5 | Ein Platz für die Ausgeschlossenen
Yana
Stechende Schmerzen durchfuhren meinen Rücken, während ich langsam meine Augen aufschlug. Ein paar Mal blinzelte. Fuck. War eine ganz schlechte Idee gewesen, die Flasche Fickenfanta vernichten und dann hier auf dem Hochsitz zu pennen. Mein Körper fühlte sich durchgefroren und kalt an, Tau befand sich auf der nackten Haut an meinen Oberarmen. Fahrig fuhr ich mir durchs Gesicht.
Ich hatte nicht so viel gesoffen, dass ich es nicht mehr rüber zum Campingplatz geschafft hatte, doch wollte für mich allein sein. Ohne meine Freund*innen, die Fragen stellten. Ob sie schon gemerkt hatten, dass ich gar nicht im Zelt war? Wahrscheinlich nicht. Dafür stand die Sonne zu tief, gerade erst kämpfte sie sich über die Baumkronen. Es war noch frisch. Wär ich nur schon mal in meinem Schlafsack, schön eingekuschelt. Oder besser noch in meinem Bett zuhause, ganz allein für mich.
Ohne dieses Festival, auf dem Edina plötzlich wieder auftauchte. Und mit ihr so viele Gefühle, von denen ich dachte, sie längst verarbeitet zu haben. Und über all ihnen der Wunsch, mich für mein damaliges Verhalten zu entschuldigen. Tief und von Herzen. Wie ich mich verhalten hatte, war nicht richtig gewesen. Nicht okay. Ich wusste nicht, ob gestern rübergekommen war, wie ehrlich ich das meinte. Dass ich wirklich verstanden hatte, dass ich Fehler gemacht hatte.
Aber andererseits ... Edina wollte die alten Sachen ruhen lassen. Das war nicht mein Place, um ihr eine Entschuldigung aufzudrücken, die sie vielleicht nicht einmal wollte. Die ohnehin nichts ändern würde, denn was geschehen war, war geschehen.
Ich rieb über meine Oberarme, in der Hoffnung mich ein wenig aufzuwärmen, doch es half nicht viel. Müde machte ich mich auf den Weg zum Campingplatz, auf dem noch nicht viel los war. Ein paar einsame Gestalten waren auf dem Weg zum Klo, hier und da schnarchte jemand. Zurück im Camp entdeckte ich Niklas, der auf seinem Campingstuhl saß, die Beine von sich gestreckt, die Kapuze auf dem Kopf und die Hände in den Taschen seines Hoodies vergraben.
»Morgen«, begrüßte ich ihn, er erwiderte meinen Gruß.
»Warum bist du schon wach?«, erkundigte ich mich leise, während ich mich an meinem Zelt zu schaffen machte und meinen Fahnenflucht-Pulli hervorkramte. Dazu eine Leggings, die ich gegen meine leicht feuchte Jogginghose tauschen wollte.
»Ich konnte nicht mehr pennen«, erklärte Niklas. Gähnte. »Und wo warst du die ganze Nacht? Neue Friends gefunden?«
»Nee, nur Edina.« Ich grinste schief. Streifte meinen Pulli über und ärgerte mich wie so oft darüber, dass ich nicht zuvor meine Brille abgenommen hatte.
»Und? Wie wars? Falls du überhaupt drüber reden magst. Wenn nicht, ist das natürlich auch voll in Ordnung.« Niklas' warme Augen trafen mich und ich liebte diesen Menschen dafür, dass ich mich bei ihm nie unter Druck gesetzt fühlte. Weil alles in Ordnung war. Alle Bedürfnisse akzeptiert wurden.
»Keine Ahnung. Also wie's war. Seltsam. Distanziert. Aber ist ja eigentlich auch klar ...« Ich wechselte meine Hose und ließ mich neben Niklas nieder, ehe ich im Sitzen meine Socken wechselte.
