5 - Geschenk aus einer anderen Zeit
Ich gehe auf Kiran zu, ich fühle mich, als stünde ich neben meinem Körper und beobachte die Szene von aussen. Mein Körper ist komplett taub. Nur meine Gedanken sind wie gesprengt und drehen wild. Was tut er hier, wie ist er hier hingekommen, träume ich? Doch als ich näherkomme, sehe ich, dass es kein Traum sein kann. Mein kleiner Bruder kommt mit seinen genauso kleinen Beinen und einer Freude im Gesicht auf mich zugestürmt. Wild springt er mir in die Arme.
«Ich habe dich eingeholt, ich habe dich wirklich eingeholt», japst er an meinem Ohr. Ich klammere mich an ihm fest. So fühlt es sich etwas weniger an, als würde mir der Boden unter den Füssen weggezogen. Mein Herz rast und ich bin ausserstande, auch nur einen Ton zu erwidern. Ich streiche ihm über den Kopf, nach wie vor halte ich ihn fest an mich gedrückt.
Langsam komme ich wieder zur Besinnung.
«Kiran, was um Himmelswillen tust DU hier?», frage ich ihn völlig atemlos. Er löst sich leicht von mir und schaut schuldbewusst.
«Ich hatte Angst, dass dir etwas zustösst. Es gibt hier Dinge, die du nicht weisst. Ich musste dir nachgehen.»
«Aber wie bist du hierhergekommen, wie hast du mich gefunden? Nicht einmal ich wusste, wo ich genau hinmuss», frage ich weiter.
«Ach das war nicht so schwierig, ich kann dich doch spüren. Du bist wie ein Magnet, daher musste ich nur dem Gefühl folgen. Es war aber sehr anstrengend, zum Glück hast du eine Pause gemacht.» Ich sehe, dass er erschöpft wirkt und ich würde mich am liebsten selbst in den Hintern treten. Wie konnte ich nur einschlafen?
«Wie konnte er dich nur entwischen lassen», schimpfe ich stattdessen vor mich hin.
«Kaia, ich will mit dir mitkommen. Hilft uns das, Papa zurückzubekommen? Deshalb bist du doch hier, oder?» Plötzlich wird mir klar, dass er gelauscht haben muss.
«Du hast gelauscht, stimmts?», konfrontiere ich ihn. Schuldbewusst und mit grossen Augen sieht er mich flehend an. Er möchte unbedingt dabei sein und ganz ehrlich, es fällt mir auch nicht ein, wie wir die Situation sonst lösen sollten.
«Da ich dich wohl kaum allein zurückschicken kann, musst du mitkommen.» Ein scheues Lächeln beginnt in seinem Gesicht Überhand zu nehmen. «Aber du musst genau das tun, was ich dir sage. Also wenn ich sage, lass mich zurück, wirst du das tun. Verstanden?» Das Lächeln ist wieder weg und er nickt betreten.
«Ich hätte gerne eine richtige Antwort», erwidere ich unerbittlich.
«Ja, ist gut, ich werde das tun, was du sagst», antwortet er bedrückt. Es ist nicht zu übersehen, dass er inständig hofft, dass nichts dergleichen geschehen wird.
«Hast du etwas gegessen?», frage ich ihn. Er schüttelt mit seinem Kopf, um zu verneinen. Also hole ich meinen Rucksack nach vorne und packe meinen Proviant wieder aus. Er greift danach und isst gierig. In der Zeit erkläre ich ihm, dass ich vorhabe, in die Ruine und in die sich dahinter befindende Höhle zu gehen.
«Und ja, wie du sicherlich auch gehört hast, habe ich davon geträumt», ergänze ich gleich, bevor er danach fragen kann. Jetzt lächelt er glücklich und zufrieden. Mein Herz wird gleich wieder wärmer. Ich kann ihm einfach nicht widerstehen.
Als er fertig ist, packe ich alles wieder ein und wir machen uns gemeinsam auf den Weg. Die Ruine ist relativ unspektakulär. Man kann noch erkennen, dass es einst ein schönes Gebäude gewesen sein muss. Von wem das alles erbaut wurde, erschliesst sich mir nach wie vor nicht ganz. Aber vielleicht werde ich des Rätsels Lösung noch finden.
