9 - Neue Wunden
Es ist immer noch dunkel draussen. Also versuche ich, mich zu sammeln und meine Idee zu konkretisieren. Ich brauche auf jeden Fall Darians Hilfe, um hier rauszukommen. Mir gefällt auch der Gedanke, dass er mich auf meinem Weg begleitet. Ich werde also versuchen müssen, ihn für meinen Plan zu begeistern und dann mit ihm zusammenarbeiten. Vielleicht können wir sogar Fynn dadurch schützen und ihn als Ablenkung hierbehalten. Ich muss es versuchen. Innerlich bitte ich den blonden Mann, mir zu helfen, den richtigen Moment zu erkennen und die richtigen Worte zu finden, sowohl für Darian als auch für Fynn.
Nun brauche ich Geduld. Ich versuche währenddessen innerlich die Verbindung zu Kiran zu stärken, damit ich mich auf seine Spur machen kann. Es gelingt mir nun viel besser, ihn wahrzunehmen, jetzt, da meine Schuldgefühle schwächer sind. Er ist wie eine kleine, golden schimmernde und strahlende Lichtkugel.
Um mir die Zeit zu vertreiben und noch mehr Ruhe zu verschaffen, versuche ich nun dasselbe bei meinem Vater. Auch die Verbindung zu ihm war durch den Abgrund komplett getrennt gewesen. Ich kann ihn jetzt wieder spüren, immer noch sehr schwach, dafür sehe ich mehr von seinen Emotionen, er wirkt frustriert. Darüber muss ich lächeln, denn mein Vater ist schnell frustriert. Er ist auch sehr begeistert und ambitioniert an etwas dran, doch wenn es nicht so läuft, wie er sich das vorstellt, geht die Welt unter. Es zeigt mir, dass alles so weit in Ordnung ist. Ich liebe meinen Vater, aber meine Verbindung zu Kiran ist einfach stärker.
Ich höre, wie Darian im Raum nebenan wach wird und aufsteht. Die Sonne ist unterdessen aufgegangen. Es dauert noch einen Moment, bis Darian rauskommt. Er wirft einen Blick zu mir in die Zelle und sieht, dass ich wach liege. Er zieht eine Augenbraue hoch und fragt:
«Konntest du nicht schlafen?» Ich setze mich auf und lächle ihn an.
«Ich habe wunderbar geschlafen, danke, aber ich war schon früh wach.» Er nickt, aber es wirkt, als würde er in meiner Aussage einen Widerspruch sehen.
«Soll ich schauen, ob es bereits Frühstück gibt?» Jetzt ist er es, der lächelt. Er weiss, dass ich das Essen hier nicht mag. Ich verziehe genau deshalb das Gesicht.
«Also wenn es wieder Pampe gibt, brauchst du mir nichts zu bringen», antworte ich.
«Hast du keinen Hunger?» Ich befrage meinen Bauch und realisiere, dass ich, trotzdem ich hier nicht viel zu tun habe, hungrig bin. Er sieht es meinem Gesicht und meiner Handbewegung zum Bauch hin an. «Gib es zu, du bist hungrig.» Sein Grinsen wird breiter. Ich nicke frustriert.
«Ich bringe dir etwas, was du essen kannst», meint er selbstsicher und verschwindet damit aus dem Raum.
Es dauert eine Weile, bis er zurückkommt. In seinen Armen hält er ein paar Äpfel und als er bei mir ankommt, holt er aus den seitlichen Hosentaschen Karotten und Orangen. Ich bin begeistert. Die Freude ist so gross, dass ich es nicht schaffe, diese zu verbergen. Ich gebe mir aber auch nicht wirklich Mühe.
«Das ist ja super, woher hast du das alles?», frage ich mit leuchtenden Augen, während ich mir einen Apfel nehme. Das ist einfach hundertmal besser als Pampe.
«Ich habe kurz die Küche besucht», antwortet er und wirft mir einen unschuldigen Blick zu. Ich hätte nicht erwartet, dass wir uns nach so kurzer Zeit oder überhaupt verstehen würden.
