8 - Alte Wunden
Ich entscheide mich, die Zeit allein zu nutzen und ins Bad zu gehen. Dort wasche ich mein Gesicht. Als ich hoch in den Spiegel blicke, habe ich das Gefühl, den Mann aus meinem Traum direkt hinter mir wahrzunehmen. Ich sehe es nicht mit den Augen, wie ich mich im Spiegel sehe, es ist eher seine Präsenz, die klar spürbar ist. Wärme breitet sich noch mehr in meinem Körper aus und ich werde ganz ruhig innerlich. Jetzt kann ich Kiran ganz klar spüren, er wirkt weit weg, aber dennoch so lebendig wie selten zuvor. Ich höre sogar den Hall seines Lachens. Mein Spiegelbild zeigt mir, dass Tränen über meine Wangen fliessen. Doch diese entspringen der tiefen Rührung, die ich gerade durchlebe.
Ich hoffe, das Gefühl bleibt. Mit diesem Gedanken schleicht sich jedoch ein Hauch der Angst in mein Gemüt, die mich seit Kirans verschwinden immer wieder beinahe überwältigt hat. Ich verlasse das Bad wieder und sehe, dass Darian mittlerweile auch aufgestanden ist. Er sieht mich leicht unsicher an. Vielleicht fürchtet er sich davor, dass ich gleich wieder zusammenbreche. Ich lächle ihn an, um ihm zu zeigen, dass ich mich so weit gut fühle.
«Guten Morgen, entschuldige bitte meinen Zusammenbruch in der Nacht, ich fühle mich jetzt wieder besser.» Er wirkt beruhigt und zieht sofort seine undurchdringliche Fassade wieder hoch.
«Ich hole das Frühstück.» Ich nicke.
Einige Zeit später kommt er zurück mit zwei Tellern, darauf befindet sich ein leicht grauer Brei. Mir wird schon übel, wenn ich mir vorstelle, das zu essen. Das sieht er mir wohl an und zuckt mit den Schultern.
«Das ist alles, was es gibt. Sonst musst du warten bis zum Mittagessen», informiert er mich sachlich.
«Gut, ich verzichte gern», antworte ich immer noch angewidert auf den Brei blickend. Er setzt sich nun mit beiden Tellern hinter den Tisch und beginnt zu essen. Ich ziehe mich in eine Ecke der Zelle zurück, aus der ich so wenig wie möglich davon mitbekomme, wie er isst.
Ich frage mich, ob ich verwöhnt bin und warum es in diesen Gemeinschaftsgebäuden, einschliesslich der Schule, nur so grässliches Essen gibt. Auf diesem Planeten gibt es so viel Grün und wir pflanzen und ernten viel frisches Gemüse und Obst. Wie kann man dann solche Pampe servieren. Woher haben sie die überhaupt?
Nach einer Weile des Essgeräusche-Ignorierens entscheide ich mich dazu, mich nochmals hinzulegen und ein paar Stunden Schlaf nachzuholen. Vielleicht erfahre ich so mehr über Kiran. Kiran steht für mich an erster Stelle. Mein Vater ist erwachsen und kommt sicher besser allein klar als mein kleiner Bruder. Ausgestreckt auf der Pritsche schliesse ich meine Augen und atme tief durch.
Ich sehe mich von oben mit meiner Mutter spielen. Wir sind auf der Arche und ich bin noch relativ klein. Wir lachen gerade über unser Spiel und sind voller Freude, doch dann weiten sich die Augen meiner Mutter plötzlich und sie wird ganz blass. Sie verliert das Bewusstsein und bleibt regungslos am Boden liegen. Die Szene zieht mich in meinen kleinen Kinderkörper und ich erlebe das alles als kleines Mädchen.