Durch die Ruine und das Blätterdach verborgen, gelangen wir zur Höhle. Sie wirkt nicht bedrohlich. Also gehen wir gelassen hinein. Anfangs ist es noch ein wenig düster. Doch wir gelangen bald in den ersten grösseren Raum, welcher von einem sanften, kaum greifbaren Licht erfüllt ist. Ich kann keine einzelne Lichtquelle entdecken. Dennoch lässt sich alles gut erkennen. Hier sind bereits die ersten Malereien an den Höhlenwänden und Mosaike in den Nischen zu bestaunen.
Was ich sehe, macht mich fassungslos, denn es ist alles identisch mit dem, was ich in meinen Träumen sah. Aus diesem Grund weiss ich jedoch genau, wo ich hinmuss. Mit weniger Hemmung als zuvor, gehe ich weiter. Kiran folgt mir dicht auch den Fersen.
Dann stehen wir vor dem Eingang zum Raum mit dem Sockel in der Mitte. Wie in Trance gehe ich auf das Steingebilde zu. Auch hier strahlt die darauf stehende goldene Schale in einem Licht, das ich noch nie zuvor von irgendeiner Lichtquelle von uns gesehen habe. Kiran folgt mir immer noch. Mit der Hand weise ich ihn an, stehen zu bleiben. Er befolgt, wie versprochen, meine Anweisung. Ich gehe indes weiter auf den Sockel zu. Davor angekommen, sehe ich direkt in das Licht. Es schmerzt nicht in den Augen, aber es ist ein wenig gedämpfter als im Traum. Im Traum war es noch viel heller und schöner.
Ich weiss, dass ich wieder in das Licht greifen soll. Beim ersten Kontakt beginnt mein Arm auf sanfte Art zu kribbeln. Eine Wärme fliesst in meinen Körper und erfüllt mich von innen heraus. Ich greife tiefer in die goldene Schale hinein.
Meine Finger umschliessen einen kleinen Gegenstand, er fühlt sich kühler und glatt an, dennoch ist er irgendwie warm. Ich nehme ihn in die Hand. Beim Zurückziehen der Hand beginnt sich etwas in meinem Körper zu verändern. Er wird ein wenig steif und ich gleite von ihm weg. Ich werde rückwärts aus der Höhle gezogen.
Gerade sehe ich noch meinen Bruder und mich von weitem, als wir auch schon verschwinden. Dabei verändert sich auch sonst alles um mich. Es ist, als würde der Stein und die Zeichnungen frischer, jünger und lebendiger werden. Dann bin ich draussen, ich sehe alles aus der Luft von oben herab und trotzdem ganz nah. Unter mir sind drei kleine Häuser um die Wiese vor der Höhle und deren prächtigen Eingang.
Die Ruine ist nicht länger eine Ruine, sondern tatsächlich ein wunderschönes Gebäude. Es ist einladend und verströmt eine sanfte und liebevolle Energie. Es passt perfekt in die natürlichen Gegebenheiten hier.
Eine Bewegung erregt meine Aufmerksamkeit, ich sehe menschliche Gestalten. Sie sind uns sehr ähnlich. Alle fünf haben blondes, mehr oder weniger langes, glattes Haar und helle blaue Augen. Ausserdem wirken sie grösser als wir, vermutlich an die zweieinhalb Meter oder noch etwas grösser. Sie wirken wie eine Familie, darunter ist auch eine Frau, die älter zu sein scheint als die anderen. Dennoch strahlt sie eine Jugendlichkeit aus, die nur wenige bei uns in der Stadt haben und auch ihr Körper ist kaum von den Jahren gezeichnet. Alle fünf tragen helle Kleidung, sie wirkt, als wäre sie aus weichem Garn. Die Sandalen passen ihnen wie angegossen.
