10 - Der Anfang ist die Reise
Es dauert bis zum frühen Abend, Fynn muss bereits seit einiger Zeit aus der Schule sein, bis er zu uns kommt. So wie er reinkommt, wirkt er, als hätte er mindestens 20kg mehr Körpergewicht. Ich muss lachen, als ich ihn so sehe. Ich vermute, dass er Rucksäcke unter seiner Jacke versteckt hat, damit er nur ja nicht auffällt. Also er ist zumindest durch die Kontrollen gekommen, aber das mit dem Nicht-Auffallen...
Lassen wir das mal so stehen. Ich muss immer noch lächeln. Darian schliesst gleich die Zelle auf. In der Zelle blickt Fynn unsicher zu Darian.
«Ist in Ordnung, er weiss Bescheid.» Fynn nickt misstrauisch, lädt aber die Rucksäcke auf meiner Pritsche ab. Ich hatte Recht, es sind zwei davon und sie sind dick gefüllt, die Jacke ist die von seinem Vater, der nicht nur gross ist, sondern auch einen etwas grösseren Bauchumfang hat.
«Ich habe noch das hier dabei. Ich weiss nicht, ich habe dich im Unterricht gespürt und hatte das Gefühl, du würdest diese Salbe wollen», meint Fynn. Eine Woge der Freude und Zuneigung überkommt mich. Ich umarme ihn stürmisch.
«Ich bin dir so unendlich dankbar Fynn. Genau die brauche ich.» Er wirkt etwas überrumpelt, schliesst mich dann aber fest in seine Arme. In meinen Haaren nuschelt er: «Du hast mir so gefehlt. Ich kann es kaum erwarten, dass wir losgehen.»
Es ist wie ein Schlag in meine Magengrube. Langsam und vorsichtig löse ich mich von ihm, dabei kommt er an eine offene Stelle an meinem Rücken. Ich verziehe das Gesicht. Er schiebt mich weg von sich und hält mich an den Schultern.
«Was ist los, bist du verletzt?»
«Ja...Fynn, ich muss dir etwas erzählen. Bitte hör mir zu bis zum Schluss.» Ich habe das Gefühl, einen riesigen Klotz Eis in meinem Magen zu haben. Doch ich erzähle Fynn, was heute geschehen ist. Er wird immer blasser und sieht abwechselnd von mir zu Darian und wieder zu mir.
«Zeig mir deinen Rücken», weist er mich am Ende meiner Erzählung an. Ich war zwar noch nicht am Ende angekommen, aber ich folge ihm. Ich drehe mich um und ziehe mein Shirt erneut hoch. Er flucht leise vor sich hin.
«Halt still», sagt er sanft zu mir. Dann nimmt er die Salbe seiner Mutter und schmiert damit die offenen Stellen ein. Meine Haare stellen sich bei seinen sanften Berührungen auf und ich schnappe kurz nach Luft.
«Entschuldige», sagt er, weil er meint, dass er zu grob zu mir war. Ich lass es dabei, alles andere ist mir unangenehm und ich kann es auch nicht erklären. Während er meinen Rücken pflegt, steht Darian mit dem Rücken zur Wand und tut so, als würde er nicht zuhören oder zusehen. Ich kann spüren, dass dem nicht so ist. Ich hole nun Luft, um das loszuwerden, was mir die schlimme Übelkeit verursacht.
«Fynn, ich habe Angst, bitte bleib hier in der Stadt. Darian kann mich begleitet, er hat vorhin seine Hilfe angeboten. Er kennt sich draussen ein wenig aus.» Ich merke, wie die Hand an meinem Rücken innehält. Dann dreht er mich um. Ich sehe sein Entsetzen im Gesicht. Bevor er etwas erwidern kann, versuche ich mich weiter zu erklären.