Ich spüre tiefe Verzweiflung und Angst in mir, so kurz nach der grossen Freude. Ich beginne, lautstark zu weinen und schreie, um auf uns aufmerksam zu machen. Mein Vater kommt hereingestürmt und sein Entsetzen verängstigt mich noch mehr. Habe ich Mami kaputt gemacht? Mein Weinen wird immer schlimmer. Die Angst und Schuld graben sich immer tiefer in mein kleines Kinderherz, während mein Vater meine Mutter hochhebt und nach draussen trägt.
Ich bleibe allein und es wirkt, als würde die Welt immer dunkler werden. In dem Moment werde ich wieder aus meinem Kinderkörper gezogen. Ich stehe neben meinem kleinen Ich. Neben mir spüre ich die starke und liebevolle Präsenz des blonden Mannes. Mir wird klar, dass ich damals bereits eine tiefe Angst davor entwickelte, Menschen, die ich liebe, zu verlieren. Ausserdem drosselte ich meine Freude immer auf ein Mass herunter, damit ich nie mehr so überrascht werde.
Meine Mutter kam damals bald darauf zurück, doch die Wunde, die entstand, heilte nie richtig aus. In die Freude schleicht sich immer ein Mass an Schuld und Angst.
Nun bin ich es, die weint, die Szene in der Arche verschwindet und ich bin wieder auf der Wiese. Ich weine um mich, das kleine glückliche Mädchen, das ich war und wie ich danach auf Abstand ging von allem und jedem, was mir zu viel Freude bereiten konnte. Die einzigen Menschen, die ich seither näher an mich heranliess, sind Kiran und Fynn. Doch durch Kirans Gehen wurde diese Wunde von damals wieder aufgerissen. Ich hatte sie so gut versteckt und gepflegt, aber nie geheilt.
Ich setze mich in die Wiese, ziehe meine Knie an mich und senke den Kopf. Wie kann es sein, dass ich mich erst jetzt wieder an dieses Erlebnis zu erinnern beginne? Ich spüre immer noch die Präsenz des Mannes, aber er greift nicht in meinen Prozess ein, er ist nur da. Nach einer Weile fragt er mich, ob ich meine Mutter denn gerne sprechen möchte. Ich lasse mir Zeit mit der Entscheidung. Am Ende realisiere ich, dass ich diesen Teil meiner Angst und Verletzung erst für mich lösen muss. Dass meine Mutter da ist und mich liebt, habe ich in meinen vorhergehenden Träumen bereits verstanden.
Ich atme tief durch und spüre den Wind, wie er mir übers Gesicht streicht. Er ist warm und alles klingt, als würde es vibrieren, der Ton durchdringt alles. Der Mann lächelt mich wissend an.
Ich schlage meine Augen auf. Noch immer liege ich auf dem Rücken. Darian sitzt neben mir und hat seine Hand noch an meiner Schulter, als hätte er versucht, mich zu wecken. Er wirkt verwirrt.
«Alles in Ordnung? Ich habe dich wieder weinen gehört.» Ich setze mich langsam auf, mein Gesicht ist noch ganz nass.
«Entschuldige. Ich wollte dich nicht schon wieder stören. Ich habe geträumt.»
«Du bist echt seltsam», antwortet er immer noch verunsichert von der Situation. Ich sehe, dass ihm Fragen auf der Zunge liegen, er kämpft mit sich selbst. Die Neugier siegt und er fragt: «Wovon hast du geträumt?»
Ich weiss nicht, wieso, aber ich habe das Gefühl, dass ich mich ihm anvertrauen sollte. Also erzähle ich von meinem Traum und der damit verbundenen, lange verdrängten Erinnerung. Details wie den Mann lasse ich allerdings aus. Während ich erzähle, realisiere ich, dass die Wunde kleiner geworden ist, und zwar nicht, weil ich sie verstecke. Sie ist tatsächlich ein kleines Stück geheilt.
Ich beobachte Darians Gesicht. Er ist eigentlich sehr schön. Jetzt, wo er mir so nahe ist, erkenne ich Spuren in seinem Gesicht, die mich darauf schliessen lassen, dass auch er seine Wunden durchs Leben trägt. Seine harte, gleichgültige Fassade ist zurzeit komplett weg.
