VII. Ein Herz im Käfig
VOM TODE UNBERÜHRT
VII. Ein Herz im Käfig
❆ ❆ ❆
Nach dem Morgen dieses Tages, der mit Flammen begrüßt wurde, hatte sich die Angst in Lasow wieder ein wenig gelegt, besänftigt durch die Worte des Priesters. Zum ersten Mal wusste Chaja seine Bemühungen zu schätzen. Aber was immer er auch tat, es diente nur seinen Zwecken.
Nun, im Kerzenlicht des bereits schlafenden Hauses, löste Chaja Majdas Zopf und entwirrte die Strähnen, die wie goldene Seide zwischen ihren Fingern hindurchflossen. Die sanft leuchtende Farbe war noch nicht von einem eisgrauen Schleier bedeckt, anders als ihr eigenes Haar.
Ulja und Ilja hatte Majda zuvor in den Schlaf gesungen – denn Geschichten hatten sie in den letzten Tagen genug gehabt –, was der Hauptgrund für die jetzt herrschende Stille war. Nach einem leisen Gespräch mit Majda am Feuer, von dem die meisten nichts bemerkten, und diejenigen, die es taten – mit Ausnahme von Chaja – registrierten es mit Zufriedenheit, gingen Davor, sein Herr und der Rest der Familie ebenfalls zu Bett und ließen damit die letzten Geräusche verstummen.
„Wacholder", flüsterte Majda. Ihr Blick fiel auf die Stickerei, die Chaja in der Nacht, als die Fremden gekommen waren, zur Seite gelegt hatte. Seitdem hatte sich keine Gelegenheit geboten, sie wieder aufzunehmen und der Stoff war ohnehin durch ihr Blut ruiniert.
Chaja biss die Zähne zusammen; ihre Hände zitterten. Sie wollte nicht antworten, nur ein paar Augenblicke schmerzhaften, schnellen Herzschlags und ohrenbetäubender Stille abwarten, bis Majda sie selbst nicht mehr ertragen würde und mit einem anderen Thema füllen würde. Aber das Schweigen wurde ihr zu schnell unerträglich.
„Für den Karatschun-Tag", krächzte Chaja.
Majdas Schultern fielen, lösten sich von der Spannung einer unsichtbaren Last. „Du bist immer noch wütend, nicht wahr? Dein Plan, Karatschun zu bekämpfen ..."
„Wie könnte ich nicht wütend sein? Er hat sie uns weggenommen." Die Antwort drängte sich aus ihrem Mund – nein, aus ihrem Herzen – noch bevor Chaja selbst sie begriff. Sie war zu tief in ihr vergraben gewesen, sorgfältig weggesperrt und unter Schichten von Ruhe und Gelassenheit verborgen. All die vergangenen Jahre, nachdem Majda ihre Hand gedrückt hatte, hatte Chaja sich tapfer aufrecht gehalten, ganz die herzliche Nichte und Cousine und Tochter, aber selbst die die stärksten Bäume, die vom Sturm geschüttelt werden, kam der Moment, in dem sie zerbrachen.
„Es wird sie nicht zurückbringen."
Chajas Hände zitterten und sie klammerte sich an Majdas langes Haar wie an ein Seil, das sie vor dem Versinken im Chaos bewahren sollte.
Ihre Blicke trafen sich im Spiegel und Chaja konnte die Liebe und das Mitgefühl, die in den Augen ihrer Cousine glühten, kaum ertragen. „Ich vermisse sie doch genauso. Sie war auch meine Großmutter", flüsterte Majda.
Aber für mich war sie auch meine Freundin und meine Mutter.
„Ich weiß."
Ein Seufzer entrang sich Majdas Lippen. „Bitte bring dich nicht in Gefahr, Chaja."
„Erzähl du mir nichts über Gefahr." Sie zwang sich zu einer gewissen Belustigung in ihrer zittrigen Stimme.
Damit zauberte Chaja zwar ein Grinsen auf Majdas Gesicht, aber ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich sofort wieder. „Ich meine es ernst."
„Ich passe schon auf mich auf, versprochen." Dass andere mich nicht in Gefahr bringen werden, kann ich allerdings nicht versprechen.