«Weisst du, ein Tee wäre jetzt auch noch ganz nett», erwähne ich lächelnd. Er versteht und geht tatsächlich los, um Tee für uns beide zu holen. Währenddessen geniesse ich die süssliche Säure des Apfels, er schmeckt noch ganz frisch und lebendig und ich merke, wie er mich vitalisiert. Darian ist mit dem Tee zurück und setzt sich zu mir vor die Gitter. Eine Weile ist es ruhig zwischen uns und wir geniessen den Moment.
Dann merke ich, wie ich ungeduldig werde und am liebsten gleich losplatzen möchte mit meinem Anliegen an ihn. Ich spüre eine leichte Warnung innerlich, dass ich es nicht überstürzen soll. Also beginne ich vorsichtig:
«Dir ist wahrscheinlich klar, dass ich, sobald ich draussen bin, meinen Bruder suchen werde, oder?» Es folgt Stille und ich werde unsicher, hätte ich noch nichts sagen sollen? Darian sieht nachdenklich aus.
«Ja, das dachte ich mir. Wieso erzählst du mir das jetzt?», fragt er mich. Ich verfolge eine Absicht, aber ich möchte ihm die noch nicht preisgeben. Daher zucke ich mit den Schultern und antworte:
«Ich wollte einfach wissen, was du denkst.» Es dauert wieder einen Moment, bis ich eine Antwort bekomme.
«Ich kann es verstehen», sagt er nachdenklich. Ich höre, dass er es ehrlich meint. Innerlich spüre ich, dass ich es dabei belassen muss. Also versuche ich meine Ungeduld hinunterzuschlucken. Es fällt mir nicht leicht, das Thema wirkt riesig und omnipräsent in meinem Kopf. Als würde es nichts anderes geben, worüber ich reden könnte.
«Ich habe heute von Kiran geträumt, es war wunderschön, ihn so zu sehen, so frei in der Natur», spreche ich mehr zu mir als zu Darian.
«Das glaube ich dir. Wie ist es, solche Träume zu haben?» Völlig erstaunt über die Frage, muss ich erst über meine Antwort nachdenken.
«Also, ich träume selbst noch nicht lange auf diese Weise. Mein Bruder schon, er hat mir jeden Morgen davon erzählt, seitdem er reden kann. Aber bis vor kurzem habe ich die Faszination nicht verstanden. Die Träume sind so real, es fühlt sich an, als würdest du durch Zeit und Raum reisen, Distanz und Materie haben eine andere Beschaffenheit. Das Faszinierende daran ist, dass ich mich immer nach mir selbst anfühle. Es bin immer ich, die reist, einfach nicht an die Struktur hier gebunden.» Damit versuche ich die Beschreibung zu beenden. Ganz zufrieden bin ich nicht, denn ich realisiere, wie schwierig es ist, solche Erfahrungen in Worte zu fassen, dass es jemand ohne diese Erlebnisse nachvollziehen kann. «Macht das für dich irgendeinen Sinn? Ich merke selbst, wie schwierig es ist, das zu beschreiben», versuche ich zu erläutern.
«Ist schon gut, ich kann irgendwie verstehen, was du meinst. Ich glaube als Kind habe ich auch noch viel geträumt. Als meine Mutter starb, hat das plötzlich aufgehört. Daher sind meine Erinnerungen nur noch sehr vage.» Darian überrascht mich seit ich hier bin immer wieder. Seine Steife und regelgebundene Fassade war wirklich gut. Dabei steckt so viel mehr dahinter.
«Wieso ist deine steife Fassade eigentlich so überzeugend gut?», frage ich aufgrund meiner Überlegungen. Ein Schatten legt sich über sein schönes Gesicht. Ich bin leicht verunsichert, hätte ich nicht fragen sollen?
Doch bevor er antworten kann, hören wir Lärm vom Gang draussen auf uns zukommen. Hastig stecken wir die Spuren unseres Essens weg, sodass sie niemand sehen kann. Darian eilt zum Schreibtisch und setzt sich dahinter. In meinen Adern pulsiert das Adrenalin und ich höre das Pochen meines Herzens in den Ohren. Darian wird es ähnlich ergehen. Ich lege mich zur Sicherheit auf meine Pritsche.