«Lebt deine Mutter noch oder ist sie damals gestorben?», fragt er mich mit dem Blick gesenkt und ich kann hören, dass da mehr dahintersteckt.
«Damals hatte sie nur einen Schwächeanfall, jetzt, wo ich mich wieder erinnern kann, fällt mir ein, dass Vater mal erwähnt hat, dass ich noch ein Geschwisterchen gehabt hätte, aber sie verlor es damals und war deshalb sehr geschwächt. Ihr einziger Trost war es, mit mir zu spielen, das half ihr über den Verlust, doch sie übernahm sich körperlich zu sehr. Danach dauerte es nochmals ein paar Jahre, bis sie mit Kiran schwanger wurde. Sie überlebte seine Geburt nicht. Aber Kiran ist mein Sonnenschein. Deshalb muss ich ihn um jeden Preis finden.» Meine Stimme gewinnt gegen Ende immer mehr an Kraft. Ich will und werde Kiran finden. Darian nickt still vor sich hin. Ich versuche mein Glück und frage ihn: «Was ist mit dir? Wo sind deine Eltern?»
Ich muss wohl ins Schwarze getroffen haben, denn Darians Blick wird finster.
«Meine Mutter starb auf der Arche, als ich noch klein war. Mein Vater hat es nicht verkraftet und wurde immer aggressiver mir gegenüber. Er ertrug mich nicht. Ich gleiche ihr, weisst du. Am Ende nahm er sich das Leben», seine Stimme klingt hart. Doch hinter der Härte nehme ich die gleiche unendliche Verletzung wahr, die bei mir gerade zu heilen beginnt. Eine Welle von Mitgefühl überrollt mich. Ohne bewusst darüber nachzudenken, hebe ich meine Hand und berühre ihn sanft an der Wange, er schreckt sofort zurück und schaut mich entsetzt an.
«Lass das!», blafft er mich grob an und steht auf. Schneller als ich meine Hand senken kann, ist er aus der Zelle draussen und hat sie zugesperrt. Dann verlässt er den Raum ganz. Völlig perplex senke ich meine Hand.
Es dauert lange, bis er zurückkommt und er ist in Begleitung. Ich freue mich riesig, denn es ist Fynn mit meinen Sachen und hoffentlich mit Neuigkeiten. Darian öffnet die Zelle, damit er mir alles geben kann. Fynn wirft meine Sachen auf das Bett und schliesst mich in seine Arme. Sofort erhole ich mich von der Zurückweisung durch Darian. Fynn flüstert mir ins Ohr:
«Ich hatte Recht, sie suchen nicht nach Kiran, aber bitte erschrecke nicht. Sie nutzen deine Familie, um den Leuten noch mehr Angst zu machen. Sie erzählen allen, dass ihr beide bei einem nicht autorisierten Ausflug von wilden Tieren angegriffen wurden und nur du überlebt hast, du müsstest dich allerdings von deinen Verletzungen erholen. Ich sage dir, mir platzt der Kragen, die spinnen komplett und ich verstehe nicht, warum sie das tun.» Er spricht unglaublich schnell und leise, dann platzt Darian dazwischen: «Das reicht jetzt, auseinander!»
Schnell löst sich Fynn von mir und wechselt einen vielsagenden Blick mit mir.
«Oh, jetzt wird mir schon vorgeschrieben, wie lange ich meine beste Freundin umarmen darf, reicht es nicht, dass ihr mich überwacht?» Damit gibt er mir zu verstehen, dass er draussen auch Schwierigkeiten hat, weiterzukommen. Darian verdreht nur die Augen. Schweiss tritt mir auf die Stirn und meine Hände werden ganz kalt. Es dürfte schwierig werden, hier rauszukommen. Ich versuche eine erneute Welle der Angst mit Vertrauen zu neutralisieren. Es gelingt mir relativ gut. Dennoch bleibt ein Rest Unruhe übrig.
