Kapitel 1 I Unerwünschter Gast
Elisabeth trat in ihren Garten hinaus, in der Vorfreude, ihre Blumen zu gießen, doch stattdessen entrann ihr ein lauter Schrei. Fast wäre sie über eine Person am Boden gestolpert. Sie kniete sich nieder. War das etwa Blut? Ihr wurde schwindelig. Schließlich findet man nicht jeden Tag jemanden mit einer Kopfwunde vor seiner Haustür.
"Hallo? Geht es Ihnen gut? Sie sind wach? Hallo?" Vorsichtig rüttelte sie an den Schultern der am Boden liegenden Person. Es war eine Frau im mittleren Alter, in sportlicher Kleidung. Sie konnte nicht lange in der Stadt wohnen, denn normalerweise kannte hier jeder jeden.
Der Kopf kippte zur Seite, doch es floss kein Blut mehr. Elisabeth schlug die Hände vors Gesicht. Das konnte nicht wahr sein! Eine Tote in ihrem Garten! Erst dieser seltsame Zettel und jetzt das hier!
"Hil ... Hilfe!", sie schrie etwas hysterisch und fuchtelte wild mit den Armen herum. Einige Fußgänger auf der anderen Straßenseite beobachteten sie argwöhnisch, kamen jedoch nicht herüber. Panisch blickte sie auf die Frau vor ihrer Tür. Vielleicht war alles nur ein schlechter Traum. Ja, das musste es sein.
Elisabeth ging hinein und legte sich wieder ins Bett. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wartete darauf, dass sie endlich aufwachte. Doch was war, wenn sie nicht geträumt hatte? Das wollte sie sich lieber nicht vorstellen, der Zettel, den sie vorgestern bekommen hatte, war schon schlimm genug. Eine Leiche war etwas zu viel.
Ein Schrei ertönte draußen, hundert Mal lauter und schriller als ihr eigener. Frau Bäcker. Nur ihre nervige Nachbarin konnte so laut schreien. Und wenn Frau Bäcker schrie, dann kam entweder jemand in viel zu kurzen Sachen vorbei, oder etwas Schlimmes war geschehen. Elisabeth tippte auf das zweite.
Elisabeth sah noch einmal auf ein Wunder hoffend nach oben und ging anschließend wieder hinaus. Nein, die tote Frau war leider nicht verschwunden. Vielleicht würde sie aber noch verschwinden. Vielleicht war sie einfach nur eine Halluzination ...
"Geht es Ihnen gut, Frau Bäcker?" Sie versuchte vollkommen ruhig zubleiben, nur für den Fall, dass alles ein Traum war und sie in Wirklichkeit einfach nur in ihrem Bett vor sich hin redete.
Ein irritierter Blick traf Elisabeth: "Siehst du etwa nicht die Tote vor deiner Haustür?"
Also war es doch keine Einbildung. Verflucht!
"Natürlich. Würde es Ihnen ausmachen, die Polizei zu rufen? Mein Telefon wird erst am Montag eingestellt."
Noch vor wenigen Wochen wohnte Elisabeth bei ihren Eltern am anderen Ende der Stadt. Nun hatte sie das Haus einer Freundin abgekauft, die unbedingt umziehen wollte und wegen des überstürzten Umzuges hatte sie kaum Zeit gehabt, irgendetwas zu installieren.
Ihr ungewöhnlich ruhiger Tonfall, den sie trotz ihrer Nervosität behalten wollte, machte die Nachbarin stutzig, "Eine Leiche wird in deinem Garten gefunden und du willst, dass ich in Ruhe die Polizei anrufe. Irgendwie verdächtig." Frau Bäcker ging vorsichtshalber einen Schritt zurück. Argwöhnisch musterte sie Elisabeth noch einige Minuten, bevor sie wieder ins Haus ging.
Elisabeth kannte ihre neue Nachbarin schon lange, besser gesagt, seit sie ein kleines Kind war. Damals war Frau Bäcker ihre Erzieherin, doch ein so seltsames Benehmen war Elisabeth bei ihr nie aufgefallen. Glaubte sie wirklich, Elisabeth hätte etwas damit zu tun?
"Verdammt!", Elisabeth fluchte zwar nicht gerne, doch nun hatte sie allen Grund dafür. An diesem Tag ging aber auch wirklich alles schief! Wäre sie doch bloß nie aus dem Bett gestiegen, dann müsste sie jetzt nicht im Garten vor einer Leiche stehen, während ihre Nachbarin andeutete, dass sie eine Mörderin war.
Nach nur wenigen Minuten kam die Polizei an. Frau Bäcker hatte sie gleich zu Fuß geholt. Natürlich, wenn man in einer Kleinstadt lebt, kann die Polizei nicht weit entfernt wohnen. Eigentlich hätte sie dort selbst hingehen können. Doch noch immer war sie viel zu überfordert von der Situation, als dass sie irgendetwas Vernünftiges tun konnte. Als beide, ihre Nachbarin und Hauptkommissar Kurt ankamen, tuschelten sie noch einige Minuten am Gartenzaun und Frau Bäcker zeigte, natürlich unauffällig, auf Elisabeth.
Dann kam der Polizist, noch in Hausschuhen und im Pyjama, zu ihr herüber: "Das ist also Ihr Haus, Frau Grandler?"