Dann kracht die Tür zu unserem Raum gegen die Wand auf und ein dicker, eher klein geratener Mann steht mit rotem Kopf im Türrahmen. Ich setze mich auf, um ihn besser sehen zu können. Er ist klein und seine Haare sind grau meliert. Das nimmt ihm allerdings kein Stück von der autoritären und wutentbrannten Ausstrahlung. Als er zu sprechen beginnt, wobei brüllen es besser trifft, wird sein Kopf noch etwas roter und er spuck Tröpfchen aus Speichel wild um sich herum.
«Darian, was zum Teufel hast du wieder in der Küche gemacht. Du weisst ganz genau, dass du da nichts verloren hast. Du isst verdammt noch mal das Essen aus der Kantine und wenn es dir nicht passt, hungerst du eben. Hast du diesem Balg hier auch davon gebracht?» Mit Balg bin wohl ich gemeint. Was für ein ätzender Mensch. Unsicher sehe ich zu Darian. Die Fassade ist hochgezogen, gefühlt reicht sie gerade bis zum Himmel. Ich glaube zu erahnen, warum sie so gut ist.
«Ja, Sir, ich war in der Küche und habe dort etwas wirklich Essbares für uns beide geholt.» Die dicken Wangen des Mannes vibrieren vor Zorn.
«Du weisst genau, dass ihr beide hier eure Strafe verbüsst. Das heisst auch, dass du nicht einfach frei überall herumspazieren kannst. Das hat Konsequenzen und du kennst diese.» Darian wirkt wenig beeindruckt.
«Wie viele Schläge sind für mein Vergehen angebracht?», fragt er ohne Regung in der Stimme. Mir hingegen entgleisen sämtliche Gesichtszüge, ich kann nicht fassen, was ich hier mitbekomme.
Die Menschheit musste genau wegen solch üblem Verhalten ihren Planeten verlassen, den sie durch diese Wut und Arroganz beinahe zerstört hatte. Das, was ich hier sehe, zeigt mir, dass wir wieder auf dem gleichen Weg sind. In mir läuft die Szene wie ein Film, der in Sekundenschnelle vor meinem inneren Monitor abspielt. Machtentwicklung führt zu Angst, Angst führt zu Zorn, Zorn führt zu Zerstörung und dem Verlangen nach mehr Kontrolle, was einigen wiederum mehr Macht verleiht. Alles in mir wehrt sich gegen dieses Bild, es ist so grauenerregend.
Entweder verliere ich gleich das Bewusstsein, so überwältigend ist der gesamte Eindruck oder ich reagiere. Unterdessen hat der kleine Mann Darian die Antwort an den Kopf geworfen: «50 Schläge»
Ich kann das nicht mit anhören, blitzschnell entscheide ich mich zu handeln.
«Hey, das war meine Schuld, ich habe auf anderes Essen bestanden und gedroht, sonst in den Hungerstreik zu treten. Meinem Vater würde das sicher nicht gefallen, wenn er zurückkehrt und hört, dass seine Tochter hungernd in einer Zelle gesessen hat.» Mein ganzer Körper stösst pulsierend Energie aus. Würde man diese sehen können, würde ich vermutlich in Flammen stehen. Sowohl der Mann wie auch Darian wenden ihren Blick zu mir. Darian macht eine leichte Bewegung, während ich rede, um mir zu deuten, dass ich schweigen soll. Doch ich nehme das nur in der Peripherie meines Sichtfeldes wahr und ignoriere es. Ich starre den Mann an. Als sich das erste Erstaunen über meine Beteiligung gelegt hat, richtet sich seine Wut auf mich.
