und nur ein Ziel vor Augen hatte: weg mit dieser Magie? Das würde jedenfalls bedeuten, dass all das revidiert werden müsste, was die Forschung über Magie bislang gesichert hat.

Luan folgt meinem Blick. "Woher ist das?"
"Von dem Mädchen." Ich wage es nicht mehr, sie eine Magierin zu nennen. Womöglich ist sie keine mehr. Womöglich bin ich selbst jetzt die Bedrohung für unsere Sicherheit. "Das mag sich sonderbar anhören, aber was, wenn sie ihre Magie an mich abgetreten hat?"

Achtzehn Jahre lang die Kräfte unterdrückt zu haben, nur um sie in einer hitzigen Situation nicht kontrollieren zu können, erscheint surreal. Dazu hätte es bereits weitaus mehr Gelegenheiten in meinem Leben gegeben, insbesondere den herzlosen Abgang unserer Mutter.
"Es hört sich unmöglich an."
Ich schlucke schwer. "In einer Welt voller Magie ist nichts unmöglich."

Luan umschließt meine Hände, fest und bestimmt - ein unmissverständliches Zeichen.
Mir egal, was du bist. Ich lasse dich nicht alleine.

"Versprich mir eines, Lia."
"Kommt ganz darauf an", bringe ich hervor, auch wenn meine Antwort im Herzen eine andere ist: natürlich, was auch immer es sein sollte.
"Du wirst nicht dem König dienen."

Daran hatte ich nicht einen Moment lang gedacht. Meine Mission ist eine andere: das Mädchen wiederfinden und mir diese Kraft abnehmen lassen, denn ich suche nicht nach einem Weg, die Magie zu händeln, sondern nach einem Ausweg.
Entschlossen strecke ich Luan meinen kleinen Finger entgegen, wie immer, wenn wir als Kinder ein Geheimnis für uns behalten mussten und das Schweigen untereinander absicherten. Er erwidert die Geste.
"Vermillion-Ehrenwort."
Seine Mundwinkel zucken in die Höhe. "Vermillion-Ehrenwort."

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