Sein Anblick war wirklich lustig, doch im Ernst der Lage wollte Elisabeth es vermeiden, zu lachen. Denn das würde alles noch viel schlimmer machen. Sie kannte ihn gut genug, sodass sie wusste, wie schnell er etwas falsch verstehen konnte. Immerhin war er der Vater einer ihrer besten Freundinnen. Dieser Unterton in seiner Stimme verpasste ihr dennoch einen Stich ins Herz.
"Natürlich ist es das! Oder was glauben Sie?" Elisabeth war völlig außer sich. Was bildete er sich bloß ein? Dass sie einfach in ein fremdes Haus hineinspazierte, den Besitzer umbrachte und sich dann ruhig ins Bett legte? Erst dann wurde ihr bewusst, wie alles aussah. Eine Leiche in ihrem Garten, sie die einzige Person in der Nähe und überall ihre Spuren, weil sie an der Leiche gerüttelt hatte. Es stand wirklich schlecht für sie.
"Sie würden uns eine Menge Arbeit ersparen, wenn Sie einfach en Geständnis machen. Natürlich auf der Polizeiwache." Der Kommissar rieb sich die Augen und wollte ihr gerade die Handschellen anlegen, als Elisabeth sich ruckartig umdrehte.
"Das kann nicht Ihr Ernst sein! Ich habe diese ...", sie sah zu der Leiche herüber, "diese fremde Frau nicht umgebracht!" Vor Nervosität torkelte sie einige Schritte rückwärts. Der Polizist, der sich offensichtlich noch halb im Traumland befand betrachtete sie völlig verdattert.
"Haben Sie nicht? Und wieso liegt sie dann in ihrem Garten?" Er wollte den Mord einfach so schnell wie nur möglich abhaken. Keine großen Ermittlungen, ein paar kleine Berichte und wieder viel Freizeit. Und noch dazu keinen Skandal, der bei einem Mord normalerweise zu erwarten war.
"Ich weiß es nicht! Fragen sie doch den Mörder." Elisabeth zuckte mit den Schultern. Gestern war doch noch ein normaler Tag gewesen und jetzt das hier. Eine Katastrophe!
"Ich frage Sie doch." Der Polizist blieb ruhig und gähnte leise. Für ihn schein der Fall klar. Auch ohne Motiv gab es einfach genug Beweise.
"Ich bin aber nicht die Mörderin!" Elisabeth raufte sich das Haar. War dieser Polizist aber stur! Doch daran konnte sie leider nichts ändern. Immer mehr Menschen sammelten sich am Zaun zusammen. "Mörderin!", es dauerte nicht lange, bis die erste Beleidigung ertönte. Elisabeth drehte sich um. Überall standen Menschen, manche liefen wieder weg, doch meist nur, um irgendwelche Lebensmittel zu holen, die sie dann zum Werfen benutzten. Innerhalb von Minuten sammelten sich dutzende von Menschen vor ihrem Haus an, manche kletterten sogar über den Zaun, um näher an ihr Wurfziel heranzukommen.
"Wollen Sie dagegen nicht etwas tun?", verdeutlichte Elisabeth dem Kommissar, einige der Rabauken festzunehmen.
"Husch! Husch! Verschwindet!" Er wedelte mit Armen und blickte hilflos in die Menschenmenge. Ohne seine Kollegen konnte er wohl nichts tun, doch selbst wenn sie endlich kommen würden, würden zwei Dorfpolizisten nicht sehr viel helfen können.
"Selbst wenn Sie sich nun nicht die Mühe machen, ein Geständnis abzulegen, so wäre es doch bloß zu ihrem besten, wenigstens für eine Aussage auf die Polizeiwache mitzukommen."
Elisabeth blickte wieder in die Menge und seufzte. Selbst wenn sie diesem Kleinstadtpolizisten nicht vertraute, den Leuten ihrer eigenen Heimat ausgesetzt zu werden, wäre wohl noch schlimmer. Also nickte sie. Eine Nacht in der Zelle würde ich nicht schaden.
Während sie durch die überfüllten Straßen liefen, unter dem ständigen Beschuss von Lebensmitteln, von denen sich Elisabeth ab und zu einen Happen genehmigte, bemerkte sie plötzlich einen Zettel in ihrer Manteltasche. Mit einer Hand, den mit der anderen wurde sie durch die Straßen gezerrt, entfaltete sie ihn.
"Du bist zum Mord bestimmt. Du weißt es, Elisabeth."
Schon wieder so ein seltsamer Zettel. Wer schrieb ihr bloß diese Nachrichten? Etwas an der Handschrift kam ihr vertraut vor, sie wusste nur nicht, was es war.
Du bist zum Mord bestimmt. Was sollte das bloß heißen? Natürlich, wenn heute der erste Zettel ankommen würde, würde sie denken, dass einer der fanatischen Stadtbewohner ihn aus Überzeugung geschrieben hat. Doch der erste Zettel kam doch schon vorgestern an ... Es gab nur eine Lösung. Der Mörder musste den Zettel geschrieben haben. Nun war das einzige Rätsel, herauszufinden, wer den Zettel geschrieben hatte. Dann würde sich auch klären lassen, wie der unerwünschte Gast in ihren Garten kam.
(1344 Worte)
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