«Fynn, ich brauche dich hier. Ich muss wissen, dass wenigstens du in der Stadt bist. Du musst mir sagen, wenn etwas läuft, das für uns draussen zum Problem werden kann. Ich will und darf dich da draussen nicht verlieren so wie Kiran. Das weisst du. Und sie werden dir nichts tun. Deine Eltern werden dich schützen können. Bitte vertraue mir.» Ich versuche schnell zu reden, erstens, weil ich kaum Luft bekomme und zweitens, damit mich Fynn nicht unterbrechen kann. Er sieht immer noch unglücklich aus, ich nehme sein Gesicht sanft zwischen meine Hände und sehe ihm direkt in die Augen. Dort erkenne ich, dass er meine Gedanken wenigstens nachvollziehen kann.
«Aber wie soll ich dir bitte etwas mitteilen, wenn du weg bist.» Ein bisschen Hoffnung keimt in mir auf, vielleicht schaffe ich es, seine eine Hand liegt auf meiner und drückt sie auf seine Wange.
«Du hast mich doch heute in der Schule gespürt, oder? Und du hast meine Nachricht empfangen. Ich bin sicher, dass du das auch bei mir tun kannst.»
«Und wie geht das, wenn ich fragen darf?», erwidert er mit leichtem Frust in der Stimme und entzieht sich meiner Berührung.
«Du musst dein Herz öffnen, lass alle Gefühle, die du für mich empfindest, einfach fliessen. Dann lässt du dich von dieser Verbindung zu mir führen. So mache ich das auch mit Kiran und meinem Vater.» Während ich rede, sehe ich, wie Fynn eine leichte Röte ins Gesicht steigt.
«Wenn ich hierbleibe, musst du mir versprechen, dass du mir jeden Abend mitteilst, wie es dir geht», sagt er nun in bestimmendem Ton zu mir, «ich glaube, dass ich es schaffen werde, die Verbindung aufzubauen.» Ich lächle ihn warm an, dann umarme ich ihn nochmals.
«Du wirst mir so fehlen», flüstere ich ihm ins Ohr. Tränen steigen mir in die Augen vor lauter Gefühle. Ein paar davon schaffen es, sich einen Weg nach draussen zu bahnen und landen auf Fynns T-Shirt. Während er mich hält, dreht er den Kopf zu Darian und sagt: «Du wirst sie mit deinem Leben beschützen, allein musst du mir nicht unter die Augen kommen. Das würdest du nicht überleben.» Ich höre an seiner Stimme, dass es ihm todernst ist und muss trotz den Tränen lächeln. Fynn gegen Darian, das wäre bestimmt spannend mit anzusehen. Doch ich halte mich raus. Darian erwidert: «Keine Sorge, ich werde auf sie achtgeben.»
Nach einer Weile verabschieden wir uns. Ich kann nichts machen, aber es fühlt sich jetzt schon an, als würde ein weiterer Teil von mir fehlen. Dennoch spüre ich die innere Zufriedenheit, zu wissen, dass Fynn hier in Sicherheit vor unbekannten Gefahren ist. Die Wächter werden sich nicht erlauben, ihn hart zu strafen. Seine Eltern sind wichtige Teile der Gesellschaft. Das wird ihm einen gewissen Schutz geben. Darian und ich vereinbaren, dass wir warten, bis es Nacht ist und dann via Nordmauer, also an der Stelle, wo ich letztes Mal raus bin, die Stadt verlassen. Ich winke Darian zu mir.
«Komm, ich creme dir den Rücken auch ein, bei dir dürfte es noch schlimmer sein als bei mir.»
Er folgt wortlos meiner Aufforderung und zieht sein Shirt aus. Sein Rücken sieht schlimm aus. Das kann noch lustig werden mit den schweren Rucksäcken. Vorsichtig creme ich die roten und offenen Stellen ein. Auch er schnappt nach Luft und ich entschuldige mich dafür, dass ich so grob war.
«Ist schon gut. Nicht schlimm», antwortet er. Ich spüre ein leichtes Prickeln in meinen Fingerspitzen an den Stellen, wo ich seine Haut berühre. Dann bin ich fertig. Nun müssen wir warten. Darian holt noch das Abendessen, diesmal brav in der Kantine. Wir beide essen es, auch wenn es uns nicht schmeckt. Es wäre nicht klug, hungrig loszugehen.