«Danke Fynn, dass du mir meine Sachen gebracht hast. So kann ich wenigstens meine Träume aufschreiben und mit den alten vergleichen. Vielleicht hilft mir das weiter.» Ich versuche ihm, damit mitzuteilen, dass ich weiter am Plan, Kiran zu finden, festhalte und mein Bestmögliches zur Vorbereitung gebe.
«Wenn ich darf, werde ich morgen nach der Schule nochmals herkommen, da habe ich mehr Zeit als am Mittag.» Ich nicke. Ich würde mich über seine Gesellschaft freuen. Er geht wieder, aber nicht, ohne Darian einen finsteren Blick zuzuwerfen. Der wirkt jedoch unbeeindruckt davon.
«Ich hole das Mittagessen», informiert er mich.
Das Mittagessen lässt sich zumindest essen, auch wenn es nicht schmeckt. Hungrig bin ich mittlerweile. Anschliessend sortiere ich die Dinge, die Fynn mir gebracht hat; er hat an alles gedacht, Seife, Zahnbürste, Zahnpulver, Kleider zum Wechseln. Der Gedanke daran, dass er dazu auch meine Unterwäsche zusammenpacken musste, lässt mich leicht erröten. Ich verstaue alles und setze mich dann auf mein Bett und blättere im Traumtagebuch meines Vaters. Nach einer Weile fällt mir auf, was mein Vater da draussen gesucht haben könnte. Er hat auch Spuren dieser Menschen gesucht, die hier gelebt haben mussten. Er hat ganze Theorien dazu entwickelt, wie und wo sie gelebt haben.
All diese Informationen kamen aus den Träumen, einzelne Notizen am Rande waren allerdings Querverweise zu den Karten, die er wohl bei den Anlagen zur Verfügung hatte. Ich kann jedoch nicht herausfinden, wohin er genau wollte, und was ihn so angetrieben hat, kann ich nur erahnen. Gut, Kiran ist auch meine Priorität, dennoch erachte ich es als sinnvoll, so viel zu wissen, wie es geht. Mein Vater hat Landschaften und Merkmale davon beschrieben, die mir vielleicht helfen, mich zu orientieren.
Ich kehre ins Jetzt zurück und frage mich, ob es mir vielleicht hilft, dass Fynn überwacht wird. So kann ich ihn hier in Sicherheit lassen. Auch wenn es mir besser geht, meine Angst, ihm könnte meinetwegen etwas geschehen, werde ich noch nicht los. Ich schweife weiter zu dem seltsamen Verhalten unserer Führer. Ich mochte sie nie und bisher haben sie mir nie einen Grund geliefert, meine Meinung zu ändern. Schon gar nicht, nach dieser Anhörung.
Sie sagen uns immer, es sei zu unserem Besten, wenn wir unter uns bleiben und sicher in der Stadt eingesperrt leben. Mich hat die Vorstellung, mein Leben hier zu fristen, komplett frustriert. Ich wollte immer hinaus in die Freiheit. Ich bin bis heute felsenfest überzeugt, dass der Planet Unmengen an Nahrung und Wasser bereithält und wir ohne Probleme auch anders überleben könnten. Doch die Gruselgeschichten über wilde Tiere oder Schlimmeres haben ihre Spuren hinterlassen. Nicht, dass es da nicht unheimliche Tiere gibt, eines hat meinen Bruder mitgenommen, aber das kann man nicht miteinander vergleichen.
Darian bringt unterdessen das Abendessen, es ist spät geworden. Wir essen für uns allein und schweigend.
