XIX

,,Was soll das heißen, ihr habt sie noch nicht gefunden?!'', schrie John den Mann vor sich an. Letzterer schien sich nahezu vor seinem Befehlshaber zu krümmen. Niemand war es gewohnt Johnathan in einem solchen Zustand zu sehen. Im Gegenteil, normalerweise war er ein netter Kerl mit ironischem Unterton.

,,Wahrscheinlich haben sie sich irgendwo versteckt. Ich glaube nicht, dass sie so lange unterwegs sind ohne eine einzige Pause. Die Pferde hätten schon lange schlapp gemacht'', versuchte Boris, der Informant, die Lage etwas anschaulicher zu erklären. Immerhin war es wirklich nicht seine Schuld, dass die Prinzessin mit einem Verurteilten durchgebrannt war.

,,Hör mir gut zu. Wenn ihr mir Zarida nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden vor die Füße stellt, wird das schwerwiegende Konsequenzen haben. Für jeden von euch. Und es wird unangenehm, vertrau mir.'' John verspürte nicht einen Funken der Reue seinem Untergebenen zu drohen. Um genau zu sein, verspürte er gar nichts mehr, außer dem brennenden Wunsch einem gewissen Mann den Kopf abzuschlagen.

,,Du weißt, ich tue mein bestes... auch wenn sie mich damals unter Drogen gesetzt hat. Wir versuchen alles. Aber erwarte nicht das unmögliche von uns, John'', entgegnete Boris schließlich mit ruhiger Stimme. Er konnte zwar nicht nachvollziehen, was der Mann vor ihm gerade durchmachte, doch er sah es in seinen Augen. Das Leid.

,,Ja, das weiß ich. Nur manchmal reicht das Beste nicht aus'', stellte Johnathan fest. Das hatte er bereits lange zuvor verstanden. Denn er war bereit gewesen, Zarida das Beste zu bieten und doch nahm sie es nicht. Sie wollte es nicht. Nein, sie wollte Lysander.

Ohne ein weiteres Wort wandte John sich ab und machte sich auf den Weg zu Macan um ihm die Nachrichten zu überbringen. Eigentlich waren es keine Nachrichten, es waren bittere Informationen, die nichts neues brachten.

Dabei kam er, wie so viele Male zuvor auch, an Königin Kleas Gemälde vorbei. Einen Tag nach Zaridas Geburt soll sie verstorben sein. Die Ursache war Johnathan nie bekannt gewesen.

In diesem Moment fragte er sich jedoch, wie sie auf Zaridas Flucht reagiert hätte. Ob sie wohl genau so war, wie ihre Tochter. Ihre Schönheit hatte Zarida unübersehbar von ihrer Mutter, doch der Charakter, das Innere - waren sie sich ähnlich?

Mit einem Seufzen über seine Gedanken die sich in jedem Aspekt über die Prinzessin drehten, betrat John den Thronsaal.

,,Sag nichts'', hörte er bereits, ohne auch nur einen Blick auf den König geworfen zu haben. Was hatte das zu bedeuten? Hatte er die Informationen bereits erhalten?

,,Ich will nichts darüber hören. Ich kann an deinem Gesicht sehen, dass es nicht neues gibt.''

Verständnisvoll nickte John und schritt die Treppen nach oben, bevor er sich schließlich auf die oberste Stufe niederließ und seinen Kopf in den Händen versank.

,,Wie fühlst du dich?'', fragte Macan. Und John konnte einfach nicht nachvollziehen, wie ein Vater, dessen Tochter ihn im Stich gelassen hatte, so auf das ganze reagieren konnte. So gefasst.

,,Gott, ich liebe sie.'' Das war das einzige, was John im Stande war zu sagen. Denn das war die absolute Wahrheit. ,,Ich liebe sie.''

,,Ich weiß, mein Junge.'' Ein Schluchzen entwich Johnathan und sofort erwachte wieder der Hass auf sich selbst. Wie konnte er nur so schwach sein?!

,,Aber ich habe nachgedacht'', fing Macan erneut an zu reden. ,,Vielleicht haben wir vorschnell geurteilt. Vielleicht hätten wir ihn laufen lassen sollen.''

,,Was?! Auf keinen Fall. Er ist ein Verbrecher! Ein Abtrünniger!''

,,Und was, wenn er es nicht ist?'' Eine lange Stille erfüllte für die nächsten Minuten den großen Raum. Schließlich erhob sich Johnathan.

,,Vielleicht haben Sie recht, mein König. Aber seien Sie sich in einer Sache sicher: Er wird sie nie so lieben, wie ich es tue.''

Und damit verschwand Johnathan. Irgendwohin, wo er alleine sein konnte und niemandem in die Augen sehen musste, in denen sich sein erbärmliches Ich wiederspiegeln würde.

***

Das kleine Feuer brachte die Wärme, die fehlte. Seit wir hier waren, bekam ich das Gefühl, dass es mit jeder Stunde immer kälter wurde. Immerhin hatte es bis jetzt noch nicht geregnet.

,,Willst du noch ein Stück?'', fragte Lysander und holte mich aus meinen Überlegungen. Er reichte mir ein aufgespießtes Stück Fleisch. ,,Danke.''

Er saß gegenüber von mir und aß seine Portion. Es war nicht viel, aber genug um erstmal nicht zu hungern. Wir hatten Glück, dass Lysander das Jagen besser konnte als ich.

