Epilog I Leben
Manchmal kann das Leben einen in die Irre führen, doch selbst dann können Irrungen unser Leben nicht führen---
Irrungen schienen Elisabeths Leben nur so zu erfüllen. Fehler, die sie hätte vermeiden können. Alles könnte doch so einfach sein! Doch nur sie selbst führte sich immer weiter in die Irre.
Leben. Für viele etwas Selbstverständliches mit so vielen Verbindungen. Doch welche Verbindungen standen denn noch? Fast keine. Ihr Leben lag in Scherben, die sie nicht mehr aufsammeln wollte. Alles, woran sie jemals glaubte, war ihr genommen worden. Lügen standen anstelle von Freundschaften. Gesparte Worte an Stelle der Familie. Der Tod an Stelle der Familie. Keine der alten Verbindungen schienen sie an einem Leben zu halten.
Melanie. Dieser Name wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Sie waren Ewigkeiten Freundinnen, nichts schien sie auseinander bringen zu können. Immer war Melanie da und in jeder Situation war auf sie verlass, egal wie sehr sie sich manchmal beschwerte. Doch nun? Nun war sie eine Mörderin, die auch Jagd auf Elisabeth machte. Nun war sie eine Verräterin, die das Leben anderer Leute beendete.
Wütende Schritte wurden von der engen Gasse wiedergegeben. Ja, Elisabeth hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Es war ihr egal, wie Melanie, die Mörderin reagieren würde. Es war ihr egal, ob sie dieses Treffen überleben oder sterben würde. Nichts zählte mehr.
Nur wenige Schritte vor Melanies Haus blieb Elisabeth stehen. Wieder würde sie die rosaroten Zimmer sehen, tausende Spiegel um sich und daran denken müssen, dass Melanie ihr immer nur den Spiegel ihrer Vorstellungen vorhielt. Wieder würde sie die hunderte an Kleidungsstücken sehen müssen und daran denken müssen, wie gut Melanie ihre Rolle doch konnte. Denn wenn sie eins konnte, dann war es schauspielern. Die Bühne war Melanies vorbestimmte Heimat, nur dass sie niemals genug Geld dazu hatte.
Die rosaroten Gardinen am Fenster bewegten sich. Himmelblaue Augen blickten auf Elisabeth hinab. Eine Mischung aus Leben und Tod funkelte in ihnen. Und eine tiefe, ehrliche Reue...
Neben den himmelblauen Augen erschienen schwarze, in denen nur der Tod wütete. Es waren Augen, die nach Rache sannen und die Elisabeth abgrundtief hassten. Keine Reue, nicht einmal ein Funken Gutmütigkeit konnte man in ihnen finden. Sie wünschten Elisabeth den Tod.
Die Blickte kreuzten sich und Panik stieg in den himmelblauen Augen auf. Es durfte nicht soweit kommen! Er durfte nicht mit seinem Plan gewinnen!
Die himmelblauen Augen wanderten wieder nach unten. Mitleid kam in ihnen auf, doch sie durften keine Regung zeigen. Sie musste wie er werden! Gefühllos und kalt. Selbst, wenn das den Tod eines Menschen bedeutete, der ihr wirklich am Herzen lag. Selbst, wenn es ihren eigenen Tod bedeuten würde. Um seinen Ruf zu wahren würde er alles tun. Aus ihrem Respekt und der Liebe ihm gegenüber war Angst geworden, eine Angst, die zum Tod führte.
Elisabeth klopfte energisch gegen die Tür. Noch einmal würde Melanie sich so etwas nicht erlauben! So sollte sie sie doch umbringen! Sollte sie sie doch als Mörderin dastehen lassen! Sie hatte ihr vertraut!
Die schwarzen Augen bedeuteten der jungen Frau am Fenster, zu öffnen. Wäre Elisabeth bloß nicht gekommen! Wieso musste sie auch hier sein? Zitternd ging sie hinunter. Bei jedem Schritt auf der Treppe verlor sie immer mehr die Hoffnung, dass alles gut werden würde. Elisabeth musste verschwinden. Sie musste einfach!
