als du erwachsen wurdest
Die wilde Zeit schien mit achtzehn vorbei zu sein. Walter wurde reifer. Wo früher Partys waren, war nun die Sorge vor dem Morgen. Auch wenn er einer der besten in der Realschule war, so hatte er noch immer keine Lehre und keine Ausbildung. Er stand nun da, ohne etwas in Aussicht. Noch immer in seinem Praktikumsjahr. Tatsächlich hätte er eine Ausbildung machen können, doch das fühlte sich für ihn falsch an. Er wollte mehr als nur Realschule. Er wollte sein Abitur. Dafür brauchte er Geld. Mit dem Job suchen klappte es nicht. Trotz zahlreicher Bewerbungsgespräche wurde er nie genommen. Schon in jungen Jahren nicht. Deswegen gab es nur eine Sache, die er noch unternehmen konnte. Er konnte sein Recht auf Unterhalt von Karl streitig machen.
In Deutschland ist es gesetzlich geregelt, dass die Eltern bis zum Abschluss der ersten Ausbildung bzw. bis das Kind 25 Jahre alt ist, diesem Kind Unterhalt zahlen müssen, wenn es die Vergütung zulässt. Sprich, Walter hatte ein Recht auf sein Unterhalt. Problem war hierbei nur, dass sein Vater nicht zahlen würde. Das tat Karl schon lang nicht mehr, mit der Begründung das er zu wenig verdienen würde. Bedenkt man dann aber, dass Karl jedes Jahr in den Urlaub fährt und in einer relativ großen Wohnung wohnt, so ist es doch seltsam, wohin das Geld floss. Des Weiteren wusste Walter, dass sein Vater genügend verdiente um zu zahlen. Karl wollte also einfach nicht für sein Sohn aufkommen. Reden würden hierbei nicht helfen. Deswegen wählte Walter einen anderen Schritt. Einen Schritt, den kaum jemand verstehen würde. Ein Schritt in seine Freiheit. Er suchte sich einen Anwalt und klagte sein Unterhalt an. Anstatt das Karl nun einfach zahlen würde, entbrannte ein Verfahren zwischen den beiden. Im März, als Walter schon neunzehn war, kam es schlussendlich zum Gerichtsurteil. Der Richter, ein eigentlich ruhiger Mann, erschreckte all die Anwesenden, als er wutentbrannt Karl zurechtwies. Am Ende stellte sich heraus, dass nicht Walter die Fehler begann, sondern sein Vater, der einfach nur uneinsichtig war. Wie Anna später erzählte, war es auch schon früher ein harter Kampf gewesen, überhaupt Unterhalt für Walter zu bekommen. Für die drei Töchter war es kein Problem, vor allem Saskia bekam viel, aber Walter, da war das ganze schon schwierig. Am Tag der Gerichtsverhandlung sprach Karl ein Satz aus, der Walter bis heute begleitet und für ihn seine Freiheit beginnen ließ. Er war nicht Karls Sohn. Nicht im Sinne von blutsverwandt, denn das waren sie. Karl war noch immer sein Erzeuger. Aber eine Vater-Sohn-Bindung gab es nicht. Und hat es für Walter im Nachhinein nie gegeben. Nach dem Gericht gab es zwischen Karl und Walter eine längere Stille, die noch immer andauert. Weder Karl noch Walter wollen sich noch einmal begegnen. Für Walter hat das Kapitel „Karl" mit dem letzten Brief, den er an seinen Vater schrieb geendet. Das Karl trotz Verfahren noch immer nicht zahlte, möchte ich noch erwähnen. Er hat es nie gelernt.
Ein weiteres Kapitel, was enden sollte, war das Ritzen. Noch am Anfang tat es Walter immer wieder. Selbst seine Mutter hielt ihn davon nicht auf. Zu ihrer Verteidigung, Walter hatte sie damals angelogen, in dem er behauptete, dass er es nicht mehr tat. Jedoch haben sich die Wunden von den Armen auf nicht sichtbare Stellen verlegt. Und das bevor er erwachsen war. Er tat es immer noch. Immer wieder schnitt er sich auf. Es war eine Sucht, die er dort betrieb. Für viele ist es unklar was ritzen bedeutet. Aber Ritzen ist tatsächlich eine gefährliche Sucht. Walter hat es wie folgend beschrieben: „Das Ritzen war für mich eine Überdeckung der inneren Schmerzen. Die äußerlichen Schmerzen halfen mir. Doch sobald sie abklangen, schrien die inneren Schmerzen wieder auf. Ich konnte nichts anderes als es immer wieder zu tun. Und niemand verstand es. Niemand half mir. Ich war selber schuld. Das ich Hilfe brauchte, sah niemand." Tatsächlich schien, laut Walter, Anna relativ desinteressiert, als sie sah, was ihr Sohn sich antat. Hilfe fand er dann letztendlich nur in einem Forum, wo wir uns kennen lernten. Ich und die anderen Mitglieder des Forums halfen ihm, die Sucht stetig zu beseitigen, bis er es aus eigener Kraft schaffte. Seit nun mehr fast drei Jahren hat er sich nicht mehr selbst verletzt. Was für viele wenig klingt, ist für ihn eine lange Zeitspanne. So lange mit den eigenen Schmerzen klar zu kommen, schaffen wenige. Hoffnung fand er in seinem Glauben. Das war es auch, was uns verbindet. Der Wikingerglaube.