«Wenn das so ist, bekommst du 25 Schläge, Balg, und der Nichtsnutz hier, bekommt die anderen 25.» Er zeigt mit seinem kleinen dicken Finger auf mich. Seine Wut hat sich verändert, nun kommt sowas wie Hohn dazu. Es bereitet ihm Freude, uns so zu sehen. Ausserdem werde ich das Gefühl nicht los, dass er es äusserst peinlich für Darian findet, dass sich ein Balg, wie er mich nennt, einmischt, um ihm zur Seite zu stehen. Dann spricht er mehr zu sich und leiser: «Wenn das Gör verletzt ist, werden die mir das vermutlich sogar danken, das passt besser zu ihrer Geschichte. Vielleicht bekomme ich sogar eine Auszeichnung dafür.»
Mit einem abgrundtief bösen und hinterlistigen Grinsen treffen sich unsere Blicke kurz, dann verlässt er den Raum. Mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken. Draussen gibt er ein paar Wächtern den Auftrag, uns nach draussen zu bringen.
Währenddessen sagt Darian zu mir: «Du hättest dich nicht einmischen sollen.» Seine Stimme wirkt besorgt und mitfühlend. «Er wird kein Erbarmen zeigen. Du hast ihn herausgefordert.» Ich atme tief durch und wappne mich innerlich. Dann kommen drei junge Männer zur Tür herein. Sie befehlen Darian, obwohl sie wohl im gleichen Alter sind, die Tür zu meiner Zelle aufzusperren. Er folgt und sein Blick sucht verzweifelt meinen. Er versucht, sich für das zu entschuldigen, was jetzt kommt und mir Stärke zu vermitteln. Ich versuche meinerseits mitzuteilen, dass es in Ordnung sei. Dennoch spüre ich, wie sich Angst in meinem Körper breit macht, das Feuer verglüht bereits wieder. Mein Kopf ist trotzdem klar, aber meine Muskeln beginnen leicht zu zittern.
Ich frage mich, von was für Schlägen wohl die Rede war. Einer der Wächter packt mich grob am Arm, der andere tut dasselbe bei Darian. Es wirkt skurril, denn Darian überragt ihn um mindestens einen Kopf. Dennoch plustert sich der Kleine wichtig auf. Der Dritte geht uns voran und führt uns durch die Räume.
Es geht Stockwerke nach unten. Mir war gar nicht bekannt, dass wir bereits so tief in den Boden vorgedrungen sind. Es beunruhigt mich, dass hier so viel hinter dem Rücken der Allgemeinheit läuft. Dann kommen wir vor einem Raum zu stehen, er verströmt eine grässliche Energie. Mir stellen sich alle Haare zu Berge. Hier unten gibt es keine Fenster mit Tageslicht und alles wirkt schrecklich kalt. Der dritte Wächter klopft an die Tür, drinnen erklingt die grässliche Stimme des kleinen, wütenden Mannes. Ich schlucke leer. Er wird die Schläge verteilen.
Wir treten alle ein. Der dritte Wächter verlässt den Raum gleich wieder, er hat den Befehl bekommen, vor der Tür zu warten. Die anderen beiden halten uns nach wie vor fest. «So ihr zwei. Hier kann euch niemand hören, aber Darian, das weisst du ja bereits. Ich werde mir heute das Geschenk machen und die Strafe selbst ausführen.» Sein fieses Grinsen verheisst nichts Gutes und ich spüre, wie Darian neben mir darauf reagiert.
«Sir, ich übernehme ihre 25 Schläge. Vielleicht wird es Aufsehen erregen, wenn sie hiervon erzählt.» Ich befürchte, dass es besser gewesen wäre, wenn er einfach nichts gesagt hätte. Mir fehlen die Worte dafür, die bösartige Freude zu beschreiben, die über das Gesicht des Mannes huscht.
«Gut, wenn das so ist Darian, dann bekommst du 50 Schläge. Bitte tritt vor, darüber auf die Markierung, du kennst es ja.» Mein flaues Gefühl im Magen verstärkt sich. Darian ist blass im Gesicht, aber er tritt stoisch hervor und, da er es zu kennen scheint, zieht er bereits sein Shirt aus.
