XV

Mein Blick ging starr aus dem Fenster meines Zimmers. Schon seit Stunden saß ich auf diesem Stuhl und dachte nach. Denn heute war es soweit, heute würde ich für die Dinge einstehen, von denen ich überzeugt war. Ich würde das tun, was ich für richtig hielt. Ich würde Lysander endlich aus diesem verdreckten Loch befreien. Ich wusste, dass ich nicht mehr lange Zeit hatte, doch das leere Blatt auf dem Schreibtisch neben mir ließ mich nicht aufstehen. Mir war von Anfang an klar gewesen, dass ich alles aufgeben würde damit. Denn wenn ich ihn befreite, dann müsste ich mit ihm kommen und ihn verstecken. Zurückkommen könnte ich nicht - sie würden wissen, dass ich dafür verantwortlich war und bei der Beziehung, die ich momentan zu allen hatte, konnte ich nicht darauf vertrauen, dass sie das durchgehen lassen würden.

Doch ohne ein einziges Wort, ohne Erklärung, ohne nichts zu gehen, war nicht meine Art. Genau deswegen hielt ich den Stift, der durch meinen Griff schon ganz warm geworden war, in der Hand und versuchte mich zur Bildung rationaler Sätze zu zwingen. Der Anfang fiel bekanntlich immer am schwersten, ganz egal worum es ging. Doch ich hatte keine Wahl, wenn nicht jetzt, dann würde dieser Brief niemals verfasst werden. Also setzte ich am obersten Rand des Papiers an und fing an zu schreiben:

Vater,

ich weiß nicht, ob du enttäuscht sein wirst, wenn du diesen Brief findest, wenn du erfährst, was passiert ist. Und ich weiß auch nicht, ob du sauer, wütend, außer dir sein wirst. Aber es gibt eine Sache bei der ich mir unheimlich sicher bin: Ich würde es jedes Mal wieder tun.

Du warst immer ein guter Vater für mich und du wirst es auch immer sein, du hast mir so viele Dinge beigebracht. Und eines dieser Dinge war, für das zu kämpfen, was mir wichtig ist. Und das tue ich. Ich tue es aus tiefster Überzeugung. Damit möchte ich in keinster Weise die Schuld von mir weisen, einen Gefangenen befreit zu haben. Es ist nur so, dass dieser Gefangene ohne Grund in dieser Hölle sitzt. Und wenn ich durch diese Befreiung Gerechtigkeit schaffen kann - verdiente Gerechtigkeit - dann werde ich es tun. Wenn du das hier liest, habe ich es höchstwahrscheinlich sogar bereits getan. Ich kann dir nicht sagen, wo ich mich aufhalten werde, denn ich weiß, dass du mich suchen würdest. Versuche bitte nicht mich zu finden, Vater. Es wird mir gut gehen, das verspreche ich dir.

Ich danke dir für all das, was du jemals für mich getan hast und aus tiefstem Herzen hoffe ich auf ein friedliches, versöhnliches Wiedersehen mit dir.

Zarida

Ich legte den Stift zur Seite und atmete tief durch. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich einen solchen Schritt mal wagen würde. Eigentlich war ich nicht der Typ für sowas. Ich war nicht das Mädchen, das sich großartig widersetzte, das gegen Regeln und Vorschriften verstieß. Nein, ich war die Thronfolgerin. Ich war brav, vorzeigereif. Und ich war gerecht.

Doch vielleicht war diese leicht rebellische Seite an mir nur verborgen gewesen all die Jahre, vielleicht hatte ich sie unbewusst unterdrückt und nur durch Lysander konnte sie nun atmen.

Einen letzten Blick warf ich auf den Brief, den ich offen liegen ließ. Es würde sowieso niemand dieses Zimmer betreten, außer meinem Vater.

Bevor ich schließlich aufstand, nahm ich noch einmal tief Luft. Es wurde Zeit.

Als ich durch das riesige Gebäude schritt, all die Gänge durchquerte und letztendlich am Hintereingang ankam, der nur hin und wieder von den Wachen überprüft wurde, wusste ich, dass es kein Zurück mehr gab. Keiner der Menschen, an denen ich vorbei gelaufen war, wusste, was ich in meinem Inneren durchmachte. Wie ich sie alle jeden Moment verraten würde. Wie ich gegen meinen Vater agieren würde. All das war in diesem Augenblick noch mein kleines Geheimnis. Das Geheimnis der Tochter des Königs und des Gefangenen. Aus unerklärlichen Gründen musste ich bei diesem Gedanken lächeln. Vielleicht weil es mir das Gefühl gab, als würde mich etwas mit Lysander verbinden - als hätten wir etwas gemeinsam.

Ohne mich umzusehen, öffnete ich die Tür und schritt leise nach draußen.

Es war nicht warm, aber auch nicht kalt, denn die Nacht war noch nicht hereingebrochen über Rukalis. Doch auch das würde kurze Zeit später der Fall sein. Und genau an diesem Punkt würde ich rennen. Rennen, wie noch nie zuvor. Ich würde die Schlüssel in meiner Tasche hervorholen und die Zelle aufsperren. Und dann - dann würden wir rennen. Bis wir das Pferd, welches schon bereitstand, erreichen würden.

