9 - Leblose Erde
Einige Zeit später stehe ich ausserhalb der Stadt und spüre, wie mir schon allein das, ein Gefühl von mehr Atemkapazität gibt. Meine Lungen füllen sich glücklich mit Luft. Ich werde bereits von einer Frau erwartet, die schon seit Jahren auf den Feldern das Sagen hat. Gemäss meinen Informationen war sie bereits auf der Arche unter anderem für die Pflege der Nahrungsmittelpflanzen verantwortlich. Sie soll dementsprechend einen riesigen Erfahrungsschatz haben.
Dennoch erkenne ich sofort die Sorgen, die sie plagen. Allein ihr gehetzter Blick, sowie die angespannte Körperhaltung sprechen Bände. Sie scheint enorm unter Druck zustehen, weil die Ernten immer schlechter werden. Ich realisiere, dass sie für mich eine wichtige Schlüsselfigur sein wird. Ein Wächter führt mich zu ihr.
«Die hier ist deine neue Arbeitskraft. Du musst gut auf sie achtgeben. Sie darf nie allein hier draussen sein. Klar?», weist er sie in schroffem Ton zurecht, obwohl sie einiges älter ist als er und genau genommen auch einen höheren Stand in der Gemeinschaft haben sollte.
Doch anscheinend stehen die Wächter nun über allen und werden direkt von den Führern geleitet. Genauer gesagt von Maurus, denke ich für mich düster.
«Natürlich habe ich das verstanden», erwidert sie ebenfalls ziemlich schroff.
Ihre Haltung lässt klar erkennen, was sie von dem Wächter hält. Dann wendet sie sich an mich: «Ich bin Ingrid, du musst Kaia sein. Willkommen. Hier wird hart gearbeitet. Ich hoffe, du verstehst die Wichtigkeit unserer Tätigkeit hier.»
Sie hat einen strengen Unterton in ihrer Stimme und dennoch spüre ich, dass sie mir nicht gänzlich abgeneigt zu sein scheint. Aber ich werde zeigen müssen, dass ich arbeiten kann. Sie erwartet keine Antwort von mir, also nicke ich nur und lasse mich von ihr durch die Anlage führen.
«Leider haben wir seit vielen Mondzyklen schlechte Ernten und nichts wächst mehr, wie zuvor. Auch das Wetter spielt komplett verrückt. Wenn das so weitergeht, weiss ich nicht, wie wir hier weiter überleben sollen.»
Eine Pause entsteht, in der sie tief in Gedanken zu versinken scheint. Als sie daraus zurückkehrt, erzählt sie mir frei weiter, wobei ich das Gefühl habe, dass ihr nicht mehr wirklich bewusst ist, wem sie das alles erzählt.
«Ich habe bereits Stunden in Nachforschung investiert. Alle die alten Techniken, die auf der Erde verwendet wurden. Doch hier scheint nichts davon funktionieren zu wollen. Ausserdem fehlen natürlich teilweise auch die Möglichkeiten technisch alles umzusetzen. Aber wem erzähle ich das. Hast du deine Finger schon mal in die Erde gesteckt Kind?», fragt sie nun.
«Nein, nicht in diesem Sinne», beschränke ich meine Antwort. Ich werde ihr Vertrauen erst erarbeiten müssen.
«Dachte ich mir schon», antwortet sie, während sie die Augen verdreht. «Du kannst heute mit der Gruppe da drüben arbeiten, die bereiten den Boden vor, damit wir später aussähen können. Wenn es nur nicht wieder so regnet. Los, geh schon», scheucht sie mich eilig weg.
Schnell habe ich die Gruppe erreicht, der ich zugewiesen wurde. Mir graut es, als ich den Boden unter meinen Füssen wahrnehme und ihn mir dann genauer ansehe. Er scheint völlig leblos zu sein. Es ist offensichtlich, dass wir hier die Erde so lange lockern können, wie wir wollen. Das wird nichts ändern. Der Zustand des Bodens ist der eindeutige Beweis dafür, dass ich hier genau richtig bin.
Meine Hände werden von einem angenehm gespannten Kribbeln erfasst. Stetig wie ein Strom, fliesst die Energie in mich und verstärkt den Drang meine Hände sozusagen in die Erde zu graben. Auch in meinen Füssen kann ich es wahrnehmen. Überall wo ich den Boden berühre, scheine ich eine Antwort von ihm zu bekommen, als würde er langsam aus einem tiefen Schlaf erwachen.