»Ich weiß noch, die ersten Jahre, in denen wir immer gemeinsam nach ihr Ausschau gehalten haben. Hier aufm Festival.«
Gedankenverloren fuhr ich über ein kleines Loch in meiner Leggings auf Kniehöhe. Nickte. »Ich hab auch dieses Jahr nach ihr geguckt. Ob sie da ist.«
»Schon crazy.« Niklas nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und bot sie auch mir an, ich griff dankend zu. Das kühle Wasser fühlte sich erfrischend in meinem trockenen Hals an. »Wie geht's dir jetzt damit?«
»Okay, schätze ich. Ich mein ... ist ja alles schon lange her. Und es scheint ihr gut zu gehen. Das ist schön. Also, sie wirkt zumindest so.«
»Das Gefühl hab ich auch. Sie konnte voll aus sich rauskommen.«
»Ja, total.« Ich reichte Niklas seine Flasche wieder. Langsam würde mir wieder wärmer. Zum Glück, denn wahrscheinlich würde es noch eine ganze Weile dauern, ehe die ersten Sonnenstrahlen über die hohen Tannen fielen. »Aber warum kannst du nicht pennen? Nur so, oder beschäftigt dich was?«
»Lea gings nur nicht so gut. Wir haben noch lange miteinander geschrieben und als sie dann pennen gegangen ist, hatte ich irgendwie schon den Punkt überschritten, an dem ich noch schlafen konnte.« Müde strich er über sein Gesicht, in dem sich einige Sommersprossen befanden. Lea war seine langjährige Freundin, die aktuell in einer Reha war, seit sie bei einem Autounfall mit ihrem Rücken zu kämpfen hatte. »Vielleicht leg ich mich nachher noch in die Sonne und dös ein wenig.«
»Bin dabei. Und sag Lea liebe Grüße von mir.« Ich gähnte und rutschte ein wenig tiefer in meinen Stuhl.
Tief hatte ich meine Cap ins Gesicht gezogen, meine Beine müde von mir gestreckt. »Ey, Yana, crem dich mal ein!«, brüllte mir Mel zu und einen Moment später spürte ich, wie etwas auf meinem Bauch landete. Erschrocken fuhr ich hoch, die Sonnencreme – wie ich jetzt erkannte – rollte neben mir ins Gras, gefolgt von meiner Cap.
»Erschreck mich halt noch mehr!«
»Sonnenschutz ist wichtig!« Mel ließ sich neben mir im Gras nieder. An ihren Ohren klimperten zwei lange Ohrringe mit einer Kette an silbernen Sternen. Sie liebte den 2000er-Look. Tiefsitzende Hüftjeans, Bauchnabelpiercing, überall Strass-Steinchen – das war voll ihr Ding.
»Ich hab gerade fast geschlafen«, seufzte ich. Griff wieder nach meiner Cap.
»Wenn das so weitergeht, siehst du aus, als kämst du gerade vom Ballermann.« Mel grinste und pikste in meinen nackten Bauch, ich trug nur mein schwarzes Bikinioberteil. Er war tatsächlich ein wenig gerötet und die Stelle, an der sie mich gestupst hatte, blieb kurz weiß.
Während ich mich ans Eincremen machte, ließ ich meinen Blick über unser Camp gleiten. Im Vergleich zum ersten Tag war es mittlerweile recht chaotisch, leere Dosen standen herum. Abgerissenes Gaffa auf dem Boden, verdrecktes Geschirr. Niklas pennte neben mir friedlich, er hatte sich bereits vorhin eingecremt. Ronja saß mit einer mir unbekannten Person im Gras und unterhielt sich angeregt, Jeremy rauchte Bong. Die hatte er nicht mal mit reinschmuggeln müssen, weil sie hier eh keine Taschenkontrollen machten.
In dem Moment schien er jemanden entdeckt zu haben und hob die Hand, um zu winken. Er atmete den Rauch aus und rief: »Was geht aaab?«
Die Person, die ich am Wegrand entdeckte, war Edina. Die letzte, die ich in der Situation erwartet hatte. Gestern noch reagierte Jeremy so merkwürdig interessiert darauf, dass Edina da war und jetzt begann er sogar ein Gespräch mit ihr.
»Hallo!« Edina winkte ebenfalls und lachte. Sie trug einen großen, schwarzen Sonnenhut, der einen Schatten in ihr Gesicht warf. Dazu ein lockeres schwarzes Sommerkleid, das sanft ihre Rundungen umspielte. Irgendwie faszinierte es mich, wie sehr sie seit damals ihren Style geändert hatte, während ich noch immer mit dem selben Scheiß rumlief.
»Komm, chill doch ein bisschen bei uns«, schlug Jeremy vor und machte eine einladende Handbewegung. Ich sah ihn von der Seite her an, bemerkte, wie seine Wimpern ein wenig flackerten. Was hatte er auf einmal mit Edina zu schaffen? Früher hatten die beiden kein Wort miteinander gewechselt. Da hätte er höchstens mit seinen Kumpels über sie gelacht. Aber das hatte er ja gestern schon erkannt, die Zeiten ändern sich. Und die sozialen Hierarchien waren anders als damals.