Wir schweigen und packen noch die wenigen Habseligkeiten ein, die wir hier haben. Das Traumbuch meines Vaters, Kleider und meine Seifen, sowie die Zahnbürste und deren Zubehör. Dann setze ich mich auf die Pritsche und kontrolliere nochmals Kiran. Es geht ihm gut und er ist immer noch in der Richtung unterwegs, die wir einschlagen wollen. Es wirkt, als wären sie langsam unterwegs. Vielleicht schaffen wir es, sie bald einzuholen.
Es ist bereits seit einiger Zeit sehr still im Gebäude. Darian kommt zur Tür und schliesst sie auf.
«Wollen wir?», fragt er grinsend. Die Vorfreude auf das Abenteuer und die Freiheit stehen ihm ins Gesicht geschrieben und sind ausserordentlich ansteckend.
«Ja, ich bin bereit», antworte ich mit derselben Freude. Ich schwinge den schweren Rucksack auf meinen Rücken und verziehe kurz das Gesicht. Darian hat ihn bereits auf, er muss es sicherlich auch spüren. In dem Moment fühle ich innerlich einen feinen liebevollen Stupser. Es ist Fynn. Ich zeige ihm, dass ich ihn wahrgenommen habe und wir jetzt losgehen. Eine Mahnung zur Vorsicht kommt zurück. Er wird wahrscheinlich diese Nacht kein Auge zu tun.
Darian geht voraus und kontrolliert den Weg. Da er für diesen kontrollsüchtigen Verein tätig war, weiss er genau, wo wann Wache gehalten wird. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis wir aus dem Gebäude raus sind. Wir müssen immer wieder warten, bis eine Wache sich weiterbewegt hat. Eigentlich ist es komisch, dass für dieses Gebäude so ein Aufwand betrieben wird. Vom Volk geht keinerlei Bedrohung aus. Als wir endlich aus dem Gebäude sind, fallen wir beide in einen leichten Laufschritt. Unser Ziel ist nach wie vor der kleine Baum, der mir letztes Mal schon seinen Dienst erwiesen hat. Dabei kommen wir an meinem Haus vorbei, es ist leer und so fühlt es sich auch an. Fynn hat mir die wichtigen Dinge bereits mitgebracht und der Rest meiner Familie ist da draussen. Dort, wohin ich auch gerade im Begriff bin, zu gehen.
Beim Baum angekommen, hilft mir Darian über die Mauer, er folgt mir gleich darauf. Wieder einmal bin ich schwer erfreut, wie einfach es ging, aus der Stadt zu kommen. Wir schlagen einen nordwestlichen Kurs ein, denn das ist die Richtung, in der ich Kiran spüre. Wir gehen ohne Licht, heute ist die Nacht dunkler und wir müssen vorsichtig sein. Wir kommen daher nur langsam voran. Dennoch machen wir keine Pause. Es ist unser grösstes Anliegen, so schnell es geht so viel Abstand zwischen uns und diesen Ort zu bringen wie möglich. Ich kann zurzeit auch nicht abschätzen, ob sie sich auf die Suche nach uns machen werden. Eigentlich dürfte es sie nicht stören, wenn wir weg sind. Aber ich verstehe diese Menschen nicht wirklich. Daher kann ich auch schlecht nachvollziehen, wie sie handeln werden.
In mir breitet sich ein gutes Gefühl aus. Ich bin zufrieden, wieder im Wald und der Natur zu sein. Den Anhänger an meiner Kette spüre ich an meiner Brust, er ist ganz warm.
Nach einer Weile erreichen wir eine Anhöhe, von hier sehen wir über das ganze Stadtgelände. Es ist beeindruckend. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es ist der Augenblick, in welchem ich dem blonden Mann von Herzen danke. Ich weiss, er hat mich geführt und geschützt.
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