Einen kurzen Moment gerät mein Atem ins Stocken, denn ich bin von seinem Körper fasziniert. Seine Haut ist wirklich von einem dunkleren Teint und seine Muskulatur ist noch definierter als durch das Shirt zu erahnen war. Allerdings ist sie auch nicht übertrieben. Es wirkt so, als wäre sie durch harte körperliche Arbeit, Training und viel Bewegung entstanden.
Jetzt bewegt sich der dicke Mann auf ihn zu und holt mich zurück aus meinen Gedanken. Ich weiss nicht mal den Namen dieses Scheusals, vielleicht ist das auch besser. Ich sehe, wie er einen Gürtel hervorholt und mir wird wieder schlecht. Ich habe gelesen, dass es Zeiten auf der Erde gab, da waren Schläge mit dem Gürtel oder der Rute sogar in der Schule als Strafe üblich. Die Zeit vergeht plötzlich langsamer und das Grauen kann sich in meinem Körper ausbreiten.
Dann holt er für den ersten Schlag aus. Als der Gürtel auf Darians Rücken trifft, gibt es ein Geräusch, das durch Mark und Bein geht. Ein roter Striemen bleibt auf seiner Haut zurück und zeigt genau, wo ihn der Gürtel getroffen hat. Das Scheusal holt bereits zum zweiten Schlag aus. Darian verzieht keine Miene, während er dort steht wie ein Berg. Ich kann kaum hinsehen und währenddem der Mann immer wieder ausholt, beginnen mir die Tränen die Wangen hinunterzulaufen.
Die Zeit vergeht weiterhin seltsam, bei jedem Schlag zucke ich heftig zusammen. Das Zittern ist mittlerweile so stark geworden, dass der Wächter, der mich am Arm hält, verunsichert zu mir sieht. Vermutlich denkt er, dass ich bald zusammenbreche. Ehrlich gesagt, das ist geradezu ein verlockender Gedanke. Doch das kann ich Darian nicht antun. Also reisse ich mich zusammen.
Es dauert gefühlt ein ganzes Leben, bis dieses Ungeheuer eines Menschen den Gürtel senkt und sagt: «Vielleicht ist es dir diesmal eine Lehre.» Ich sehe Darians Rücken, er ist feuerrot und an einigen Stellen ist seine Haut aufgeplatzt. Das Blut fliesst ihm wie ein ruhiges kleines Rinnsal den Rücken hinunter. Seine Hosen fangen es auf. Sein Blick, den ich sehe, als er zu mir zurückkommt, ist kalt und er wirkt weit entfernt. Dann richtet sich der Mann an mich.
«So junges Gör, du bist an der Reihe.» Diese Aussage bringt Bewegung in den Raum. Darian dreht sich blitzschnell zu ihm um. Nun ist er wütend.
«Ich habe die Schläge für sie bekommen. Lass sie da raus.» Ein hämisches Grinsen breitet sich auf dem Gesicht des Täters aus.
«Davon habe ich nichts gesagt, mein Guter. Lass es dir eine Lehre sein. Auch sie hat keinen Respekt und befolgt die Regeln nicht. Sie soll es ebenfalls zu spüren bekommen.» Mein Wächter lässt meinen Arm los, ich drohe einzubrechen, doch Darian greift meinen anderen Arm. Er blickt mir tief in die Augen.
«Versuch, nicht zu schreien, das macht es schlimmer, es macht ihn an», warnt er mich mitfühlend. Ausserdem sehe ich, dass es ihm unendlich leidtut, dass ich das erleben muss. Ich bin unsicher, als ich vorne zum Stehen komme. Genau dort, wo Darian nur vor wenigen Augenblicken gestanden hat. «Shirt aus», blafft mich dieser Tyrann an. Also tue ich, wie mir geheissen. Darunter trage ich nur einen feinen BH. Unterwäsche gehört zu den wenigen Dingen, die hier feiner verarbeitet werden. Meiner lässt sich vorne schliessen und hat eine schöne Stickerei entlang der Wirbelsäule hoch zum Nacken. Ich fühle mich unwohl, so entblösst unter all den Männern. Dann tritt eine greifbare Stille im Raum ein. Ich weiss, dass er zum ersten Schlag ausholt.