All das hatte eine Menge Planung erfordert. Zum einen war es ein großer Akt des Geschicks gewesen, den Schlüssel zu besorgen. Zunächst musste ich die Wache ablenken, die vor der Schlüsselkammer stand, in der für jeden der Räume, die sich auf unserem Territorium befanden, ein Ersatzschlüssel hing. Die Holztüre daraufhin zu entsperren war einfach gewesen. Das hatte ich mir bereits damals, als Kind, angeeignet. Mit einer bestimmten Klammer, die ich bis heute aufbewahrt hatte und einer gewissen Technik konnte auch diese Tür bewältigt werden. Leider funktionierte das nur bei wenigen der Türen im Königshaus. 

Als ich dann schließlich drinnen stand, sollte man meinen, es sei nicht schwer einen Schlüssel zu holen und wieder zu verschwinden. Durchaus - das war es nicht. Nur leider waren die Schlüssel nicht beschriftet. Mein einziger Vorteil bestand darin, dass ich bereits einmal die Schlüssel der Wachen der Zellen gesehen hatte. Also nahm ich jeden Schlüssel, der auch nur annähernd so aussah, mit. Nun hatte ich fünf. Wenn ich Glück hatte würde der erste Schlüssel den ich ausprobieren würde auch der Richtige sein. Wenn ich Pech hatte, dann nicht.

Was das Pferd anging - das hatte ich zwischen den Bäumen angebunden und grasen lassen. So war es vor fremden Augen geschützt und dennoch wusste ich genau, wo es stand.

Ich spielte den Ablauf meines Plans bereits zum zwanzigsten Mal in meinem Kopf durch. Immer und immer wieder. Und auch wenn sich alles so anhörte, als könnte nicht zu viel schief gehen, konnte ich das hämmernde Schlagen meines Herzens einfach nicht abstellen. Es dröhnte mir nahezu in den Ohren, sodass ich mich nur schwer auf meine Umgebung konzentrieren konnte.

Mittlerweile war ich an meinem Stammplatz - wie ich ihn nannte - an der Mauer angekommen. Jede Sekunde würde es soweit sein. Jeden Moment, sobald die Sonne untergegangen war, würden die Wachen für genau zwei Minuten verschwinden. Vielleicht würden es dieses Mal auch einige Sekunden mehr - oder auch weniger sein. Es gab keine Garantie für meine Zeitmessung letztes Mal. Es war immerhin der Wachenwechsel. Ich wusste nicht, ob mein Vater von dieser Zeitlücke wusste oder ob er dachte, dass alle seine Untergebenen brav den Zeitvorschriften folgten. Denn das war offensichtlich nicht der Fall, denn obwohl es kaum einen Unterschied machen würde, schien es die Männer regelrecht in den Füßen zu jucken, endlich Feierabend machen zu dürfen. Deswegen trafen sie sich jeden Abend auf halbem Weg mit ihrem Wechsel, anstatt an den Zellen zu bleiben und dort einige Minuten länger zu verbringen.

Mit weit geöffneten Augen starrte ich in den Himmel und beobachtete, wie die Sonne Stück für Stück verschwand, wie die Helligkeit sich aufzulösen schien und durch die Dunkelheit ersetzt wurde.

Und da hörte ich es. Die Schritte, die Gespräche, die mit jeder Sekunde leiser wurden. Und dann blickte ich mich um. Und ich rannte.

Es war durchaus von Vorteil, dass ich dieses Mal kein Kleid trug, sondern die Reitkleidung, die aus einer Lederhose bestand und die ich normalerweise nie anzog. Doch heute, heute war sie mir mehr als nur behilflich, denn mit ihr war ich schneller.

Ich hoffte, dass Lysander bereit war. Bereit war endlich wieder frei zu sein.

Als ich unten ankam, spürte ich, wie mich eine unheimliche Gänsehaut erfasste. Es war so kalt dort unten, so unfassbar kalt.

Meine schnellen Schritte hallten an den kahlen Wänden wieder, sodass all die Insassen auf mich aufmerksam wurden. Hier und dort hörte ich leises Murmeln, ein Aufatmen oder sogar ein Lachen. Vielleicht fanden sie es amüsant die Prinzessin des Reiches so zu sehen.

Als ich schließlich an Lysanders Zelle ankam, stand er bereits vor den Gitterstäben und sah mir zu, wie ich mit schwerem Atem nach den Schlüsseln griff.

,,Es freut mich dich zu sehen'', flüsterte er.

,,Du solltest dir diese Freude lieber für den Moment aufbewahren, in dem wir endlich hier weg sind'', entgegnete ich und konnte es einfach nicht verhindern, dass der gestresste Unterton die Oberhand gewann.

Ich steckte den ersten Schlüssel mit zitternden Händen in das Schlüsselloch - doch es bewegte sich nichts. Kein Stück. Ohne darauf zu achten, ließ ich ihn einfach fallen, bevor ich nach dem nächsten griff.

