Seite 18
╝ Seite 18 ╔
❝Alles egal❞
BIANCA WANDERTE FÜR einige Zeit durch das kahle Nichts. Nach einer halben Stunde merkte sie, dass die endlose Weite sie wahnsinnig machte. Es war Zeitverschwendung. Sie entschloss sich dazu, die Schachtel mit den Streichhölzern hervorzuholen und noch ein Türchen zu zeichnen. Wieder sprang sie durch den Boden, nur um festzustellen, dass eine Etage tiefer genau dasselbe zu finden war. Ein weißer nicht endender Papierboden.
Schnaubend grub Bianca ihre Hände in die Haare. Sie kniete sich nieder und biss die Zähne zusammen. Ihre Hände malten in schnellen Bewegungen noch ein weiteres Türchen. Sie sprang hindurch. Dann zeichnete sie noch eines und noch eines. Immer routinierter kritzelte sie halbherzig Quadrate, durch die sie sich fallen ließ, doch jedes Mal landete sie an identisch aussehenden Orten.
Fest entschlossen machte sie weiter. Es kam ihr vor, als würde sie einen Roman lesen und von einer Seite zur nächsten blättern. Irgendwann war das Buch so spannend, dass die Zeit davonrannte und man der Uhr keinen Glauben mehr schenken wollte. Von Papierboden zu Papierboden zu springen, fühlte sich exakt genauso an. Dennoch hörte sie nie auf zu zählen.
Irgendwann begann sie die Ebenen sogar als Buchseiten zu bezeichnen. Sie blätterte und blätterte, aber wie lange es noch so weitergehen würde, konnte ihr beim besten Willen niemand verraten. Andererseits war es nicht üblich, zum Ende eines Romans zu springen, um die genaue Seitenanzahl zu erfahren. Man las und las. Zum Schluss verschlang man auch das dickste Buch schneller als gedacht.
Bianca hielt inne und schnappte nach Luft. Das Springen trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Außerdem verbissen sich Zweifel in ihr. Bei jedem Roman konnte man in etwa schätzen, wie lange er dauerte. Je dicker desto mehr Zeit musste man einplanen. Hier war es anders. Wer konnte ihr versichern, dass dieses Buch endete?
Schnaufend schob sie die Schachtel Streichhölzer auseinander und runzelte die Stirn. Ein anderes Problem tat sich auf. Das Zeichenmaterial ging ihr aus. Inzwischen war sie auf Seite neunzehn gelandet. Langsam musste sie sich die Stäbchen einteilen. Vielleicht sollte sie noch etwas in Reserve haben, falls ihr eine geniale Idee kam.
Bianca ließ sich kraftlos nieder und stöhnte. Ihre Beine schmerzten. Die Muskeln begannen sich über das viele Bewegen und die wenigen Pausen zu beklagen. Sie sah wieder in die Schachtel hinein und schob einige Hölzchen beiseite. Diese würde sie sich aufheben. Sie riss den Blick von der Box und sah hinauf zum achtzehnten Türchen über ihr. Den verfluchten Spalt hatte sie lange nicht mehr gesehen, aber sie war sich sicher, dass er früher oder später aufkreuzen würde.
Sie nahm eines der Stäbchen hinaus und setzte das verkohlte Ende am Papier an. Zur Abwechslung würde sie keine Falltür zeichnen, sondern einfach das, worauf sie Lust hatte. Ihre Hände begannen draufloszukritzeln. Sie malten in kleinen zarten Bewegungen ein Gesicht. Mit den Fingern verschmierte sie die schwarze Farbe und erzeugte Schatten, welche die Zeichnung lebendiger erscheinen ließen.
