Aurela - der Fremde

Ich hatte keine Angst.

Das war das Schlimmste. Das, was mir am meisten fehlte. Und der Verlust, der am meisten schmerzte.

Nach all den Jahren der Aufarbeitung, der Verarbeitung, nach all der Zeit, ist sie nicht wiedergekommen.

Angst ist unser wichtigster Bestandteil der Selbsterhaltung. Sie zu spüren, sie zuzulassen und sie zu überwinden sorgt für ein Glücksgefühl, dass besser, als jedes Aufputschmittel wirkt.

Doch er hatte diesen Teil von mir genommen.

Der kleine Zwischenfall mit dem Grapscher wurde geschickt von Garcia's Leuten kaschiert. Ich hatte seinen Kehlkopf zerdrückt. Er war mittlerweile erstickt.

Und es bedeutete mir nichts. Ein normales Mädchen hatte Zweifel, Ängste und Hemmungen so weit zu gehen. Man verletze niemanden einfach so. Und schon gar nicht tötete man einfach so.

Diese Situation hier war zwar nicht mit "einfach" zu beschreiben. Doch keines dieser Mädchen hier hätte ernsthaft die Hand gegen einen der Männer hier erhoben. Und selbst, wenn sie an eine Waffe gelangt wären und gewusst hätten, wie man schießt ... sie hätte nicht abgedrückt.

Egal, was uns die Kriege beweisen... Töten war wider unserer Natur. Es zerstörte ein Stück in uns selbst.

Doch ich hatte kein Problem damit, einen Mann mit einem Schlag ersticken zu lassen. Ich hatte kein Problem damit, die Männer in wenigen Minuten an einem Kreislaufzusammenbruch sterben zu sehen, die ich selbst mit einem giftigen Schnitt infiziert hatte. Und ich hatte kein Problem, sie zu erschießen, wenn sie sich zwischen mich und den Ausgang stellten. Ich würde es tun. Ohne eine Sekunde zu zögern.

Damit wären wir bei dem Harley Quinn mäßigen Teil in mir, der überhaupt nicht gut in der zivilisierten Gesellschaft ankommt. Den Teil, den man verstecken muss, weil man sonst in einem schlecht sitzenden orangefarbenen Jumpsuit endet.

Diese Männer hier bedeuteten mir nichts. Für mich waren sie wie er . Das Leben von anderen bedeutete ihnen nichts. Es gab zu viele Männer wie diese. Zu viele Geschäfte, wie die heute Abend. Zu viele Opfer, wie diese Frauen an den Stangen. Und zu wenig Menschen, die davon wussten. Und noch weniger, die etwas tun konnten, ohne sich selbst und ihre Familien in Gefahr zu bringen.

Ich ließ meine Augen erneut zu dem Mann schweifen, der vorhin meine Aufmerksamkeit erregt hat. Er hatte eine schlecht rasierte Glatze. Falls das professionell gemacht worden ist, will ich nicht wissen, was er mit dem Friseur gemacht hatte.

Seine Augen waren von einem dunklen Braun und wirkten in dem Dämmerlicht fast schwarz. Sie hatten mich für einen kurzen Moment aus dem Konzept gebracht und das ist mir ... noch nie passiert. Sie hatten mich nicht lüstern betrachtet, sondern ... bewundernd und ... besitzergreifend. Eigenartig, doch es war das beste Wort, das mir einfiel.

Sein Kinn war ausgeprägt und unter dem schwarzen Hemd zeichnete sich ein muskulöser Körper ab. Ein Bartschatten ließ ihn rebellisch wirken und ein Muskel in seinem Kiefer hatte gezuckt, als ich an ihm vorbei geführt wurde. Er war unglaublich gutaussehend und verwegen. Malu würde ihn als "Hottie" bezeichnen. Doch das waren viele Männer.

Es hatte nichts zu bedeuten und dennoch ... etwas war geschehen, als ich einen Moment lang von seinen Augen praktisch verschlungen worden bin. Es klang verrückt und das war es vielleicht auch.  Aber ich war mir ziemlich sicher, dass er  nicht hier sein wollte.