Mit jedem weiteren Schritt entsteht vor meinem inneren Auge das Bild, dass um meine Füsse, die Pflanzen nur so aus dem Boden zu spriessen beginnen. Ihr Wachstum ist dabei enorm beschleunigt. Freude flutet mich bei diesen Eindrücken, auch wenn mir bewusst ist, dass es vorerst nicht so schnell gehen wird. Doch mit meinem ersten Schritt hier, hat die Revitalisierung unweigerlich begonnen.
Ein sofortiges hervorschiessen von so vielen Pflanzen wäre unserer Aufgabe auch nicht wirklich zuträglich. Es würde die anderen überfordern und im schlimmsten Fall sogar ängstigen.
Gerne lasse ich mir also von ihnen meine Arbeit erklären, als ich zur Gruppe stosse. Auch die dafür nötigen Geräte habe ich schnell in den Fingern. Am Ende unterscheidet meine Arbeit nur die weniger erfahrenen Handgriffe und die Tatsache, dass ich die Erde nochmals mit meinen Händen auflockere. Dabei fliesst noch mehr der Energie zurück in den Boden.
Es fasziniert mich, jedes einzelne Energiemolekül unter mir zu fühlen. Ich versuche mich dabei soweit zu kontrollieren, dass sich meine Gefühle nicht in Tränen entladen. Dennoch muss ich sie hin und wieder aus meinen Augen blinzeln. Während wir arbeiten, verfliegt die Zeit. Hätten mich die anderen nicht mit zum Mittagessen genommen, wäre ich ohne Pause den ganzen Tag auf den Feldern geblieben. Meine Vision von den Feldern wird mit jeder Minute, in der ich dort arbeite, klarer und vielseitiger.
Das gemeinsame Mittagessen ist karg und die Stimmung ebenfalls ziemlich gedrückt. Also versuche ich einfach bei mir zu bleiben. Mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und wenn mich jemand ansieht, lächle ich zurück. Einige irritiert mein Lächeln, doch es die beste Möglichkeit, mit der Situation umzugehen.
Am Nachmittag arbeiten wir bis es eindunkelt weiter. Anschliessend kehre ich mit der Gruppe zurück in die Stadt. Sofort legt sich diese Klammer wieder um meine Brust und erschwert mir das freie Atmen.
Meine Gedanken gleiten nun automatisch zu Kiran und Fynn. Ich freue mich, die beiden zu sehen. Es war ein langer Tag und obwohl ich körperlich hart gearbeitet habe und die Stimmung um mich konstant gedrückt schien, bin ich nicht erschöpft. Meine Arbeitskollegen hingegen wirken komplett erledigt. Mir ist klar, dass es mir nur nicht so geht, weil die Energie den ganzen Tag frei durch mich hindurchfliessen konnte. Das verhinderte, dass ich meine eigenen Ressourcen brauchen musste. Ich nehme einfach eine angenehme Entspannung in mir wahr, die mir versichert, wirklich den ganzen Tag aktiv gewesen zu sein.
In der Stadt selbst, darf ich mich wieder frei bewegen, also gehe ich zügig nach Hause. Kiran und Fynn sind sicherlich beide schon da. Die Schule dauert ja nie so lange. Ich kann die beiden in der Küche bereits hören, als ich hineinkomme. Kiran wirkt genauso energiegeladen, wie ich, obwohl dies wohl kaum der Verdienst der Schule ist. Kiran dreht sich schnell zu mir um und auch Fynn sieht mich an.
Sie fragen innerlich beide zeitgleich: «Wie war dein Tag?»
Ich lächle die beiden an und damit ich nicht alles in Worte fassen muss, lasse ich sie sehen, was ich gesehen habe und wie es sich angefühlt hat. Gleich darauf teilt Kiran seine Eindrücke auf dieselbe Weise.
Die anderen Kinder haben ihn freudig aufgenommen. Sogar seine Lehrer konnten nicht anders, als eine gewisse Herzlichkeit ihm gegenüber zu zeigen. Dennoch galten für ihn strengere Regel. Er durfte sich nie ausser Sichtweite einer Lehrperson befinden, ausser er musste sich erleichtern. Doch er schien, trotz seiner Abneigung, gut zurecht zu kommen. Auch er hat sich während des ganzen Tages nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Anschliessend ist Fynn an der Reihe. Ich bin äusserst gespannt, wo er heute seinen Tag verbracht hat. Im Gegensatz zu Kiran und mir, war das ja noch nicht so klar. Fynn erzählt uns seine Erlebnisse direkt, während wir Essen. Es scheint in seinem Fall einfacher für ihn zu sein.