Nach dem Essen setze ich mich zur Gittertür, es ist bereits dunkel draussen und es wird immer stiller um uns herum. Von hier sehe ich Darian bei der immer selben Tätigkeit zu. Er studiert Papiere. Seine dunkelbraunen Haare fallen ihm vorne leicht ins Gesicht. Seine schönen Gesichtszüge werden durch den Winkel des Lichts vorteilhaft betont. Wenn er so konzentriert ist, ist auch diese kalte Fassade weg. Ich sehe, dass er eigentlich ein sehr warmer und lieber Mensch ist.
Seine Haut ist ein wenig dunkler als die der meisten hier. Vermutlich stammen seine Vorfahren aus dem Mittelmeerraum, denke ich bei mir. Sein Anblick fasziniert mich zutiefst. Mir ist ausserdem aufgefallen, dass, wenn er spricht und nicht wütend ist, seine Stimme eine angenehme Tiefe und Stärke hat.
Während ich ihn so beobachte, hebt er plötzlich seinen Kopf. Er sieht, dass mein analysierender Blick auf ihm liegt. Doch wider Erwarten reagiert er nicht unangenehm. Im Gegenteil, sein Blick ist offen und fragend. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass wir uns so offen gegenseitig in die Augen sehen. Es wirkt, als würde alles langsamer werden, er sieht tief in mich hinein, sowie ich bei ihm. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit zu ihm, woher die kommt, weiss ich nicht.
Wir brechen die Verbindung zeitgleich ab. Mein Herz klopft laut und kräftig in meiner Brust. Was war das denn gerade?
«Kann ich dir einen Tee bringen?», fragt er mich. Ich höre an seiner Stimme, dass auch er sich noch nicht gefangen hat. Mit seiner Frage und dem damit verbundenen Verlassen des Raumes versucht er es zu überspielen.
«Ja, gerne, wenn du auch einen nimmst», antworte ich. Etwas in mir will nicht, dass der Moment vorbei geht. Er hat nicht mit dieser Bedingung gerechnet. Daher braucht er einen Augenblick, um sich zu sammeln. Doch dann nickt er und verlässt den Raum.
Stille umgibt mich. Auf meinem Brustbein spüre ich eine Temperaturveränderung der Kette. Schnell nehme ich den Anhänger hervor und betrachte ihn staunend. Das Schwarz des Steines ist jetzt nur noch ein Nachhall. Die dominante Farbe ist nun gelb. Fasziniert bestaune ich diese Veränderung. Irgendwo in meinem Hinterkopf beginnen sich Ereignisse zu verbinden, doch ich kann sie noch nicht greifen, geschweige denn formulieren. Also packe ich die Kette wieder unter mein Shirt.
Gerade rechtzeitig, denn Darian betritt eben den Raum mit zwei Tassen in der Hand. Er reicht mir eine und will gerade mit seiner zum Tisch gehen, ich halte ihn zurück.
«Warte, würdest du dich zu mir setzen? Nur hier vor die Tür, ich wäre froh um ein bisschen Gesellschaft, damit mich meine Gedanken nicht erdrücken», bitte ich ihn. Meine Gedanken sind zwar gerade nicht mehr so erdrückend, doch die Unruhe und eine vage Angst sind noch da. Alles andere wäre wahrscheinlich auch seltsam. Ich misstraue dem Frieden auch noch.
Darian mustert mich und entscheidet dann, dass es wohl nicht schaden kann, wenn er meinem Wunsch nachkommt. Vor meiner Zelle setzt er sich auf den Boden. Dabei stützt er sich mit seiner grossen Hand am Boden ab. Da er nur ein T-Shirt trägt, kann ich einiges von seinem Körper darunter erkennen. Er wirkt muskulös und an seinen Armen sind die Venen und Muskeln deutlich sichtbar. Die feinen braunen Haare daran stellen sich gerade ein wenig auf. Friert er etwa?, frage ich mich. Gedankenverloren nimmt er einen Schluck von seinem Tee, dabei bewegt sich seine Halsmuskulatur und ich muss darauf achten, dass mein Mund nicht offen stehen bleibt. Also nehme ich auch einen Schluck Tee.
