XXIX

Lysander hielt meine Hand. Und in diesem Moment war ich so unfassbar dankbar dafür ihn an meiner Seite zu haben. Denn ich wusste nicht, ob ich bei dem Anblick der Beerdigung der Menschen, die mir so unheimlich viel bedeutet haben, immer noch fest auf beiden Beinen gestanden hätte ohne Unterstützung. Ich weinte nicht. Vielleicht, weil ich die letzten Tage schon all die Tränen, die mein Körper produzierte, verbraucht hatte. Ich war lange Zeit nicht aus meinem Zimmer gekommen, habe nicht gegessen, nicht geschlafen. Erst gestern Abend habe ich schließlich einen Schritt vor die Tür gesetzt und mich mit Lysander und Jarus unterhalten. Es gab vieles zu besprechen, auch wenn die Luft zwischen mir und meinem biologischen Vater mehr als nur angespannt war. Er hatte mir alles aus seiner Sicht erzählt und ich verstand das meiste auch, konnte vieles nachvollziehen. Doch eben nicht alles. Und es würde immer Sachen geben, die ich ihm nie im Leben verzeihen würde.

Die Leiche meines Bruders wurde weit außerhalb, dort, wo niemand wissen würde, dass er da lag, begraben. Nur ich, Lysander und Jarus waren anwesend gewesen. Niemand sonst wusste nämlich, was im Thronsaal vorgefallen war. Wir hatten uns darauf geeinigt es dabei zu belassen.

Ich hatte lange Zeit darüber nachgedacht, wieso Jarus ihm dieses Messer in den Rücken gerammt hatte. Wieso hatte dieser Mann seinen einzigen Sohn getötet? Als ich zu keinem logischen Schluss gekommen war, hatte ich ihn schlichtweg gefragt. Er hatte am Tisch gesessen, geschwiegen und erst nach einigen Minuten angefangen zu reden. Als er gesprochen hatte, hatte ich die Verzweiflung, die sein Inneres erfüllte, die Verbitterung, nur allzu deutlich erkannt.

Er hatte es getan, weil es das richtige war. Das waren seine Worte gewesen. Er kannte seinen Sohn, auch wenn er ihm an diesem Tag im Thronsaal, wie ein absolut Fremder vorkam. Und er wusste, dass Sinan nicht damit gerechnet hatte, diesen Tag zu überleben. Er hatte von Anfang gewusst, dass er sterben würde. Ich hatte mich gefragt, woher Jarus das wusste. Doch vielleicht gab es gar kein 'woher'. Vielleicht, nur vielleicht, war es einfach die Verbindung zwischen einem Vater und seinem Sohn. Die Verbindung, bei der ein Blick ausreichte, um zu verstehen.

Jarus hatte gesagt, dass es mit Abstand das schwerste war, was er je in seinem ganzen Leben getan hatte. Selbst meine Mutter gehen zu lassen, sei leichter gewesen. Und ich glaubte ihm.

,,Hätte ich ihn nicht getötet, wäre er in einer Zelle verrottet. Denn, dass er frei rumläuft hätte ich niemals zugelassen. Er war gefährlich. Er war nicht er selbst. Der Junge, den ich kannte, hätte nie im Leben einem anderen Mann das Leben genommen, Zarida. Und lieber schicke ich diesen Jungen, der so verwirrt ist, an einen anderen, besseren Ort, als dass ich ihn sein Leben lang quäle.''

Nach diesen Worten, habe ich nicht weiter nachgefragt.

Nach der Beerdigung von John und Macan blieb ich mit Lysander noch einige Zeit an ihren Gräbern, die nebeneinander platziert wurden auf meinen Wunsch hin. Es war so unheimlich viel passiert. Manches bereute ich. Manches aber nicht. Ich hätte unheimlich gerne, etwas dagegen unternommen. Ich hätte ihren Tod so unheimlich gern verhindert. Doch ich wusste, dass es sinnlos war, sich jetzt, wo es schon zu spät war, den Kopf darüber zu zerbrechen. Sie würden nicht wiederkommen.