«Ich wurde am Morgen in das Verwaltungsgebäude gebracht. Dort hat man mir gesagt, dass ich die nächsten Tage erst einmal mit meinem Vater mitgehen sollte. Anschliessend werde ich einen Lehrer begleiten. Als letztes steht mir ein Arbeitsblock im Verwaltungsgebäude bevor. Das merkwürdige war, dass ich das Ganze von den Führern selbst mitgeteilt bekommen habe. Wahrscheinlich, weil sie mir nochmals klar machen wollten, wie wichtig meine Kooperation und mein Verständnis sei.»
An diesem Punkt legt er eine kurze Erzählpause ein und verdreht die Augen. Ich kann es gut nachempfinden.
«Das Gute war, dass dieser Maurus nicht im Raum war. Dem bin ich nur im Flur kurz begegnet und er ist und bleibt einfach schauerlich. Anschliessend bin ich zu meinem Vater und habe mit ihm den Tag verbracht. Also ich kann jetzt schon sagen, dass das einfach nicht mein Gebiet ist.»
Dabei erhalte ich doch noch einen kleinen Eindruck von ihm, wie er sich gefühlt hat. Ich kann nachempfinden, dass er das so nicht leben möchte.
«Ich glaube du wirst am Ende eine sehr flexible Aufgabe haben. Sowas wie ein Vermittler», sagt Kiran, nachdem er sich seine Worte genau zurechtgelegt hat.
Wir beide sehen ihn erstaunt an. Er zuckt nur mit den Schultern. «Es ist das was meiner Eingebung am ehesten entspricht.»
«Es klingt wirklich nach etwas, was zu dir passen würde», meine ich nachdenklich.
In dem Augenblick schiebt sich eine andere Empfindung in mein Bewusstsein. Sie lässt mein Puls schneller werden und auch meine Atmung beschleunigt sich. Die Klammern werden wieder deutlich spürbar.
Gepresst versuche ich meine Ängste zu teilen: «Was denkt ihr, wie lange wir hier sein müssen? Ich fühle mich gerade so eingesperrt.»
Fynn greift nach meiner Hand, lässt sie aber gleich wieder los und steht auf.
«Warte ich hole deine kleine Blüte.»
Schnell ist er wieder zurück mit der kleinen rosa Pflanze. Er stellt sie nah zu mir und setzt sich dicht neben mich. Mit seiner Hand streicht er mir beruhigend über den Rücken.
«Die Zeit wird schneller vorbei sein, als wir uns jetzt vorstellen können», sagt Kiran leise.
Umgeben von denen die mir neben Nyara am nächsten sind, beruhige ich mich langsam wieder. Doch ich kann spüren, dass noch etwas in mir schlummert. Ich nehme den Anhänger nach vorne und betrachte ihn. Das Dunkelblau ist immer noch dezent sichtbar, jedoch ist nun auch Braun als dominante Farbe zu erkennen. Ich schlucke schwer. Es ist ein Vorbote dafür, dass eine weitere Herausforderung vor mir steht. Da Fynn so dicht bei mir ist, sieht er es ebenfalls.
«Auch das werden wir zusammen überstehen», sagt er mir, wohlwissend, dass mir wieder mulmiger zumute ist.
Es hilft allerdings zu wissen, dass ich Kiran und Fynn um mich habe, die in denselben Prozessen sind, wie ich. So fühle ich mich nicht so allein. Nachdem wir das Abendessen beendet, ich mich beruhigt und wir alles weggeräumt haben, gehen wir zu Fynns Eltern. Mit seinem Vater zusammen bringen wir die restlichen und überschaubaren Besitztümer von Fynn zu uns ins Haus. Nachdem wir alles in sein Zimmer gebracht haben und uns von seinem Vater dankend verabschiedet haben, liege ich in meinem Bett im Dunkeln.