«Erzählst du mir, wie du Wächter geworden bist und warum du hier gerade Strafdienst leisten musst?», frage ich ihn vorsichtig. Ich versuche, meinen Blick so offen zu halten, wie es geht, damit er sich eingeladen fühlt, sich mir weiter anzuvertrauen. Er mustert mich prüfend.
«Nun, wie die meisten Kinder ohne Eltern, nicht, dass es gerade viele waren, aber dennoch, wurde ich früher aus der Schule genommen und nach der Landung sofort ins Wächtertraining gesteckt. Wir alle wurden von keinen Eltern geschützt, geschweige denn vermisst, sollte uns etwas im Dienst zustossen.» Er wird still und ist nachdenklich in sich gekehrt. Wahrscheinlich erinnert er sich gerade an diese Zeiten. Ich warte und gebe ihm die Zeit, die er braucht, ich will auch nicht, dass er sich wieder verschliesst. Ich höre ihm gerne zu.
«Ich hatte nie die Wahl oder die Möglichkeit, herauszufinden, was mir Freude machen würde. Also komme ich hin und wieder auf Gedanken, die den Anführern nicht gefallen. Um mich daran zu erinnern, wo ich stehe, haben sie mich als deine Leibwache ab degradiert.»
«Darf ich wissen, was das für Gedanken sind?», frage ich neugierig.
«Also, das Einzige, was mir an der Wächterausbildung gefallen hat, war das körperliche Training. Ich fühle mich wohl, wenn ich mich bewegen kann und noch lieber bewege ich mich im Wald in der natürlichen Landschaft. Meine kleinen sportlichen Aktivitäten ausserhalb der Stadt schätzen sie nicht.» Ich muss mir das Lachen verkneifen, aber ein breites Grinsen erlaube ich mir. Er sieht es und zum ersten Mal lächelt er richtig, also auch mit seinen Augen.
«Ja, du siehst, ich bin aus dem gleichen Grund hier wie du.»
«Dabei dachte ich anfangs, du seist so ein steifer übereifriger Paragraphenreiter», grinse ich ihn nun noch frecher an. Er lacht diesmal richtig:
«Ja, das hättest du wohl gerne. Du hast keine gute Menschenkenntnis, oder?» Ich höre sofort auf zu lächeln und schau ihn düster an.
«Oder du bist ein guter Schauspieler. Wobei ich mich frage, ob es möglich ist, so realistisch vorzuspielen, einen Stock im Arsch zu haben.» Ich bin gerade sehr über meine schlagfertige und ungewöhnliche Ausdrucksweise erstaunt. Normalerweise halte ich mich mit solchen Ausdrücken zurück. Doch Darian beweist Humor, es dauert einen Moment, in dem er seine Reaktionsmöglichkeiten abzuschätzen versucht. Dann platzt es aus ihm heraus und er lacht. Es ist schön, ihn so Lachen zu sehen. Ich stimme mit ein, denn es ist ansteckend. Nach einer Weile beruhigen wir uns, ich fühle mich, als hätte sich ein Knoten in mir gelöst, die Distanz ist überwunden. Das dürfte zumindest die Zeit hier angenehmer gestalten.
Als wir beide unsere Tassen leer haben, verabschiede ich mich für meine Abendtoilette. Darian bringt unterdessen die Tassen nach draussen. Ich lege mich auf meine Pritsche und höre zu, wie Darian wieder hineinkommt und kurz an meiner Tür stehen bleibt.
«Schlaf gut, ich hoffe du träumst heute etwas Schönes.»
«Danke, schlaf auch gut», antworte ich und unterdrücke ein Gähnen. Dann drehe ich mich zur Seite und bin sofort weg.