Ungeduldig stand Elisabeth unten. Hatte Melanie sie nicht erwartet? So gerissen wie sie war sicherlich. Schließlich konnte sie auch nirgendwo anders sein. Nein, sie zögerte die Begegnung bestimmt nur heraus.
Elisabeth hatte richtig gedeutet. Melanie zögerte alles hinaus, aber nicht aus Angst aufzufliegen, sondern aus Angst vor einer erneuten Begegnung der beiden. Sobald er sie sehen würde, würde sie tot sein. Alles fing mit einer unkontrollierbaren Minute an, doch nun? Nun lag alles in Trümmern. Selbst mit ihrer Freundin konnte sie nicht reden. Nichts war so einfach, wie Elisabeth immer dachte. Wenn Mutter doch nur leben würde!
Elisabeths Faust hämmerte erneut gegen die Tür. In ihrer Wut bekam sie die Klingel einfach nicht zu fassen. Nichts würde von heute übrigbleiben. Wie konnte sich Melanie nur so sehr ändern? Immer hatte sie ihrer Mutter, der Schauspielerin nachgeeifert, die nun leider nicht mehr lebte. Hatte das sie genauso kalt und mordsüchtig gemacht sie ihren Vater? Elisabeth fiel es nicht auf, um wie wenige Millimeter sie an der Wahrheit vorbei dachte.
Alles ergab einen Sinn. Nur hatte sie das wichtigste Detail die ganze Zeit ignoriert. Doch war es auch das wichtigste Detail? War es auch die Wahrheit, die sie gefunden hatte? Es musste so sein! Wenn die Teile eines Puzzles passten, musste auch das Bild vollständig sein. Doch zwei Teile des Puzzles hatte sie vertauscht. Was im Spiel nicht auffiel, machte im Leben alles anders. Denn diesmal ging es um alles.
Melanie musste beide getötet haben! Frau Kurze, die ihr aufgrund der Schulden alles was sie hatte nehmen wollte. Und Hans Fregler, den Mann, der nie existierte. Er existierte wohl, nur hörte man lange auf an ihn zu denken, als er zu denen gehörte, die nichts mehr zu geben hatten. Zu denen, denen ein Brot mehr bedeutete als die Marke der Schuhe, wie heutzutage normal ist.
Ja, Hans Fregler war ein Mensch, der laut Papieren lange nicht mehr existierte. Ein Rätsel, das man nur mit allen möglichen Recherchemöglichkeiten lösen konnte. Oder als Mörder. Vermutlich gab es keinen Grund, ihn zu töten, außer er hatte den Mord gesehen. Wieso sonst sollte man Melanies Halskette in den Beweismaterialien finden? Eine andere Lösung ergab einfach keinen Sinn!
Diese Spur mit dem Handy, die den Streit mit Kira nur so anfachte. Wie konnte Melanie etwas so hinterhältiges tun? Ein Handy mit ihrem Fingerabdrücken Kira unterzujubeln war nur gemein. Das ihr Vater das alles mitmachte, machte alles nur noch schlimmer. Wie konnte er die ganzen Spuren nur geheim halten?
Melanie zitterte vor Angst. Ihre himmelblauen Augen wurden immer größer. Das durfte alles nicht weitergehen!
Die Beweise sind eindeutig. Es muss einfach so sein. Ich darf nicht zweifeln! Elisabeth hörte die Schritte hinter der Tür. Diesmal kein schnelles Klappern der hohen Absätze, seltsam. Melanie war jemand, dem Schönheit im Leben alles bedeutete. Wieso war es heute nicht so?
Melanies Finger klammerten sich hilflos an die Klinke. Der Mann mit den schwarzen Augen trat währenddessen schon auf die erste Treppenstufe. Sollte sie wirklich öffnen?