Fynn schläft bei sich im Bett und Kiran sowieso. Er schläft wahrscheinlich schon und streift mit Irven durch die Welten. Es macht mich unendlich glücklich zu wissen, dass er seinen Gefährten bei sich hat und die beiden so gut zusammen können. Langsam dämmere auch ich weg.
Nyara erwartet mich bereits. Ich freue mich sehr sie zu sehen. Sie informiert mich, dass sie gekommen ist, damit wir zusammen an meinem Wissen über Ahwagahwaen arbeiten können. Wichtig ist dabei auch das strukturellere Wissen. Die Beschaffenheit und Belebung der Erde, das Zusammenspiel der Wurzel und Pflanzen. Um uns herum manifestiert sich ein Ort, den Nyara und ich früher häufiger besucht hatten. Es handelt sich um ein wundervolles allein durch Pflanzen geschaffenes Gebäude. Dieses ist umringt von grossen natürlichen Gärten.
Es ist als würden sich all die Pflanzen hier sammeln, um sich auszutauschen, weiterentwickeln und sich dann wieder über den Planeten zu verteilen. Dabei handelt es sich nicht nur um essbare Pflanzen, sondern auch um Hilfspflanzen. Diese beleben den Boden oder gleichen das Milieu aus. Andere wiederum helfen, indem sie während ihres Abbaus wertvolle Nährstoffe und Licht zurück in die Tiefen des Erdreichs bringen. Eine eigene Welt, wenn man das so sagen möchte.
«Heute besuchen wir das Hauptgebäude, dort werden wir nochmals die wichtigsten Grundlagen durchgehen», teilt mir Nyara mit.
Ich bin einverstanden und sofort befinden wir uns in dem Haus. Unterschiedlichste Sträucher und kleine Baumarten haben sich so zusammengefügt, dass es dichte Wände gibt. Sie bilden einen perfekten Kreis. Darum wachsen diverse Kletterpflanzen mit teilweise wunderschönen Blüten, die zusammen vereint das Dach bilden. Im Innenbereich wachsen feine Moose, die weniger Lichteinfall benötigen und gut hier zurechtkommen. Zudem bilden sie eine optimale Sitzmöglichkeit für Besucher, die hier sind, um zu lernen.
Die Wände innen sind ebenfalls von Pflanzen durchzogen, die weniger Lichteinfall benötigen. Ihre Farbenpracht überwältigt mich daher noch viel mehr. Bewegt setze ich mich neben Nyara auf das weiche Moos. Sofort nehme ich auch hier, wie auf den Feldern schon, die enorme Verbindung zum Boden und dessen Leben wahr. Hier ist das Leben allerdings in vollem Gange. Ein kurzes Bild zieht in meinem Inneren an mir vorbei.
Ingrid, wie sie hier lernt und sich weiterentwickelt. Es ist eine völlig andere Ingrid als die, die ich heute kennengelernt habe. Sie leuchtet anders und wirkt ausgeglichen. Ihr Antrieb sind ihre Hingabe und Liebe zur Natur. So schnell wie das Bild kam, so schnell löst es sich auch wieder auf. Das bedeutet natürlich nicht, dass es deswegen keine Realität mehr werden kann.
Durch die intensive Atmosphäre sauge ich nun das Wissen um mich herum förmlich in mich auf. Es ist beinahe wie eine unfassbar vielschichtige und komplexe Melodie. Doch in diesem Augenblick kann ich sie ohne Probleme verstehen. Mir wird bewusst, welche Pflanzen wir brauchen, damit sich der Boden mit der Zeit erholen kann.
Als ich meine Augen öffne und Nyaras Blick begegne verstehen wir uns, wie so oft, ohne Worte. Wir sind beide gerührt von der Liebe und dem Bewusstsein die diesen Ort ausmachen. Gemeinsam spazieren wir durch die Gärten, denn ich würde gerne noch mehr Eindrücke sammeln. Es ist mir durchaus klar, dass ich wahrscheinlich noch ein paarmal meine Nächte hier verbringen werde und vielleicht auch mal physisch hier hinreisen darf. Es macht kaum einen Unterschied, allerdings sind die Sinnesempfindungen, in den verschiedenen Zuständen einfach anders. Ich freue mich darauf.