Majda lächelte sanft und Chaja wandte sich wieder ihren Haaren zu. Das war etwas, das sie immer geliebt hatte. Es war mittlerweile zu ihrem allabendlichen Ritual geworden, sich gegenseitig ihre Zöpfe zu flechten.
„Meinst du ...", Majda brach wieder das Schweigen, „... hat Davor jemals erwähnt, dass er eine Frau hat?"
Beinahe wäre Chaja das Haar aus den Fingern gerutscht, was die Frisur ruiniert hätte. Sie schluckte. „Nein. Warum sollte er?"
2Ich habe gestern Abend etwas Seltsames gesehen." Majdas Wangen röteten sich, während sie sprach, und Chaja bemühte sich, den Blick auf ihr Spiegelbild zu meiden. „Ich konnte nicht schlafen und bin durchs Haus gewandert. Kurz fürchtete ich sogar, Karatschuns Stimme draußen zu hören. Wie in dem Märchen. Albern, nicht?"
Ganz und gar nicht. Zumindest nicht für Chaja. Die Zeit, in der sie über die Gefahren des Unbekannten und Unsichtbaren gescherzt hatten, war vorbei, und die Besonnenheit, die an ihre Stelle getreten war, war bereits in dem Moment zusammengebrochen, als die Geschichten mit dem Flüstern im Wald wahr wurden.
Majda schüttelte den Kopf. „Ich hab gesehen, dass die Tür zum Gästezimmer nur angelehnt war. Beide haben geschlafen, also wollte ich sie schließen. Und dann sah ich es..." Ihre rosigen Finger berührten ihre Drosselgrube, als ob sie es dort selbst spüren könnte. „Eine Halskette, die einen Buchstaben der Heiligen Schrift hielt. Ich konnte es nicht richtig sehen. Was, wenn es der Namen seiner Geliebten ist, den er da Tag und Nacht über seinem Herzen trägt?"
„Vielleicht nur ein Talisman. Warum interessiert dich das überhaupt?" Chaja hielt inne und ließ den fertigen, dicken Zopf aus ihren gefühllosen Fingern gleiten und Majdas Rücken hinunterfallen. „Du hoffst, ihn zu heiraten", flüsterte sie.
„Du lie...", fuhr sie fort, aber sie konnte sich nicht überwinden, es auszusprechen. Dieses furchtbare Wort blieb irgendwo zwischen Mund und Geist stecken. Nein, das willst du nicht. Das kannst du nicht. „Du weißt nicht einmal, wer sie sind."
Jetzt wandte sich Majda auf ihrem Hocker um und blickte ihr direkt ins Gesicht. „Und? Ich weiß, ich sehe, ihre Rechtschaffenheit, ihre Gesundheit und ihre edlen Kleider. Auch ohne einen richtigen Titel ist das mehr, als ich erwarten kann. Es sind gute Menschen. Er ist ein guter Mensch."
Kannte sie Majda nicht mehr? Wer war die Fremde vor ihr, mit diesem Feuer in den Augen, das sich am Abend von Davors Ankunft entzündet hatte, und der Entschlossenheit, die in ihre zarten Züge geschrieben stand und die sie so stolz getragen hatte, als sie zum Tempel gegangen war? Wer war sie? Denn ihre Majda konnte es das nicht sein.
Sie hätte sich weder für die besten Kleider, Juwelen und den Luxus von Bielograd von ihrer Familie abgewandt, noch für das goldene Haar, die eisblauen Augen und die oberflächlichen Versprechen eines flinkzüngigen Dämons.
„Was ist mit Mladen?", fragte Chaja, ihre eigene Stimme wie weit entfernt. Was ist mit uns allen? Was ist mit mir?
„Was ist mit Mladen?"
„Ich dachte, du ... magst ihn." In der letzten Kupala-Nacht war er es gewesen, den sie beim Tanzen unter den Sternen immer wieder angesehen hatte, und er war es gewesen – von allen Lasower Jungen, die verzweifelt um ihre Aufmerksamkeit buhlte –, der sogar in die schnell fließende Zlatava gesprungen war, wo es am gefährlichsten war, um ihren Blumenkranz zu erwischen. Wie um sein Wohlwollen mit dieser jugendlichen, verrückten Liebe zu zeigen, hatte der Fluss ihm erlaubt, mit dem Kranz in der Hand wie ein Sieger das Ufer zu erreichen.