»Ja, klar, warum nicht.« Edina kam unter unseren Pavillon und ich spürte, wie mein Herz ein wenig schneller klopfte. Wie ich aufgeregt wurde. Ich warf ihr ein flüchtiges Grinsen zu und fuhr dann fort, mich einzucremen, als wäre das eine höchst komplexe Angelegenheit. Keine Ahnung, warum ihre Anwesenheit mich heute noch mehr aufwühlte als gestern. Vielleicht weil gestern mehr Alkohol in meinem Blut gewesen war. Das alles noch viel zu krass, um es zu begreifen, während es jetzt langsam durchsickerte.
»Kann ich dir was anbieten?«, erkundigte sich Jeremy und ich hatte keine Ahnung, was das sollte. Klar, er war einfach höflich. Aber ich kannte den Typen. Der machte sich doch sonst nie so eine Mühe. Aber vielleicht sah ich das gerade zu verkopft.
»Danke, ich hab schon alles.« Edina grinste und hob die Flasche alkoholfreien Sekt hoch, den sie dabei hatte. Blutorange. Den hatte sie früher schon gerne getrunken.
»Setz dich gerne.« Ich deutete auf die leeren Stühle, während ich schon zum dritten Mal meinen rechten Arm eincremte. Schien Mel auch zu bemerken, denn sie streckte ihre Hand mit den vielen Ringen aus und nahm mir die Sonnencreme ab.
»Soll ich deinen Rücken eincremen?«
Ich stimmte zu, während ich aus dem Augenwinkel bemerkte, wie Edina sich in Niklas' Stuhl niederließ und die Beine übereinanderschlug. Einen Moment lang hoffte ich, er würde wach werden, denn er hätte diese Situation sicher am besten unter Kontrolle. Jeremy und ich – wir waren gerade wirklich nicht zurechnungsfähig. Ronja – konnte Edina eh nicht leiden. Mel kannte sie nicht einmal.
Ich spürte Mels sanften Finger auf meinem Rücken, das kalte Metall ihrer Ringe. Mit gleichmäßigen Bewegungen verteilte sie die Creme, begann meinen Rücken zu massieren. Ich nahm an, dass sie mich damit ein wenig beruhigen wollte. Und es half tatsächlich.
Kurz blieb mein Blick an Edina hängen. Ich wollte sie nicht so offensichtlich angucken, auch wenn ich das am liebsten getan hätte. Was ihr wohl gerade durch den Kopf ging? Wie sie sich wohl fühlte, bei uns im Camp zu sein, nach all den Jahren?
»Das ist übrigens Mel, Pronomen sie/ihr«, stellte ich sie vor. »Und das Edina, auch noch sie/ihr?« Auf meine letzte Aussage hin nickte Edina und lächelte ein wenig.
»Hey!« In Mels Stimme schwang ein Lächeln mit und kurz spürte ich ihre eine Hand nicht mehr an meinem Rücken, dafür aber einen leichten Lufthauch. Wahrscheinlich winkte sie ihr zu.
»Freut mich.« Edina grinste. Ihre langen Haare waren heute in zwei lockere Zöpfe geflochten.
»Mit wem campst du eigentlich hier? Mit Leuten aus Leipzig?«, fragte ich nach.
»Ich bin mit ein paar hergefahren und bin auch öfter bei denen im Camp, aber schlafen tue ich bei den Mitarbeitenden.« Sie nickte in Richtung des Zeltplatzes, der den Mitarbeitenden vorbehalten war und hinter Planen mit den Ankündigungen für andere Festivals verborgen war.
»Ach, cool, du arbeitest hier? Was machst du denn genau?«, erkundigte sich Mel interessiert. Während Edina ihr vom Awareness-Team erzählte, ließ ich meinen Blick über den Campingplatz schweifen. Versuchte, nicht zu oft in Edinas Richtung zu gucken, auch wenn ich es am liebsten getan hätte. Die Unterschiede festzustellen, an ihren Lippen zu kleben, wie damals. Ich mochte es, wenn sie erzählte. Weil sie sich immer die Ruhe nahm, die richtigen Worte zu finden und nie gehetzt wirkte. Weil mit ihr sich die Welt immer ein wenig langsamer drehte, und das war schön.
Kurz blieb mein Blick an ihr hängen. Sie schien ihn zu spüren, denn während sie sprach, sah sie zu mir. Ich versuchte mich an einem Lächeln. Ein vorsichtiges, zaghaftes Lächeln – das sie nicht erwiderte.