Tief erholt erwache ich am frühen Morgen. Ich freue mich über die Reise, die mir heute Nacht gewährt wurde. Es war überwältigend. Ich kann es kaum erwarten meine Erfahrung mit Fynn und Kiran zu teilen. Deshalb stehe ich zügig auf und mache mich bereit für den neuen Tag, ich ziehe gleich die robuste Kleidung für die Feldarbeit an. Nur die Schuhe sind so präpariert, dass sie oberflächlich so aussehen wie die anderen, sie fühlen sich jedoch anders an. Die Verbindung und der Energiefluss bleiben damit bestehen, als würde ich Barfuss gehen. Anschliessend gehe ich nach unten.
Da ich die erste bin, bereite ich zügig und mit viel Liebe das Frühstück für uns drei vor. Im Augenblick bin ich so ausgeglichen und voll Glückseligkeit, dass ich förmlich davon überfliessen könnte. Fynn kommt als erstes herunter. Mit leuchtendem Gesicht drehe ich mich zu ihm und fülle gleich seinen Teller mit dem Gemüse und den paar Früchten, die uns zur Verfügung stehen. Aus purer Freude manifestierte ich kurz zuvor noch ein paar der Beeren, die wir alle so sehr mögen. Feierlich präsentiere ich Fynn die kleine Schale.
In seinem Gesicht erkenne ich eine ganze Fülle an Emotionen, es scheint, als hätte er nicht so angenehme Erfahrungen gemacht in dieser Nacht. Allerdings erzielen die Beeren genau den gewünschten Effekt. Denn die Schatten seiner Erlebnisse scheinen zu verfliegen.
«Danke, das ist jetzt genau das was ich brauche», bestätigt er meinen Eindruck, als er sich hinsetzt. «Isst du gleich mit?», fragt er mich und ich kann seinen Wunsch förmlich spüren.
«Klar, ich habe meine Schale bereits hier.»
Zügig nehme ich mein Frühstück und setze mich Fynn gegenüber. Bevor ich zu Essen beginne, beobachte ich ihn noch einen Moment. Er macht sich indes über das Gemüse her.
«Du hattest eine anstrengende Nacht?», frage ich ihn, als auch ich zu Essen beginne.
Schnell lässt er seine Gabel sinken und sieht mich durchdringend an.
«Kann man so sagen. Aber ich glaube, dass ich dir davon erst ein andermal erzählen kann», antwortet er mir langsam zögerlich.
Das wiederum lässt mich aufhorchen und regt meine Neugierde an. Ich brauche nichts zu sagen, damit er deutlicher wird.
«Ich...sagen wir es so, ich liebe dein Klavierspiel und ich spreche nicht von Andakla.»
Ich erahne in welche Richtung seine Reise heute Nacht wohl ging. Zeitgleich verstehe ich, warum er mir nicht mehr sagen kann.
«Verstehe», antworte ich nur und versuche das aufkommende flaue Gefühl im Magen wieder loszuwerden. Es gelingt mir glücklicherweise, als ich ein paar der Beeren esse.
«Du hingegen siehst so aus, als hättest du eine schöne Erfahrung gehabt», stellt Fynn fest, als er sein Frühstück beendet hat.
Freudig lächelnd bestätige ich ihm seine Vermutung. Doch bevor ich erzählen kann, kommt Kiran hinunter und stürzt sich voller Begeisterung auf das Essen.
«Erzähl von deinem Erlebnis, Kaia, ich bin auch neugierig», sagt er mit vollem Mund und grossen Augen.
Also berichte ich von dem wunderschönen Ort, an dem sich die Pflanzen sammeln und voneinander lernen und sich weiterentwickeln. Ich erzähle von meinen Ideen, wie ich das in meine Arbeit hier mit einfliessen lassen kann. Am Ende erwähne ich sogar den kurzen Eindruck, den ich von Ingrid bekommen habe. Nachdem wir alle fertig sind mit Essen und ich meine Erfahrung geteilt habe, räumen wir rasch gemeinsam auf. Anschliessend verlassen wir unseren Rückzugsort, um den Tag unter den anderen zu verbringen. Fynn fällt es dabei gerade noch am schwersten.
Kurz darauf bin ich wieder draussen auf den Feldern und helfe bei den ganzen Arbeiten, immer unter Beobachtung der Gruppe. Erde umgraben, Wasser geben oder Wasser ableitende Gräben ausheben. Währenddessen fliesst die Energie wieder frei durch mich hindurch und es fällt mir leicht bei Kräften zu bleiben.