Aber was bedeutete das schon? In derselben Nacht waren Majda und Chaja ebenfalls händehaltend übers Feuer gesprungen – hätte das nicht ein Zeichen dafür sein sollen, dass sie sich nicht trennen würden? Jetzt, nur ein halbes Jahr später, war sie schon im Begriff, sie zu verlieren.
„Das tue ich auch", antwortete Majda unbefangen, nein, nonchalant. „Aber ..."
Chaja hatte Majda schon oft furchtlos gesehen: Sie ging durchs Leben, als könne ihr oder denen, die sie liebte, nichts Böses etwas anhaben, auch wenn das Schicksal ihr mehr als einmal das Gegenteil bewiesen hatte. Immer noch balancierte sie auf den Ästen der Baumkronen und tanzte durch den Wald.
Aber noch nie hatte Chaja sie rücksichtslos handeln sehen. Und sie konnte beim besten Willen nicht die Bestürzung verbergen, die sie dabei empfand. Sie wusste, dass sie es nicht konnte, denn Majda sprang in einer Art Verteidigungshaltung auf. Ihr Gesichtsausdruck war jedoch flehend.
„Verstehst du denn nicht? Sie ... er ist wahrscheinlich meine einzige Chance, Lasow zu verlassen. Was hat mir das Leben hier zu bieten? Einen passablen Bauern aus dem Norden wie Mladen heiraten, seine Kinder gebären, von denen ich mehr sterben als aufwachsen sehen werde, auch ihn verlieren und dann wieder zu Lehm werden, allein in der einzigen Erde, die ich je gekannt habe?", ihre Stimme bebte vor fremdem Groll und Chaja ließ ihre Seele schweigend von ihm durchbohren.
„Wenn ich mein Bruder wäre, könnte ich einfach nach Drehask gehen, mir durch einen Knjaz Ansehen verschaffen und bald ein Mädchen aus einer angesehenen Familie heiraten. Ich könnte alle Städte von Morotenija sehen. Aber ich bin kein Mann. Ich kann nirgendwo alleine hinreisen. Und ich bin auch nicht die Tochter eines Starosta, sondern nur seine Nichte. Du bist es, die dein Onkel zuallererst gut verheiraten sehen möchte. Ich will nicht hoffen und beten, dass er dasselbe für mich im Sinn hat. Ich will nicht darauf warten, dass mein Schicksal von anderen bestimmt wird."
Seltsamerweise hatte Chaja nie an so etwas gedacht. Lasow zu verlassen schien nie eine Option zu sein. Was würde dann aus ihrem Vater, Dorka, Ulja, Ilja ... und Majda werden? Würde ihr Vater sie wirklich einfach verheiraten? Das war das Los der meisten Frauen. Warum sollte sie anders sein?
Chaja fragte sich, wie sie so blind sein konnte. Was für sie Heimat und Freiheit war, war für Majda ein Gefängnis. Und vielleicht hatte ihre Cousine ja auch recht damit und sie selbst lag so falsch mit ihrer Liebe zu Lasow. Aber jedes Herz braucht einen Brustkorb, einen Käfig, um schlagen zu können.
Majda lief im Zimmer auf und ab. Ihre Hände suchten ziellos nach einer Aufgabe, spielten mit ihrem Haar oder ihrem Kleid, bevor sie sie wieder schlaff zur Seite fallen ließ.
„Und was ist mit Mama, Uljascha und Iljuscha?", fuhr Majda fort, wobei ihre Stimme bereits an Schärfe verlor. „Jeden Tag sehe ich, wie sie dem Tod ein Stückchen näher kommt und die beiden nicht nur vaterlos, sondern auch ohne Mutter enden. Vielleicht könnte ich nach ihnen schicken und sie in einem warmen, gemütlichen Haus in Bielograd leben lassen." Was sie eigentlich sagen wollte, war: Vielleicht kann ich sie retten.
Die Kraft verließ sie völlig, der ganze Zorn hatte sich in Luft aufgelöst und Majda sackte wieder auf dem Schemel zusammen. Ihr Gesicht war so weiß wie der frische Schnee, der draußen leise fiel. „Ich weiß, wenn ich nicht bald gehe, werde ich für immer hier bleiben. Ich will mehr von dieser Welt sehen als Lasow", flüsterte sie mit einer Verzweiflung, die Chaja direkt unter die Haut ging und ihr in den Knochen nachhallte.