Mein Blick bleibt nun an einem der drei Häuser hängen. In der Mitte des Dachs hat es zu allen Seiten hin Löcher, die von oben kaum zu erkennen sind. Doch es steigt Rauch aus ihnen hervor und verrät ihre Existenz. In dem Moment öffnet sich die Tür des Hauses und ein junger Mann kommt nach draussen. Er spricht in einer Sprache, die ich nicht verstehen kann. Doch es muss eine gute Botschaft sein, denn seine Freude strahlt über sein ganzes Gesicht.
In den Händen hält er einen sehr kleinen Gegenstand. Er schimmert in einem warmen silbrigen Weiss, mit leichten Nuancen von Gold und Rosa. In der Mitte befindet sich eine Art Stein. Doch er ist sehr seltsam, irgendwie kann ich alle Farben darin erkennen. Wie kann das sein?
Der junge Mann übergibt das kleine, ich würde sagen Schmuckstück, der älteren Frau. Diese beginnt es genau zu prüfen. Als sie den Blick von dem kleinen Ding hebt, schaut sie nicht den jungen Mann an, sondern sie blickt zu mir. Sie sieht mir genau in die Augen und lächelt. Ich kann nicht sehen, ob mich die anderen auch anblicken oder nicht, ich bin von ihrem Blick gefangen. Sie blinzelt und in dem Moment bin ich zurück in dem Raum mit dem Sockel.
Ein Schauer fährt durch mich hindurch. Ich halte nun genau das kleine Schmuckstück in meiner Hand, dessen Fertigstellung und Prüfung ich eben beobachtete. Der Unterschied ist nur sehr gering, denn es hängt nun an einer feinen Kette. Ich kann nun auch dessen Form erkennen. Es ist ein Oval, nach oben hin ein wenig länger als es breit ist. Der Stein in der Mitte ist ebenfalls oval und fliesst förmlich in das Metall hinein. Es ist keine Stelle zu erkennen, an der die zwei Teile mechanisch zusammengefügt oder geklebt wurden. Es wirkt, als wären es keine zwei Teile, sondern eines.
Doch nun fällt mir noch was auf, der Stein, den ich vorhin gesehen hatte, beinhaltete alle Farben, dieser hier ist schwarz. Es wirkt dennoch, als enthielte er mehr, aber ich kann nur das Schwarz sehen. Noch immer kommt Licht aus der Schale, doch ich weiss instinktiv, dass ich gefunden habe, wonach ich suchte. Noch berauscht von dem Erlebten und dem kleinen Schmuckstück, welches warm in meiner Hand liegt, drehe ich mich zu Kiran um. Dieser beobachtet mich mit leuchtenden Augen. Er weiss, dass er jetzt sprechen darf.
«Kaia, das war gerade überwältigend. Das Licht hat dich für einen kurzen Moment komplett eingehüllt. Es ist kaum Zeit vergangen, aber ich glaube, du warst komplett an einem anderen Ort.» Woher hat er nur diese Überzeugung in der Stimme, frage ich mich.
«Ja, ich habe da etwas gesehen. Ich habe Menschen gesehen, also sie waren uns auf jeden Fall sehr ähnlich. Sie haben hier gelebt und dieses Schmuckstück gemacht», ich zeige ihm den Anhänger. Seine Augen werden noch grösser.
«Oh Kaia, das ist wunderschön und es gehört dir. Du solltest es finden.» Ich weiss nicht, was ich darauf antworten soll, denn es fühlt sich wirklich so an.
Kiran und ich verlassen ruhig und beeindruckt die Höhle. Auch wenn hier draussen von den Häusern nichts mehr zu sehen ist, weiss ich nun, dass sie einst da waren. Ausserdem ist nun endgültig klar, dass vor uns schon Menschen hier gelebt haben. Ich nenne sie Menschen, mir fällt kein besserer Begriff ein, denn genau genommen sind wir die Fremdlinge hier. Zurzeit weist allerdings nichts darauf hin, dass diese Menschen noch hier und am Leben sind. Was wohl mit ihnen geschehen sein mag und hat mich diese Frau wirklich gesehen?