Vielleicht sollte ich die Vergangenheit ruhen lassen. So wie ich mir auch sicher war, es zu tun, nach unserer Trennung und all die letzten Jahre über.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Bewegung in Niklas kam. Langsam schlug er seine Augen auf und kniff sie aufgrund der Helligkeit zusammen. »Oh, Edina. Hi! Cool, dass du da bist.« Er grinste und strich sich die braunen Haare aus der Stirn, dann rappelte er sich auf, um Edina mit einer Umarmung zu begrüßen. Sie erwiderte sie herzlich. »Ich hab dich heute morgen gar nicht bei den Vorträgen gesehen.«
»Ja, ich wollte eigentlich dabei sein, aber dann hatte ich verpennt. Leider.« Sie sah ein wenig enttäuscht an. »Zum letzten Vortrag hätt ichs noch geschafft, aber da hatte ich schon Schicht.«
»Ja, schade, der letzte war ziemlich gut. Es war von einer Politikerin aus dem Landtag, die sich viel gegen die rechten Strukturen hier in der Gegend einsetzt. Nichts Neues alles, ziemlich bedrückend. Aber zu sehen, wie sie kämpft, ist schon immer empowernd.«
»Total.« Edina nickte langsam. »Ists hier immer noch so schlimm wie damals?«
»Schlimmer.« Ich ließ Luft zwischen meinen Lippen entweichen.
Sie schwenkte ihren Sekt hin und her. »Okay, ich hätts mir denken können. Besser wird's selten.«
»Ich hab das Gefühl, mittlerweile haben die gar keine Angst mehr, ihre Meinung zu sagen«, erzählte ich und begann zu drehen. »Vor der Pandemie gabs zumindest noch ein wenig Zurückhaltung. Menschenfeindliches wurde unter dem Anschein der Angst gesagt. Aber jetzt sprechen sie das ganz offen aus.«
»Nach und nach gehen halt alle Linken. Ich mein, wer ist noch da, von den Leuten von früher?« Niklas zog die Schultern hoch. Seine Worte warfen mich kurz in eine längst vergangene Zeit zurück. Er und ich, zusammen mit Edina. Mit so vielen anderen, die dachten wie wir. Die Nächte am Juha waren endlos, sie waren Orte für erste Erfahrungen. Erste Abstürze und erste Küsse. Ein Platz für die Ausgeschlossenen ausm Kaff. »Wir. Stange. Die Altpunks natürlich. Von den Juha-Leuten ein paar, Mimmi und so. Aber das sind viel zu wenige, um etwas zu reißen.«
»Und was ist mit Andreas?«, erkundigte Edina sich.
Ich spannte mich und winkte ab. »Lass nicht über den reden.«
»Und es kommt auch keine*r nach«, führte Niklas fort, und ich war ihm dankbar dafür, nicht über Arschlöcher wie Andreas nachdenken zu müssen. »Also ich mein, damals bei uns. Da wars ja irgendwie noch cool, zu den Zecken gehören. Also zumindest gabs Leute, die das cool fanden.«
Ich nickte. »Jep. Und die Kids heute, die orientieren sich alle anders.«
»Die guten alten Werte zählen wieder.« Niklas schnaubte verdächtig auf und ich sah die Anspannung in seinem Gesicht. Oft hatten wir schon drüber gesprochen, wenn wir abends noch draußen auf der Terrasse zusammensaßen und den Grillen lauschten. Wir beide kannten die Angst, er noch so viel mehr als ich, mit der sich die Zukunft zeigte. Die Zukunft an einem Ort, an dem jene immer mehr wurden, die Menschen wie Niklas, meinen Vater oder Edina am liebsten aus dem Dorf jagen würden.
»Aber, Leute. Es ist Festivalzeit. Hier haben Faschos keinen Platz, weder auf dem Gelände, noch in unseren Köpfen!«, warf Mel entschlossen ein.
»So leicht ist das halt leider nicht«, kam Widerspruch von Jeremy, der bis eben mit seiner Bong beschäftigt gewesen war. So etwas von ihm zu hören, überraschte mich immer wieder, denn bei seiner Freundes-Wahl hatte ich meist nicht das Gefühl, dass er kritisch über Faschismus reflektierte.
»Ja, ich weiß.« Mel seufzte und spielte mit einer Haarsträhne herum, die sie zu flechten begann. »Aber darum sind wir doch auch hier. Weil wir ein wenig der Realität entfliehen wollen. Weil wir hier einen Safe Space haben. Zumindest, so weit das irgendwie geht.«
Kurz bewegte ich meinen Blick zu Edina, die in Richtung des Weges sah, der zwischen den Zelten entlang führte. Ein paar Menschen spielten dort Flunky Ball. Edina bewegte ihren Daumen über ihr Kinn, so wie sie es immer tat, wenn sie nachdenklich war. Zumindest hatte sie es früher immer getan.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top