Ich war sauer gewesen auf Jarus. Ich hatte ihn dafür gehasst, dass er diesen verdammten Krieg begonnen hatte. Ich habe ihm die Schuld für alles gegeben. Doch schließlich und endlich habe ich realisiert, dass es nichts brachte. Es brachte nichts, ihn zu hassen, zu verabscheuen. Denn nun musste ich erstmal an die Menschen in meinem Reich denken. Und durch Hass würde ich keine Besserung erreichen. Ich musste über dem ganzen stehen. Und das tat ich nun. Ich versuchte klar zu kommen. Mit Jarus, mit der Situation, mit meinen Verlusten, mit einfach allem.

Nach der Beerdigung saßen ich, Lysander und Jarus nun erneut zusammen in einem der Verhandlungsräume im Königshaus in Rukalis und versuchten eine Lösung zu finden.

,,Zwei separate Reiche funktionieren jetzt nicht mehr. Wir brauchen eine andere Möglichkeit.''

,,Dann lass uns die Reiche vereinen'', machte ich einen Vorschlag und erntete ein überraschtes Gesicht von Jarus, wie auch von Lysander. Anscheinend hatten sie nicht mit so etwas gerechnet. Vor allem nicht von mir.

,,Bist du dir sicher, dass du das möchtest, Zarida?''

,,Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich möchte. Aber vielleicht wäre es wirklich besser. Du könntest immer noch über das frühere Kiros herrschen, beziehungsweise die Verantwortung für diesen Bereich übernehmen, während ich und Lysander uns Rukalis vornehmen.''

,,Lysander, als König?'', ein Lächeln erschien auf Jarus' Lippen. ,,Ich wusste, dass mehr in dir steckt, mein Junge. Aber ich sage dir eins: Wenn du ihr wehtust, dann haben wir beide ein langes, unangenehmes Gespräch vor uns.''

Ich wusste, dass er es nur gut meinte und trotzdem war es ziemlich gewöhnungsbedürftig solche Dinge aus Jarus' Mund zu hören. Er war zwar mein Erzeuger, aber noch lange nicht mein Vater, wie es Macan gewesen war. Deswegen erwiderte ich nichts.

,,Ich passe schon auf sie auf, Jarus. Denkt euch lieber aus, wie ihr euer neues, kleines Reich nennen wollt. Und welche Veränderungen unter Umständen vorgenommen werden sollten'', antwortete Lysander und hatte Recht. Wir brauchten einen Namen.

 Denn so blöd, wie es sich auch anhörte, triviale Dinge, wie ein gemeinsamer Name, verbanden die Menschen. Und wir konnten es uns nicht leisten, dass etwas, wie ein Bürgerkrieg ausbrach im neuen Reich. Jeder wollte Frieden, besonders die Menschen in Rukalis. Also mussten wir alles mögliche tun, um die Bildung einer friedlichen Gesellschaft und Gemeinschaft zu ermöglichen.

,,Wie wäre es mit einer Mischung aus beidem? Kiralis vielleicht?''

,,Das gefällt mir. Was ist mit dir Lysander?'', fragte Jarus, auf meinen Vorschlag hin.

,,Ich denke, das ist eine gute Idee. Na dann, willkommen in Kiralis'', entgegnete Lysander und lehnte sich in seinem Stuhl mit verschränkten Armen zurück.

,,Die restlichen Dinge werden wir im Laufe der Tage noch besprechen. Hättest du etwas dagegen mich und Zarida für einen kurzen Moment alleine zu lassen?''

Lysander sah mich leicht fragend an, doch als ich nickte und ihm damit ein Zeichen gab, dass ich einverstanden war, stand er auf und verließ den Raum, sodass ich und Jarus alleine zurück blieben.

,,Zarida. Ich wollte dir nur noch einmal sagen, wie leid mir so vieles tut. Es tut mir leid, dass du so lange mit einer Lüge gelebt hast, auch wenn ich weiß, dass du Gott sei Dank ein wirklich schönes Leben gehabt hast. Es tut mir leid, dass ich diesen Krieg begonnen habe. Dass meinetwegen so viele Menschen gestorben sind. Doch ich habe es einfach nicht ausgehalten. Und es tut mir leid, dass du es so schwer hast, mich zu mögen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass eines Tages auch wir beide miteinander auskommen werden, wie eine Familie es tun sollte.''

,,Ich weiß, dass es dir leid tut. Und was alles andere angeht: Wir werden sehen, was die Zeit bringt.''

Und so, fing ein neuer Abschnitt meines Lebens an. Ein Abschnitt voller Verantwortung, Herausforderungen und unheimlich vielen Problemen.

Ein Abschnitt als Königin von Kiralis. 

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