,,Ich weiß nicht, ob ich es tatsächlich wissen möchte, aber warum genau hast du statt einem, fünf Schlüssel?'', hörte ich Lysander mit angespannter Stimme fragen.

,,Glaub mir, du möchtest es nicht wissen.'' Als ich schließlich auch den zweiten und dritten Schlüssel ausprobiert hatte und beide nicht das taten, was ich wollte, konnte ich bereits den ersten Schweißtropfen spüren, der mir über die Stirn lief.

,,Verdammt...'', fluchte ich. Doch als ich den vierten Schlüssel in das Loch steckte, wusste ich bereits, dass es der Richtige war. Mit einer hektischen Bewegung drehte ich ihn und öffnete die Zelle.

,,Na los, los, los. Wir müssen hier weg. Sie werden jeden Moment hier auftauchen'', sagte ich mit lauter Stimme und rannte bereits los. Als ich kurze Zeit später Lysander in meinem rechten Augenwinkel wahrnahm, schoss mir das Adrenalin durch die Adern.

Ich tat es tatsächlich. Ich befreite einen Gefangenen. Die Prinzessin von Rukalis begeht eine Straftat. Selbst in meinen Ohren hörte sich das so absurd an.

Die anderen Gefangenen warfen uns einige Sprüche zu, manche schrien unsinniges Zeug. Vielleicht kam es mir auch nur so vor, denn wirkliche Beachtung konnte ich dem nicht schenken.

,,Wir haben es fast geschafft'', rief ich Lysander über meine Schulter zu. Nur noch die Treppen hoch und rüber zum Wald, der nahe am Verließ war.

Als wir dann wirklich oben ankamen und die kalte Nachtluft meinen Körper umschlang, konnte ich ein kleines Lächeln einfach nicht zurückhalten.

Wir würden es schaffen.

,,Hey! Stehen bleiben! Wo wollt ihr hin?!'', ertönte mit einem Mal eine laute Stimme hinter uns, doch ich wagte es nicht mich umzudrehen.

,,Renn weiter!'', schrie Lysander mir zu. ,,Bleib auf keinen Fall stehen!''

Und ich rannte. Und ich blieb nicht stehen. 

Mein Herz raste wie verrückt, meine Beinmuskeln zogen, da sie an so schnelles und langes Laufen nicht gewöhnt waren und mein Atem ging flach.

,,Da ist es!'', rief ich und zeigte auf das Pferd, welches nur noch wenige Meter von uns entfernt war. Dort angekommen, machte ich es mit einer flinken Handbewegung los, während Lysander sich bereits nach oben schwang. Als das erledigt war, stellte ich mich neben das Pferd, ergriff Lysanders ausgestreckte Hand und lies mich von ihm nach oben ziehen.

Und dann ritten wir los. Mit meinen Händen hielt ich mich verkrampft an den Seiten des Sattels fest - und oh Gott - es war so ungemütlich. Ich wusste nicht, wie lange ich es in einer solchen Position aushalten würde. Doch ich hatte keine Ahnung, wo ich mich sonst festhalten sollte.

,,Hast du Angst vor dem Tod?'', fragte Lysander mich mit einem Mal, während wir in der Dunkelheit des Waldes verschwanden und nicht mehr einzuholen waren.

,,Ich weiß nicht...ein wenig vielleicht'', antwortete ich wahrheitsgemäß, auch wenn ich nicht wusste, was genau er mit dieser Frage erreichen wollte.

,,Ach, wirklich? So sicher, wie du momentan im Sattel sitzt und dich festhältst, könnte man meinen du würdest einen Sturz und den möglichen Tod daraufhin nahezu willkommen heißen.'' Ohne mein Zutun konnte ich spüren, wie sich meine Wangen automatisch rot färbten. Verflucht, er hatte es gemerkt.

,,Ich- ehm...'' Bevor ich auch nur ein weiteres Wort äußern konnte, blieb das Pferd plötzlich abrupt stehen. Zuerst wusste ich nicht, was das sollte, als ich jedoch seine Hände spüren konnte, wie sie meine umfassten und sie von dem Sattel lösten, verstand ich. Langsam, ziehend langsam, legte er meine Arme um seinen breiten Oberkörper, der selbst ohne eine Rüstung steinhart zu sein schien. Durch diese Sitzstellung war meine komplette Vorderseite an seinen Rücken gespresst und zum Teufel, ich würde lügen, würde ich sagen, es hätte keine Wirkung auf mich.

,,Ich glaube, so ist es besser...'', hörte ich, wie er mir mit tiefer, kratziger Stimme zuflüsterte. Doch noch bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er seinen Kopf bereits wieder nach vorne gedreht und das Pferd in Bewegung gesetzt.

Und da waren wir nun.

Die Prinzessin und der Verbannte.

Und wir ritten, ohne ein wirkliches Ziel.

Und es war das beste Gefühl, das ich je in meinem Leben verspürt hatte. 

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