Ich wirble durch viele Farben und Töne, kann aber nichts Klares erkennen. Also lasse ich mich treiben. Nach einer Weile steht meine Mutter vor mir, wir sind immer noch von wirbelnden Farben umgeben, aber wir scheinen stabil im Raum zu stehen. Es ist ein seltsames Gefühl. Meine Mutter hält mir ihre Hand hin. Ich nehme sie, es geht mir viel besser, jetzt bin ich bereit, mit ihr zu reden. Sie führt mich nun gezielt durch die Farben, es wirkt, als wolle sie an einen bestimmten Ort. Wir landen im Wald, es ist bereits dunkel, also fällt es mir erst schwer, etwas zu erkennen.
«Kaia, das ist dein Kopf, der dir sagt, wie viel du jetzt sehen darfst. Schau einfach mit dem Herzen.» Mein Kopf versteht nicht, dafür mein Herz. Vor mir sehe ich den grossen weissen Wolf, Irven, er ist am Boden eingerollt und an seinem Rumpf liegt eine kleine Gestalt und schläft tief und fest. Es ist Kiran und mein Herz macht einen Salto rückwärts vor Freude. Meine Mutter beginnt zu reden:
«Es geht ihm gut, siehst du, Irven zeigt ihm, was er essen kann und was nicht, sorgt dafür, dass er regelmässig trinkt. Aber Kiran muss seinen eigenen Weg finden, genau wie du, Kaia.»
«Den Weg wohin?», frage ich verwirrt. Sie lächelt nur, das heisst, dass sie es mir nicht verraten wird. Ich will mich jetzt nicht nerven, also versuche ich, es einfach sein zulassen.
«Kaia, es ist wichtig, dass du dich möglichst schnell auf den Weg machst.» «Aber ich bin eingesperrt Mama, wie soll ich da bitte weg?» Sie richtet ihren Blick direkt auf mich.
«Vielleicht hilft dir Darian dabei. Wer weiss, ob er nicht auch für sich Antworten finden wird, wenn er dich begleitet.» Sie lächelt wissend.
«Weisst du denn auch, wie ich das bitte anstellen soll und wie ich es schaffe, dass Fynn in Sicherheit bleibt?»
«Du kannst nicht alles kontrollieren, Liebes. Triff deine Entscheidung und Fynn wird seine treffen, das liegt nicht in deiner Macht.» Diese Antwort frustriert mich nun doch. Ich weiss, dass ich nicht alles kontrollieren kann, aber was soll ich machen, ich will Fynn nicht in Gefahr bringen, auch wenn es so aussieht, als würde von diesem Wolfsriese keine akute Gefahr ausgehen. Eine düstere Wolke umgibt mich und blockiert meine Kreativität, die ich bräuchte, um eine Lösung in Bezug auf Darian zu finden. Also frage ich meine Mutter:
«Und was soll ich bitte mit Darian anstellen?»
«Fühlt er sich nicht auch ein bisschen eingeengt in der Stadt?», fragt sie unschuldig. Jetzt fällt mir etwas auf.
«Mama, woher weisst du das? Sag mal, stehst du die ganze Zeit da und lauschst?»
Sie lächelt und antwortet: «Nein, Liebes, ich bekomme hier anders Informationen als ihr. Das ist alles in eurem Energiefeld, dort kann ich es ohne Probleme lesen.» Das übersteigt leider ein wenig meine Vorstellungskraft. Aber es wird wohl seine Richtigkeit haben. «Liebes, ich lasse dich jetzt noch eine Zeitlang treiben, vielleicht hast du noch eine inspirierende Idee.»
Ein letzter Blick auf Kiran wird mir gegönnt, dann wirbeln die Farben wieder um mich. Ich habe plötzlich ein Bild vor mir, es ist Darian, er steht da auf einer Klippe und sieht über das weitläufige Land, dann breitet er die Arme aus und im Sprung wird er zum Adler und fliegt in die Freiheit davon.
Mit diesem Bild vor Augen erwache ich. Ich weiss, was sein Antrieb ist, seine grösste Versuchung.
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