Diesmal lege ich den Fokus bewusst auf die Helferpflanzen, die sich mir heute Nacht gezeigt haben und ideal für unsere Situation sind. Ich bin bereits jetzt unglaublich neugierig darauf, wie die anderen reagieren werden, wenn plötzlich Dinge zu wachsen beginnen, die wir nicht gepflanzt haben. Auf bereits bestellten Feldern erkenne ich, dass nur noch Bruchteile der Pflanzen überhaupt keimen. Einzeln und allein vegetieren die anderen dahin.
In der Pause essen viele auf den Feldern draussen, da das Wetter heute stabil zu bleiben scheint. Da ich nicht das Bedürfnis verspüre etwas zu essen, spaziere ich in Sichtweite der Gruppe an den schwächlichen Pflanzen vorbei. Unauffällig berühre ich jede von ihnen und erkenne schnell, wo das Problem liegt.
Die einst so starken Lebewesen sind wegen der anhaltend niedrigen Schwingung und den damit verbundenen Wetterschwankungen, nicht mehr an den universellen Energiekreislauf angeschlossen. Genauer gesagt, können sie nur noch einen dürftigen Zugang dazu schaffen. Dasselbe gilt für das Wurzelwerk. Neben dem Feld setze ich mich in den Schatten eines einst kräftigen Apfelbaumes. Dieser trägt noch Früchte, doch auch ihm drohen dieselben Symptome, wie seinen Freunden.
Ich schliesse meine Augen und beginne die Energie wieder hier hinzuholen. Die Gewächse wieder ins Licht zu stellen und sie damit wieder mit dem universellen Lebensstrom zu verbinden. Bald spüre ich den Reisenden, Nyara und einige andere, die mir dabei behilflich sind.
Vollkommen in meine Welt vertieft realisiere ich nicht, wie viel Zeit vergeht. Erst als mich eine andere Feldarbeiterin an der Schulter schüttelt, öffne ich erschrocken meine Augen. Ich sehe in ihre braungoldenen Augen und erkenne, dass sie irritiert ist, weil sie etwas gespürt hat, als sie mir so nahekam.
Ich entscheide mich, sie anzulächeln und zu sagen: «Geht es schon weiter? Entschuldige bitte, ich habe die Zeit völlig verloren.» Dabei achte ich auf meine Wortwahl.
«Ja, es sah aus, als wärst du hier und doch völlig woanders. Aber wir müssen jetzt weiter machen», in ihrer Stimme schwingt ihre Verwirrung mit.
«Wunderbar, ich bin bereit», antworte ich fröhlich.
Ihre Gedanken förmlich hörend, in denen sie sich über mich und meine Energie wundert, zumal ich nicht einmal gegessen habe. Ich folge ihr schmunzelnd. Innerlich antworte ich ihr, auch wenn mir klar ist, dass diese noch nicht bewusst zu ihr durchdringen wird: «Es gibt auch andere Formen von Energieaufnahme.» Irgendwann wird sie mich hören.
Laut frage ich sie: «Wie heisst du eigentlich? Ich bin Kaia, aber das weisst du sicherlich.»
Über ihre Schulter wirft sie mir einen unsicheren Blick zu, als würde sie genau abwägen, ob sie es wagen möchte, einen Schritt auf mich zuzugehen.
Sie entscheidet sich dafür: «Ich heisse Lina.»
«Das ist ein schöner Name», antworte ich ihr und lasse meine Freude über ihren Mut in meiner Stimme mitschwingen.
Lina wird wohl nur ein paar Jahre älter sein als ich und hat schwarzes wunderschönes Haar. Da sie es recht kurz trägt, kann ich nur im Ansatz die wilden Locken erkennen, die sie hätte, würde sie es länger wachsen lassen. Ihre Augen haben ihre eigene Schönheit mit dem braungoldenen Ton. Sie ist fein gebaut und wirkt zumindest körperlich kaum geeignet für die harte Feldarbeit. Das könnte man von mir allerdings auch sagen. In ihren Augen konnte ich zuvor jedoch ein sanftes und offenherziges Wesen erkennen, das zurzeit einfach hinter einem Schleier verborgen ist. Im Moment ist es aber noch zu früh, weiter auf sie zuzugehen. Also schliessen wir uns schweigend dem Rest an.
Abends kehre ich zufrieden nach Hause zurück. Es ist bereits dunkel draussen.
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