Es herrschte eine angenehme Stille, während es langsam dunkel wurde. Leider konnte man den Sonnenuntergang so schlecht sehen, wegen der vielen Bäume, die uns jedoch unseren wichtigen Schutz vor fremden Augen boten.

Seine Haare waren verwuschelt und sahen trotzdem so aus, als wäre es von Anfang an geplant gewesen, dass sie so liegen sollten. In seinen dunklen, nachtschwarzen Augen, spiegelten sich die Flammen des Feuers wieder. Es sah wunderschön aus. Doch auch die Narben, die sein Gesicht bedeckten, schienen markanter im Licht des Feuers zu werden.

,,Kann ich dich etwas fragen?'', versuchte ich mein Glück, ohne die Erwartung eine wirkliche Antwort zu bekommen.

,,Nur zu, Prinzessin'', entgegnete er mit interessiertem Blick. Er schien neugierig zu sein. Doch ich bezweifelte, dass er es immer noch sein würde, nachdem ich meine Frage gestellt hatte.

,,Woher hast du all die Narben?'', murmelte ich. Er stockte für einen Moment und legte schließlich sein Essen zur Seite, während er mich nicht für eine Sekunde aus den Augen ließ. Eine Weile starrte er mich einfach nur an.

,,Du- du musst es mir nicht sagen, ich dachte nur-''

,,Was glaubst du denn, woher ich sie habe?'', unterbrach er mich.

Ich runzelte die Stirn. ,,Vielleicht aus einem Kampf?'', äußerte ich eine Vermutung.

Er lachte leise auf. ,,Komm her.'' Zunächst bewegte ich mich nicht vom Fleck, verwirrt, was er wohl meinte. Doch als er mich auch noch nach einigen Sekunden erwartungsvoll ansah, erhob ich mich und ging zu ihm rüber. Auch er stand auf.

Ich zog die Augenbrauen zusammen, als ich sah, wie er nach kurzem Zögern anfing seinen Oberkörper zu entkleiden. Was hatte er nur vor? Doch noch bevor die Röte mein Gesicht erreichen konnte, verstand ich.

,,Oh mein Gott...'', entwich es mir leise, als ich noch näher an ihn herantrat und unbewusst meine Finger über die Narben, die über seinen Körper verstreut waren, fahren ließ. Ich wusste jedoch nicht, ob ich geschockt oder fasziniert war. Denn sie machten ihn perfekt. Und gleichzeitig fragte ich mich, welche Qualen der Mann vor mir erleiden musste.

,,Wer hat dir das angetan?'', fragte ich schließlich und konnte es trotzdem nicht lassen jede der Narben akribisch unter die Lupe zu nehmen. So, als würde mich das Ganze anziehen. So, als würde er mich anziehen.

,,Ich war ein Straßenjunge, bevor ich in Jarus' Dienste trat. Mein Vater hat getrunken. Zu viel getrunken, sodass ich schließlich abgehauen bin. Jedes Leben auf der Straße war besser, als weitere Sekunden in seiner Anwesenheit. Meine Mutter habe ich nie kennengelernt. Er sagte, sie sei eine Hure gewesen. Und ich hätte die gleichen Gesichtszüge.'' Er musste nichts mehr sagen, mir wurde alles klar. Ein gewalttätiger Vater, der in seinem Sohn seine Frau gesehen hatte, ein Leben auf der Straße und dann ein Verbannter, bevor man ihn schließlich zum Tode verurteilte.

,,Wie hast du das ausgehalten?'' Ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten, doch ich tat alles, was ich nur konnte, um sie zurückzuhalten.

,,Man lernt damit umzugehen.''

,,Mit so etwas kann man doch nicht umgehen!'', entgegnete ich etwas aufgebracht, doch bereute sofort die Stimme gehoben zu haben. Ich war nicht sauer. Nicht auf ihn. Sondern auf das Schicksal, das ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte.

,,Hey. Sieh mich an.'' Als ich immer noch auf seine Brust starrte, spürte ich, wie seine Finger sich sanft unter mein Kinn legten und es nach oben drückten. ,,Wieso weinst du?''

Erst jetzt realisierte ich die Nässe, die meine Wangen erfüllte.

,,Die Vergangenheit ist nicht schön. Jedenfalls nicht für mich. Und du bist der erste Mensch, dem ich das erzähle. Zarida, du bist der erste Mensch in meinem Leben, der alles für mich riskiert hat ohne mich richtig zu kennen. Du bist der erste Mensch in meinem Leben, der mich nach so langer Zeit zu einem Lächeln zwingt. Du bist der erste Mensch, der für mich weint. Und du bist der erste Mensch für den ich alles riskieren würde. Du hast in dieses große Nichts, das sich mein Leben nannte, Licht gebracht. Du bist mein Anfang, Prinzessin. Der Anfang meines Lebens.''

Ich konnte nicht anders als ihn einfach nur anzusehen. Noch nie hatte jemand schönere Worte zu mir gesagt.

,,Und jetzt lass mich bitte das tun, was ich seit meinem Prozess im Thronsaal deines Vaters tun wollte. Seit unsere Blicke sich das erste Mal getroffen haben.''

Und bevor ich auch nur irgendetwas erwidern konnte, spürte ich seine warmen Lippen auf meinen. 



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