Ein Teil von ihr wollte Majda Egoismus vorwerfen, geblendet von den Versprechungen eines anderen, angeblich besseren Lebens, das keiner von ihnen wirklich kannte. Der andere konnte es nicht und wusste, dass das eine ungerechte Verurteilung wäre, die nur aus Liebe und Verletztheit geboren wurde, sondern gab ihrer eigenen Blindheit die Schuld. Vielleicht hatte sie Majda nie als die Person erkennen wollen, die sie wirklich war.
Plötzlich verdichteten sich die Schatten, die nach dem Befehl des flackernden Kerzenlichts tanzten, zu einer fast menschlichen Gestalt, die sich über ihrer Stickerei abzeichnete und deren Finger beinahe die blutroten Beeren berührten.
Die Zeiten des Wacholders werden kommen. Morgenröte und die Abenddämmerung werden blutgetränkt anbrechen, hauchte sie und Chaja wich zurück. Gänsehaut breitete sich über ihren gesamten Körper aus.
Eine Stimme in ihrem Kopf schrie, sie sollte gegen dieses Wesen kämpfen. Aber wie kämpfte man denn gegen etwas, das gar nicht wirklich da war, etwas, das niemand außer ihr sehen oder hören konnte?
Meide heute Nacht den Wald, vjed'motschka.
„Ich habe dich nicht hereingelassen", hauchte sie.
Das Feuer bebte und das schattenhafte Wesen verschmolz zu formloser Dunkelheit.
„Was hast du gesagt?", fragte Majda verwirrt.
Wenn selbst dieses dunkle Etwas sie eine Hexe nannte, hatte Davor Kazminov vielleicht recht. Oder bin ich einfach nur eine verrückte Närrin?
„Nichts."
Chaja vertrieb den Schatten aus ihren Gedanken und schluckte ihre Verwirrung und Angst hinunter.
„Nur in deinen und Babuschkas Märchen können Frauen hingehen, wohin sie wollen, und auf Pferden der untergehenden Sonne hinterherreiten. Weißt du, komischerweise wünsche ich mir jetzt mehr denn je, dass sie wahr wären. Hast du nie von einem Leben jenseits dieser Wälder geträumt?", fragte Majda, die nicht bemerkt hatte, was geschehen war, und das drückende Schweigen nicht zu ihrem Gast werden lassen wollte. Ihre Stimme wurde dünn und sie wandte ihr Gesicht dem Nachthimmel zu, damit Chaja nicht die Geheimnisse sah, die Majdas Augen unwillkürlich verrieten.
„Es ist seltsam, aber ich gehöre hierher – ich liebe Lasow. Und Papa braucht mich. Er wird auch alt." Lasow war ihr Zuhause. Es war der Boden, auf dem ihre Vergangenheit wuchs und in dem die Hälfte ihres Herzens und ihrer Seele ruhte. Es war wahrscheinlich dumme Bindung, an ein Land, das Liebe nur kalt zurückgeben konnte. Vielleicht mochte sie, weil sie sich ähnlich waren – Wildheit, die an die Grenzen des Waldes gebunden war, raue Schönheit und ein kleines Herz, das im Winter gefroren und im Frühling frei geschmolzen wurde.
Wohin sie auch ging, in ihr kleines Haus hier, sie würde immer zurückkehren. Chaja war letztendlich ein Kind von Lasow.
„Du hast Magie immer nur für andere erschaffen und sie nie selbst gesucht. Du magst deinen Kopf hoch in den Wolken haben, aber deine Füße stehen fest auf dem Boden. Mehr als meine", meinte Majda.
Zaghaft legte Chaja ihre Hand auf die ihre, nicht wissend, ob sie sie so erreichen konnte, wie sie es früher getan hatte.
„Vielleicht liegt es gerade daran. Auch wenn ich hier meine Wurzeln habe, fühle ich mich nie eingesperrt – ich muss nur meinen Blick in die Ferne schweifen lassen. Für sich genommen, ist Lasow vielleicht nur Lasow, aber jeder Ort ist das, was man daraus macht. Ich muss die Magie nicht woanders suchen. Ich hol sie zu mir."
Ein trauriges Lächeln huschte über Majdas hübsches Gesicht. „Ich wünschte, ich könnte dasselbe tun."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top