Verträumt rückte sie ein Stück zur Seite, um den Körper zu malen. Nie war es ihr Talent gewesen, solch ein Kunstwerk zu erschaffen, aber heute ging es ihr leicht von der Hand. Seltsamerweise fühlte sie sich nicht so verkrampft wie sonst und überlegte kaum. Sie setzte die schwarze Farbe einfach an und kritzelte drauflos. Viele schlimme Dinge hatte sie bereits gesehen. Ihr war egal, ob sie eine künstlerische Begabung hatte oder nicht.
Bianca stützte sich am Kinn ab und blinzelte. Sie hielt inne, da sie fertig mit ihrer Zeichnung war. Wen sie hier überhaupt dargestellt hatte, fiel ihr erst jetzt auf. Sie zog ihre Augenbrauen zusammen und überlegte fieberhaft, warum das dermaßen real aussah. Warum konnte sie das? War es die unendliche Leere, die diese Klarheit in ihrem Kopf erzeugte? Oder war es die Langeweile, die sie in den Wahnsinn trieb und ihr neue Kräfte verlieh?
Ehe sie noch einen Gedanken an ihre Fähigkeiten verschwenden konnte, warf sie das Streichholz zurück in die Box und stand eisern auf. Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie machte sich nicht die Mühe sie zurückzuhalten, da sie hier sowieso alleine war. Es war egal. Alles war egal. Sie stapfte um die Zeichnung herum und fragte sich wiederholt, warum sie Sam gezeichnet hatte. Wieso ihn? Ihr Unterbewusstsein spielte ihr schon von Anfang an Streiche.
Eine Träne tropfte hinab und landete auf dem Kunstwerk. Frustriert setzte sich Bianca hin und wollte sie wegwischen, doch sie verschmierte nur die Zeichnung. Sie schnaubte und ließ ihre Hände davon ab. Damit machte sie es nur schlimmer. In ihrer Verzweiflung weinte sie nur noch mehr. Sie rollte sich ein und schloss ihre Augen.
Das hier war das Ende dieser Geschichte. Ihre Tage waren gezählt, genau wie die Streichhölzer gezählt waren. Es gab kein Schlupfloch mehr, keinen genialen Einfall und auch kein Wunder mehr. Mit ihrer scheiß Kreativität hatte sie eine Hand voll Türchen gekritzelt, aber das war es auch schon gewesen. Sie war nun mal keine Zauberin. Solange der verdammte Riss sie verfolgte und sie nicht länger als ein paar Minuten Zeit zum Überlegen hatte, würde sie es zu nichts bringen. Es wollte ihr keine Idee kommen, wo sich die Bibliothek und das Buch verstecken konnten.
"Bianca?", hörte sie neben sich. Sie schrie auf und fuhr herum. Ihr Herz raste und ließ sie blitzschnell aufstehen. Noch bevor sie ihre Augen richtig öffnete, war sie bereit, sich zu verteidigen, wegzurennen oder sonst was zu machen. Was war das? Halluzinationen? Der Riss? Begann der Riss mit ihr zu sprechen? Nein, sie kannte diese Stimme. Blinzelnd trieb sie die Tränen hinfort.
"Sam?", fragte sie ungläubig. Sie öffnete ihren Mund und bekam ihn kaum wieder zu. Die Augen drohten ihr hinauszufallen, so weit waren sie aufgerissen. Vor ihr stand ein quicklebendiger Sam. Unverletzt. Kein bisschen zerquetscht. In Bianca sammelte sich Freude. Emotionen überschütteten sie, von denen sie gar nicht wusste, dass sie diese noch besaß.
Ohne zu überlegen, rannte sie auf Sam zu und schloss ihn in die Arme. Nie hätte sie sich gedacht, dass sie jemals so froh darüber sein würde, ihn zu sehen. Wahrscheinlich zerquetschte sie ihn gerade und er bekam keine Luft, aber das war ihr egal. Ein Stein fiel ihr vom Herzen. Die endlose Weite schien mit einem Mal nicht mehr so erdrückend wie zuvor. Doch als sie von ihm abließ und ihn genauer ansah, verschwand ihr Lächeln.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top