Gleichzeitig mit dem Öffnen der Tür trat Elisabeth ein. Melanie hatte dunkle Augenringe und sah längst nicht wie eine Mörderin aus, auch wenn sich der Tod in ihren Augen spiegelte. All die Wut verschwand aus Elisabeth. Sie war kein nachtragender Mensch und ihre Naivität hatte wieder gesiegt.
"Verschwinde. Verschwinde, bevor es zu spät ist." Melanie klang heißer. Sie klang, als hätte sie schon mit dem Leben abgeschlossen, denn das hatte sie auch. Die übliche Fröhlichkeit war verschwunden. Nein, sie konnte Elisabeth nicht zerstört haben, den etwas oder jemand hatte sie zerstört. Zu einem Abbild ihrer selbst gemacht, das Leben und Tod einfach verband.
"Was ist los?" Elisabeth wurde panisch. Sie hatte Melanie noch niemals traurig oder gar ängstlich gesehen.
Die himmelblauen Augen wanderten das Treppengeländer hoch. Schwarze Augen streiften ihren Blick. Ein Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Mannes breit. Noch war es nicht vollständig zu erkennen, doch das Messer in seiner Hand funkelte schon im Sonnenschein.
"Glaube mir, ich habe nicht beide getötet! Nur sie, es war ein Unfall! Ich wollte es doch nicht! Sie brach einfach plötzlich zusammen! Und ich habe dich nicht gejagt!"
Glaube mir. Sollte Elisabeth ihr glauben? Won sie doch so viel gelogen hatte. Doch jetzt sprach Wahrheit aus ihr. Wer war dann für den Rest verantwortlich? Wer, wenn nicht Melanie?
Endlich tauchte zu den schwarzen Augen ein Gesicht auf. Ein hämisches Grinsen, die Freude am Tod. Er wollte sie sterben sehen! Er wollte alle sterben sehen! Er liebte den Tod doch! Kommissar Kurt. Melanies Vater.
Wie konnte er es sein? Aber ja doch, er hatte die Möglichkeit. Er musste seinen Ruf wahren. Und das Funkeln in seinen Augen verriet sein wahres Gesicht. Das Gesicht eines Mörders. Das Gesicht des Todes.
Aber natürlich! Einmal wies alles auf sie hin, damit sie mit diesem Verdacht den Beweis zur Unmöglichkeit ihrer Spur erhielt. Doch die Morde führten immer von der Familie weg. Er war ein Genie. Oder ein Wahnsinniger.
Leben und Tod. Das war sein Beruf, das war seine Berufung. Als Kriminalkommissar bedeutete es ihm mehr als alles andere. Während er die Kontrolle über Leben und Tod gewann, verloren alle in seinem Umfeld die Kontrolle über deren Leben. Er war ein Manipulator, ein Sieger und doch hatte er den wichtigsten Kampf verloren. Den Kampf gegen seine Seele.
Die vertauschten Puzzleteile fanden wieder ihren Platz. Das Bild ergab einen Sinn. Doch was nun? Sie hatte sich so oft getäuscht, wie sie nur konnte. Hier konnte sie nicht bleiben und auch nicht in der Stadt.
"Renn. Vielleicht werde ich es auch bald können." Melanie blickte ihr tief in die Augen, während ihr Vater immer schneller auf Elisabeth zulief.
Elisabeth rannte. Sie rannte um ihr Leben, um eine neue Zukunft. Es sollte nicht heute enden. Vielleicht würde es eines Tages noch ein Morgen geben.
Leben. Ja, jetzt wollte sie leben. Auch wenn ihr Leben in Scherben lag. Vielleicht würden ihre Freundinnen es auch eines Tages wieder können. Ja, ihre Freundinnen. Denn Freundschaft kann man auch nicht mit einem Tod beenden. Egal was beide getan hatten, Melanie, Kira und sie würden immer Freundinnen bleiben. Und vielleicht, nur vielleicht, würden alle drei eines Tages wieder leben ...
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top