Ich sprach mit Walter oft über das Glauben und was passierte, wenn er aufgab. Das gab ihm letztendlich seine Hoffnung wieder. Ich, eine jüngere Person, konnte ihn verstehen und ihm Hoffnung geben. Egal ob es bei der Sexualität oder bei seinen Verletzungen war. Nicht weil ich eine Fremde war, nein, uns einte das Schicksal. Nicht im Sinne von dem, dass wir ein Paar wurden. Wir waren gute Freunde. Wir trafen uns immer mal wieder und redeten lange über alles Mögliche, ohne zu verstehen, was uns einte.
In ihm keimte die Hoffnung wieder auf. Er machte sein Abitur und bis auf ein paar doofe Sprüche gab es kaum noch Mobbing. Er machte sein Abitur als einer der besten. Wohl gemerkt, dass er sich von dem Status eines Sonderschüler hochgearbeitet hat. Er blühte auf, machte ein Studium, schnitt auch da gut ab und lernte ein Land kennen, dass er liebte. Polen. Tatsächlich war er Polen schon immer zugeneigt. Er fing auch an, dessen Sprache zu lernen. Kurz vor seinem Abschluss und damit auch das Ende seiner Zeit in Deutschland trafen wir uns. Er hatte Geschichte und Deutsch auf Lehramt studiert und sollte nun in einer Stadt in Polen unterrichten. Ein Traum, was er schon immer wollte, dachte er. Anna war auch stolz, wenn auch traurig, dass ihr Sohn ging. Was niemand bemerkte, war die Leere in seinem Blick. Walter schien leer zu sein. Während seines Studiums schrieb er mir oft, wie gerne er gehen würde. Alles hinschmeißen und einfach abhauen. Wie sehr ihn Deutschland ankotzte. Sein Studium ihn nervte. Er war nur noch müde, wollte kaum noch was machen und schien einfach nur leer. Ich wusste, dass alle seine Tiere vor langer Zeit starben und er nur noch seine Familie hatte. Ich dachte, es wäre wegen dem Tod seiner Katze. Immerhin hatte ich selber eine Katze gehabt, welche verstorben ist. Aber das war es nicht. Die Leere in Walters Blick kam von was anderem. Nur verstand ich nicht, von was. Bevor er ging, gab er mir den Tipp mein eigenes Studium abzubrechen. Was ich nicht tat. Ich studiere noch weiter, aber jetzt spüre ich wie zermürbend das Studium sein kann. Auch mich betrifft jetzt eine Müdigkeit und das Gefühl alles abzubrechen. Eben wie viele Studenten in diesem Semester auch.
Das noch etwas anderes in Walter und mir brodelte, dass erfuhren Walter und ich erst vor kurzem. Durch mein Studium arbeite ich viel mit verschiedenen Büchern. Eines Tages hielt ich ein Buch in den Händen. Und auch wenn mich das Thema nicht interessierte, so war es, als würde etwas in mir schreien, dieses Buch doch zu lesen. Deswegen las ich es und mit jedem Satz hatte ich ein Bild vor meinen Augen. Ich sah meine eigene Mutter, wie sie in diesem Buch beschrieben wurde. Ich riet Walter das Buch ebenfalls zu lesen. Und auch er hatte dieses Phänomen. Nur sah er dabei Anna. Noch immer reden wir über das, was wir lasen. Noch immer reden wir über, dass was unsere Eltern sind. Walters Erwachsen werden ist noch nicht beendet, doch für diese Geschichte endet sein Lebensweg hier. Was jetzt geschieht, muss Walter neu überlegen. Wir müssen mit etwas klar kommen, was wir nicht wollten. Wir müssen mit etwas Vergangenem zurechtkommen. Denn unsere Eltern gaben uns etwas, was wir nicht wollten. So wie sie es nicht wollten. Sie sind nun eine Generation, die man mit einem Wort beschreiben kann.
Sie sind Kriegsenkel.
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