Bevor der erste Schlag auf meinem Rücken auftrifft, entgleite ich meinem Körper. Ich werde weit weg von der Szene gezogen und komplett vom Empfinden meines Körpers entkoppelt. In dieser Form lande ich bei Fynn, er ist gerade im Unterricht und ich beobachte ihn. Er kritzelt hektisch auf ein Papier, ich realisiere, dass es nichts mit dem Unterricht zu tun hat. Er verfasst eine Liste mit Dingen, die wir draussen benötigen.
Das bringt mich auf eine Idee. Ich kann ihn in dieser Form nicht berühren, aber ich konzentriere mich auf die Liebe, die ich für ihn empfinde, und merke, wie sich dadurch eine Verbindung gibt. Ich versuche mir genau vorzustellen, was ich brauche. So sollte er die Botschaft bekommen. Die Vorstellung, wie er das alles für zwei packt und heute Nachtmittag gleich mitbringt, wird immer bildlicher und realer. Ausserdem denke ich an die Salbe für Wunden, die seine Mutter aus Kräutern selbst macht. Die können Darian und ich heute Abend sicher gebrauchen. Erstaunt stelle ich fest, dass Fynn in diesem Moment die Salbe auf seine Liste schreibt. Ich spüre eine grosse Zuneigung, die von ihm zu mir fliesst und die Sorge, dass mir etwas geschehen könnte. In dem Augenblick werde ich zurück in meinen Körper gezogen.
Ich befinde mich wieder in dem grässlichen Raum. Er muss eben mit den Schlägen fertig geworden sein. Ich kann den Schmerz an meinem Rücken spüren. Doch im Moment habe ich die Stärke, keinen Mucks von mir zu geben. Vollkommen gefühlskalt nehme ich mein Shirt auf, drehe mich zu meinem Peiniger um und höre mich sagen: «Danke.»
Ich weiss nicht genau, woher das kommt, aber ich sehe ihm dabei direkt in seine Augen. Es erzeugt eine Reaktion, die besser nicht sein könnte. Denn der tyrannische Mann verliert sämtliche Fassung und ein schockiertes Staunen tritt in sein Gesicht. Ihm wird bewusst, dass er mich weder brechen noch mich verletzten konnte. Angst und Reue, Betteln und Flehen wären die Reaktionen gewesen, die er sich erhofft hatte.
Damit kehre ich zu meinem Wächter zurück, der mich mit sichtlicher Verwunderung im Gesicht wieder am Arm festhält. Diesmal jedoch mit viel mehr Feingefühl und Respekt.
«Darf ich mein Shirt noch anziehen?», frage ich ihn. Mit seiner Hand am Arm geht das schlecht. Erschrocken und errötend lässt er mich los. Ich ziehe mein Shirt über den Kopf und schlüpfe in die kurzen Ärmel. Dann spüre ich wieder die Hand am Arm. Der immer noch unbefriedigte Tyrann entlässt uns mit einem Zeichen an die Wächter.
Der Weg zurück ist gefühlt viel kürzer als der Weg nach unten. Schnell sind Darian und ich zurück in unserem Raum und ich in meiner Zelle. Ich setze mich auf meine Pritsche und Darian auf seinen Stuhl, darum bemüht, mit dem Rücken die Lehne nicht zu berühren. Ich sehe, dass er mittlerweile die Schmerzen spürt. Vorhin war er wahrscheinlich durch die ganze Anspannung und das Adrenalin davor bewahrt gewesen. Als die Wächter weg sind, atmen wir beide hörbar auf.
Wir warten noch etwas, bevor wir uns rühren, es fühlt sich hier drin nicht mehr so sicher an wie zuvor. Wobei das wohl auch ein Trugschluss gewesen ist. Nach einer Weile höre ich, wie Darian aufsteht und zu mir zur Zelle kommt.
«Geht es dir gut?», fragt er mich und seine hörbare Besorgnis berührt mich tief.
«Ja, irgendwie schon. Wie ist es dir?», frage ich zurück, genauso besorgt.
«Es geht schon, es brennt und ich fühle mich miserabel, dass ich dich in diese Situation gebracht habe. Es tut mir so leid.»