Das, was er hier sah gefiel ihm nicht. Er versuchte es hinter einem stahlharten Gesichtsausdruck zu verstecken, doch vor mir konnte man nichts verstecken. Die ganze Situation  widerte ihn an. Seine ganze Körpersprache drückte Ablehnung aus. Seine Muskeln waren nicht nur angespannt, sondern verkrampft. Er bemüht sich um Zurückhaltung. Sein Atem geht nicht ruhig, sondern kontrolliert. Der Muskel in seiner Wange, der wahrscheinlich nur zuckt, wenn ihm etwas gegen den Strich geht...

Ich fand ihn nicht sofort. Er war zwar groß, doch er hatte sich im hinteren Teil des Raumes postiert, so, als würde er nicht gleich entdeckt werden wollen.

Und dennoch sah ich, dass seine Augen fest auf mich gerichtet waren. Dunkel und stechend blickte er mich an. Verfolgte jede der Bewegungen der Wärter um mich herum. Und in meinem Magen breitete sich ein Kribbeln aus.

Himmel, wieso brachte mich das so aus dem Gleichgewicht?! Wir waren hier auf einer Party für Perverse und komplett Geistesgestörte und (eventuell) einer von ihnen löste ein Kribbeln in meinem Magen aus?!

Das war doch vollkommen ... Mir fielen dafür einige Adjektive ein und keines davon war besonders schön.

Trotzdem konnte ich meinen Blick nicht von ihm abwenden. Ich hörte, wie Gebote für mich gemacht wurden, wie die Männer schrieen, sich schubsten, sich gegenseitig überboten und in meine Richtung zeigten, mir immer näher kamen.

Doch ich sah nur ihn. Vergaß einen Moment unseren Plan, zählte nicht die Sekunden und behielt die Wachleute nicht im Auge... Er gehörte nicht hier her. Das wusste ich einfach. Er war keiner von ihnen.

Mein Atem beschleunigte sich, je länger sein Blick meinen suchte.

Dann setzte er sich in Bewegung und verschwand kurz aus meinem Blickfeld. Damit war der Bann  vorüber.

Ich nahm die Welt um mich herum wieder lauter und deutlicher war. 

Die Augen immer noch fest auf mich gerichtet schritt er durch die Menge, bis ganz nach vorn zu einem dünnen Engländer, der mich fast berührte und unangenehm nach etwas roch, was Jules Oma als "wilde Orchidee" bezeichnen würde.

Der Fremde packte ihn an seinem gebügelten Hemdkragen, gerade, als dieser ein Gebot für mich abgeben wollte und zog ihn brutal zurück. Sein Bizeps spannte dabei so sehr in dem Hemd, dass ich dachte, der Stoff zerreißt.  Er flüsterte der Tea-time Bohnenstange etwas ins Ohr, wobei dieser noch blasser wurde und sich dann eine Reihe weiter hinten einordnete.

Mit festen Schritten ging er zu einem der Wärter, die neben mir standen und zückte sein Scheckbuch.

"Egal, was sie kostet. Ich werde es bezahlen. Sie gehört mir."

Seine Stimme war dunkel und ein wenig rau, aber vor allem ließ sie keinen Widerspruch zu. Er strahlte so viel Wut und Aggression aus, dass der Wärter ein wenig in sich zusammen sank. Das geballte Testosteron. Ein Stier von einem Mann, würde Malu sagen.

"Sir, wir müssen noch die anderen Gebote abwarten. So sind die Regeln", murmelte er kleinlaut, wobei er immer leiser wurde, je länger er sprach.

Der Muskel in der Wange des Fremden zuckte erneut. Langsam beugte er sich näher und ballte seine Hand zu einer Faust.

"Ich scheiß auf deine Regeln, amigo. Ich sage dir jetzt, wie wir es machen. Du sagst mir, welchen Preis ich für sie bezahlen muss und dann werde ich sie mitnehmen. Und keiner von euch motherfuckern wird sie noch einmal berühren. Das werde nur ich tun. Fasst sie einer von euch dreckigen Bastarden noch einmal an, brech ich euch das Genick. Capito?" Seine Stimme war leise, aber so bedrohlich, dass sie mir eine erregende Gänsehaut verursachte. Wer war er nur?

Und viel wichtiger : was war nur mit mir?





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