Türchen 14
Guten Morgen an jeden von euch, ich hoffe, es geht euch gut! <3 Auf diesem Wege wünsche ich einen wunderbaren Mittwoch ohne Stress und dafür mit viel Freude :)
Mila<3
Weihnachtswunder. Ein großes Wort. Eine hohe Erwartung. Ich frage mich, weshalb ausgerechnet an dieses Fest die Erwartungen der Menschen so hoch sind.
Sind sie?
Vielleicht ist es der Wunsch, wenigstens einmal im Jahr eine unbeschwerte und harmonische Zeit zu erleben, einen Moment inne zu halten, Zufriedenheit zu spüren, Ruhe zu finden. In einem Alltag, der von Hektik geprägt ist, von Deadlines, Zeitdruck, Schnelligkeit, Leistung.
Vielleicht.
Ich erkenne, wie das verschwommene Bild vor meinen Augen langsam wieder scharf wird. Vor mir liegt er, mit seinen 69 Jahren ist er momentan genau dreimal so alt, wie ich es bin. Eigentlich kein Alter. Ich muss an meine Großeltern denken, sie sind älter als er und wohlauf, alle miteinander. Ein Privileg, das ich erst hier schätzen gelernt habe.
Ich bemerke, dass mein Blick an seinen grauen Augen hängengeblieben ist. Sie starren ins Leere. Nein. Sie sind leer. Wie kann das sein, bei all den Dingen, die er mit ihnen gesehen hat?
Ich weiß nicht einmal, ob er registriert, dass ich an seiner Bettkante sitze. Es ist still im Zimmer, nur das regelmäßige Ticken seines alten Weckers auf dem Nachttisch ist zu vernehmen. Tick Tack. Er ist es, der mir verdeutlicht, wie gnadenlos die Zeit verstreicht, in einem Zimmer, in dem sonst alles still zu stehen scheint.
Zeit.
Davon haben sie hier nicht mehr viel. Mein Blick wandert von seinem ausdruckslosen Gesicht zum Fenster des Zimmers; es dämmert, in wunderschönem Abendrot verabschiedet sich der Tag. Siehst du diese Farben? Die Engel backen Plätzchen, höre ich seine Stimme in meinem Kopf, er liebte Sonnenuntergänge. Aber jetzt sieht er nicht aus dem Fenster. Er starrt ins Leere.
Engel.
Weihnachtswunder.
Ob ich daran glaube? Bestimmt ein bisschen. Aber nicht hier. Ein Hospiz ist der falsche Ort, um an Wunder zu glauben. Ich habe ein bisschen gebraucht, bis ich das verstanden hatte. Denn wenn eines feststeht, dann, dass die Zeit eines jeden Gastes hier gezählt ist, ganz gleich, was man hoffte oder sich wünschte, das Ende war unwiderruflich, nicht aufzuhalten. Nah.
Ja, Gast. So nennen wir die Menschen hier. Sie sind keine Patienten, die behandelt werden und dann gesund wieder nach Hause gehen. Sie sind Gäste. Und so, wie sie kommen, gehen sie auch wieder. Manchmal schon nach kurzer Zeit. Manchmal bleiben sie noch etwas.
Mein Blick fällt auf seine Hände. Er hat mir erzählt, was er alles damit erschaffen hat. Als Graveur waren seine ruhigen Hände sein Kapital gewesen. Und sein Stolz. Aber auch ein eigenes Haus für seine Familie hatten sie errichtet. Und später ein Puppenhaus für seine kleine Enkelin. Er würde so viel mehr für die Ewigkeit hinterlassen als bloß seine Gravierungen. So viel mehr trug seine Handschrift als bloß die liebsten Gegenstände anderer Leute.
Für mich ist er ein besonderer Gast. Seit einem Monat ist er hier. Ein Monat, in dem er mich viel über das Leben gelehrt hat.
Ja.
Möglicherweise kann man nirgends mehr über das Leben lernen als an dem Ort, an dem gestorben wird. Ob es schrecklich hier ist, weil der Tod so allgegenwärtig ist? Nein. Es ist die schönste Arbeit, die ich mir vorstellen kann. Noch nie zuvor habe ich gespürt, dass mein bloßes Zuhören einem Menschen so viel bedeuten kann. Noch nie habe ich mich über ein einfaches Lächeln als Dank so sehr gefreut. Es ist, als könnte ich diesen Menschen für die letzten Schritte ihres Lebens einen roten Teppich ausrollen. Ihnen zusehen, wie sie sich vor dem Leben verbeugen. Kurz bevor der Vorhang fällt.
Ich höre, wie er schwer atmet. Noch immer geht sein Blick ins Leere. Vorsichtig erhebe ich mich von der Bettkante und drehe mich zu ihm. Er röchelt. Sie hatten nicht gewusst, ob er die Nacht überleben würde. Aber er hatte es getan. Insgeheim, das denke ich, hatte er ein letztes Mal Heiligabend erleben wollen. Den Duft des Besonderen aufnehmen wollen. Das Gefühl verspüren, dass doch eigentlich alles gut ist. Friedlich. Ich ziehe vorsichtig einen Stuhl heran und setze mich vor ihn. Vielleicht könnte ich ihm etwas von diesen Gefühlen geben, durch meine Anwesenheit. Ich hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf andere, das weiß ich. Ein Teil von ihm würde spüren, dass ich hier bei ihm bin. Und es bleiben werde. Ich lächele ihn an, bevor ich eine Kerze auf seinem Nachttisch anzünde. Gleichmäßig flackert ihr Licht und erhellt sein leeres Gesicht. Seine Enkelin hatte sie liebevoll angemalt. Vielleicht ist sie gerade im Kindergottesdienst, denke ich. Vielleicht spielt sie den Weihnachtsengel im Kinderkrippenspiel, so wie ich es früher getan hatte. Vielleicht öffnet sie bereits ihre Geschenke und erfreut mit ihrem Strahlen ihre Eltern, im Hintergrund das Puppenhaus. Niemand von ihnen war hier zu ihm gekommen. Nicht heute.
Ich höre erneut sein Röcheln, er bekommt kaum Luft. Vorsichtig streiche ich mit der Hand durch sein Haar. Er bräuchte keine Angst zu haben, ich würde bei ihm bleiben. Mein Geschenk an ihn ist das, was ihm so ungerecht genommen wurde: Zeit. Und ich weiß, dass er sich darüber heute mehr freut als über alles andere.
Dann ist es mit einem Mal ganz still im Zimmer. Selbst die Kerze hat ihr Flackern für einen Moment unterbrochen, beständig erstreckt sich ihre Flamme in die Luft. Ich bilde mir ein, dass auch der Wecker einen seiner Schläge ausgesetzt hat. Tick... Tack.
Stille Nacht. Heilige Nacht.
Mein Blick wandert aus dem Fenster ins Dunkel. Die Engel hatten aufgehört, Plätzchen zu backen.
Natürlich.
Sie mussten schließlich einen neuen in Empfang nehmen.
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