«Ist schon in Ordnung, ich wollte schliesslich die Pampe aus der Kantine nicht essen.»
«Hör auf damit, du wurdest nur so sehr bestraft, weil es denen gerade ins Konzept passt und ich der Auslöser war. Der Vorsitzende der Wächter war früher mein Ausbilder, er hasst mich.» Damit versucht er die ganze Verantwortung auf sich zu nehmen. Ich werde es ihm nicht ausreden können, also lass ich es. Er setzt an, um etwas zu sagen, lässt dann wieder davon ab.
«Ich gehe mich mal waschen», sage ich anstelle. Er geht selbst auch in sein kleines Badezimmer.
In dem Bad gibt es eine kleine Dusche. Diese benutze ich. Ich lasse das warme Wasser durch mein Haar und über meinen schmerzenden Rücken fliessen. Die blauen Flecken meines Ausflugs sind kaum noch sichtbar, das ging schnell, sie schimmern nur noch leicht Gelb unter meiner Haut. Ich frage mich, ob es bei meinem Rücken auch so sein wird. Einige Stellen an meinem Rücken brennen vom darüber fliessenden Wasser. Deshalb reibe ich die Seife überall gut ein. Ich will die offenen Wunden gut auswaschen.
Die Seifen hier sind sozusagen Alleskönner, ich kann sie, wie jetzt auch zur Reinigung von Wunden verwenden. Das enthaltene Rosenöl und die Ringelblumen werden die Heilung fördern. Das weiss ich aus einem alten Heilkräuterbuch, das bei uns im Bücherregal steht. Rosen wachsen hier ausgezeichnet, im Speziellen Wildrosen, die wenigen Pflanzen, die wir noch hatten, haben sich hier zügig ausgebreitet und vermehrt. Sie fühlen sich wohl. Ich kann es ihnen nachempfinden.
Damals auf der Erde hatte man sehr früh begonnen, Pflanzen zu isolieren, es war eine kluge Entscheidung, denn ein paar Jahre später begannen die Pflanzen giftig zu werden oder sind wegen multiresistenten Pilzen zugrunde gegangen. Ehrlich gesagt kann ich mir das alles nicht richtig vorstellen. Aber im Unterricht haben wir viel darüber gehört.
Nach der Dusche trockne ich mich mit dem Tuch, das bereit liegt, ab. Dann ziehe ich frische Kleider an und trockne meine Haare gut mit dem Handtuch nach. So gehe ich zurück in die Zelle.
Darian kommt gleich zur Tür. Er scheint immer noch besorgt, aber auch frisch geduscht und angezogen. Ich kann seine Besorgnis verstehen, doch ich habe nichts von den Schlägen mitbekommen. Es ist, als würde nur mein Körper leicht unter Schock stehen, doch der Rest ist entspannt. Nur die Bilder seiner Bestrafung lassen mich nicht los. Er setzt zum Sprechen an und es wirkt, als würde er nun aussprechen, wozu er zuvor nicht in der Lage war: «Ich komme mit dir. Lass uns so schnell es geht von hier weggehen und deinen Bruder suchen.»
Meine Gesichtszüge entgleiten mir wieder einmal. Damit habe ich nicht gerechnet.
«Bist du dir sicher?», frage ich ihn etwas neben mir.
«Ja, das was du mir bisher erzählt hast, gibt mir das Gefühl von Freiheit. Und ich möchte mich frei fühlen. Also, wenn du mich dabeihaben möchtest», ergänzt er beinahe schüchtern.
«Ehrlich gesagt, hatte ich vor diesem Horror überlegt, wie ich dich fragen könnte», gestehe ich. Sein Gesicht erhellt sich und er lächelt mich an.
«Dann ist es abgemacht.» Ich nicke und lächle auch.
«Ichglaube, Fynn wird heute Ausrüstung bringen, da unten war ich plötzlich weg undbei ihm. Er hat gerade eine Liste verfasst.» Darian quittiert das mit einemzufriedenen Kopfnicken. Also warten wir auf Fynn.
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