Wir setzen uns einen Moment ins Gras und ruhen uns aus. Die Sonne steht schon hoch, die Zeit schien anders vergangen zu sein, als wir in der Höhle waren. Ich entschliesse mich, den Anhänger um den Hals zu legen. Nun liegt er warm auf meinem Brustbein, tief in meinem Ausschnitt, wo ihn keiner sehen sollte. Meine Shirts sind nie tief ausgeschnitten. Ein paar in meinem Jahrgang verändern ihre Kleider gerne und wollen sich und ihre Attraktivität damit hervorheben, sowas liegt mir nicht. Meine Gedanken kehren zurück zu Kiran und mir im Wald.
«Kiran, wir trinken und essen jetzt etwas und dann machen wir uns auf den Weg zurück. Fynn ist bestimmt ausser sich vor Sorge und morgen wird er auf jeden Fall den Wächtern Bescheid geben. Es wäre besser, wenn wir das vermeiden können.» Kiran nickt und nimmt seine Wasserflasche hervor. Auch die Essensvorräte neigen sich dem Ende. Wir entscheiden uns, den Rest aufzuessen. Gesättigt und von der Sonne gewärmt, sind wir eigentlich zu lethargisch, um uns zu bewegen. Doch uns bleibt keine Wahl, also stehen wir auf.
In dem Augenblick hören wir etwas zu unserer rechten Seite aus dem Gebüsch hervortreten. Die Lethargie ist blitzartig weg, denn vor uns steht ein riesiger weisser Wolf. Mein Herz beginnt seine Arbeit und jagt das Blut durch meine Adern, ich versuche Kirans Hand zu packen, ohne den Blick vom Wolf zu wenden. Hinter uns liegt die Ruine und die ist mein Ziel. So gross wie dieser Wolf ist, sollte er nicht so einfach in die hinteren Teile der Höhle kommen.
Doch Kiran ist nicht neben mir. Meine Hand greift ins Leere. Hastig blicke ich mich um, Kiran hat blitzschnell die halbe Strecke zum Wolf hinter sich gebracht.
«KIRAN...!», schreie ich hinter ihm her. Sofort setze ich mich in Bewegung, auch wenn sich alles in mir dagegen wehrt, diesem Ungetüm auch nur einen Millimeter näher zu kommen. Ich bin grösser und schneller als Kiran, also habe ich ihn innert Sekunden eingeholt.
«Kiran, komm schnell weg», schreie ich ihn wieder an. Doch er rührt sich nicht. Sein Blick löst sich vom Wolf und ich sehe keine Spur von Angst darin.
«Kaia, das ist mein Freund, er ist nicht gefährlich. Er ist uralt und weise und besucht mich in meinen Träumen schon seit ich ganz klein bin.»
«Kiran, können wir in der Höhle darüber reden? Komm schon...» Ich versuche ihn wegzuzerren und obwohl ich zigmal stärker bin als er, bewegt er sich kein Stück. Ich versteh die Welt nicht mehr.
«Kaia, hör zu, Irven hat gesagt, dass ich mit ihm gehen muss. Es ist sehr wichtig, hat er gesagt.»
Irven, soll das etwa der Name dieses Ungetüms sein? Wobei sich langsam der Gedanke in meinen Kopf schleicht, warum wir nicht schon lange tot sind. Ich müsste gerade mein Leben an mir vorbeiziehen sehen. Doch das schiebe ich gleich wieder weit weg und konzentriere mich auf meinen Bruder. Mit genügend Willenskraft kann ich ihn vielleicht fortzerren oder ich nehme ihn einfach hoch auf die Schulter.
Das versuche ich, doch Kiran, als ob er es geahnt hätte, entwischt meinem Griff flink und geht weiter auf den Wolf zu. Ich renne ihm nach, immer langsamer werdend, denn dieser Wolf überragt mich immer weiter und sein Blick liegt genau auf mir. Kiran hat ihn erreicht und klettert an seinem Fell hoch auf dessen Rücken. Ich verliere sämtliche Spannung im Körper.
«Kaia, mach dir keine Sorgen, wir sehen uns wieder, das verspreche ich dir.» Damit verschwindet der Wolf mitsamt meinem Bruder.
Die Welt wird schwarz um mich herum und ich spüre noch den harten Boden unter mir. Dann nehme ich nichts mehr wahr.
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