Drei

Ist alles in Ordnung bei dir?, hat Olli geschrieben. Ich lese die Nachricht erst am nächsten Nachmittag.

Ja. Echt, mach dir keine Sorgen!, schreibe ich zurück. Obwohl er mein Gesicht nicht sehen kann, nicht die dunklen Schatten unter meinen Augen und die roten Flecken auf der fahlen Haut, ist ihm wahrscheinlich klar, dass etwas nicht stimmt. Wirklich überzeugend klingen meine Worte nicht.

Es klopft an meine Zimmertür. »Ja?«, rufe ich und schließe das Chatprogramm. Ich möchte Ollis Antwort nicht lesen, mit niemandem über das reden was geschehen ist. Auch wenn es mein sehnlichster Wunsch ist.

Im geöffneten Türrahmen taucht Mama auf, in ihren Händen hält sie zwei dampfende Tassen.

»Ich hab Tee gekocht. Möchtest du?«, fragt sie. Ein erschöpftes Lächeln liegt auf ihren Lippen. Die viele Schminke, die sie trägt, kann nicht verbergen, dass die Falten auf ihrem Gesicht in den letzten Wochen tiefer geworden sind.

»Ja, okay ... danke!« Ich nehme die Tasse entgegen, auf der ein verwaschener Teddybär zu sehen ist. Das neben dem Henkel baumelnde Etikett verrät mir, dass es grüner Tee ist. Ich hasse grünen Tee.

Und trotzdem setze ich die Tasse an meine Lippen. Das noch viel zu heiße Wasser verbrennt mir die Zunge.

Meine Mutter lässt sich auf meinem ungemachten Bett nieder. Die Decke liegt halb auf dem Boden, meine bunten Kissen sind wild durchs Zimmer verteilt.

»Wo warst du heute Morgen?«, fragt sie.

»Nur bisschen laufen.«

Wir schweigen, dann verstummt die Musik. Ich erhebe mich, um die Nadel anzuheben und die Platte zu wechseln. Dieses Mal fällt meine Wahl auf First and Last and Always von den Sisters of Mercy. Einen Moment lang sehe ich zu, wie sich die Scheibe mit betörend gleichmäßigen Bewegungen auf dem Plattenspieler dreht, als wäre es so einfach, mich darin zu verlieren, all meine Gedanken zu vergessen. Doch das ist nur eine trügerische Illusion. Ich lasse mich wieder auf meinem Schreibtischstuhl nieder. Trinke aus der Tasse, die nicht mehr dampft.

»Morgen musst du wieder in die Schule«, meint Mama. Ich spüre, dass ihr Blick auf mir ruht, auch wenn ich nicht sie, sondern den Beutel ansehe, den ich durch den Tee ziehe. Kreisförmige Linien sind auf der Wasseroberfläche zu sehen.

»Ich weiß.« Meine Stimme ist nur ein tonloses Krächzen, als würde das, was mir bevorsteht, dadurch unwahrer werden. Zwei Wochen ist es her, dass ich das letzte Mal in der Schule war.

Zwei Wochen, in denen sich alles verändert hat.

Und morgen werde ich zurückkehren, mich all dem stellen, auf das ich nie eine Antwort finden würde. Denn ich selbst verstand nicht.

Wie konnte der Junge, den du am meisten von allen liebst, das Schlimmste tun, was ein Mensch tun kann?

Warum bist du es wert, dass ein Mädchen stirbt?

Wie kann Viktor so sehr hassen, dass er zu so etwas fähig ist?

Und wann ist er so geworden - oder ist er schon immer so gewesen?

»Ich möchte alleine sein«, bringe ich krächzend hervor. Es ist nicht nur eine Bitte, sondern schon ein verzweifeltes Flehen.

»Sarah ...«

In den Augen meiner Mutter liegt so viel Sorge, dass es mich fast zerreißt und im selben Moment doch kalt lässt. Kurz zögert sie, dann verlässt sie das Zimmer.

Ich lasse mich auf mein Bett sinken und ziehe mir die Decke über den Kopf, sodass sich die Dunkelheit in mir endlich mit der um mich herum vereint.

Es ist nicht nur die stickige Luft, nicht nur der weiche Stoff, der meine Wange wärmt, sondern auch die Tränen, die sich langsam ihren Weg über mein Gesicht bahnen.

Es ist ein warmer Septembermorgen, wahrscheinlich einer der letzten warme Tage im Jahr, als ich zum ersten Mal wieder auf dem Schulhof stehe. Ich verlangsame meine Schritte und greife in die Tasche meiner Sweatjacke, wo ich meinen Walkman lauter stelle. So laut, dass mir die Stimme des Sängers von Guns 'n Roses in den Ohren wehtut und ich mich dennoch besser fühle als eben.

Die Gitarrenklänge verdrängen die Tatsache, dass das Schulgebäude mit seinem schlossartigen Haupttrakt und dem hässlichen Anbau aus den Siebzigern vor mir aufragt. Es ist nicht nur eine blasse Erinnerung, sondern ich bin wirklich an dem Ort, an dem alles begann, was dort oben in den Hügeln sein Ende gefunden hat.

Mit gesenktem Blick und den Händen in den Taschen, meinen Walkman fest umklammert, gehe ich weiter.

Vorbei an der alten, fast schon morschen Eiche, unter der Viktor heute nicht auf mich wartet. Es gibt keine Umarmung, kein liebevolles Lächeln, keines seiner kleinen Geschenke, die alle anderen nur verhöhnt hätten.

Da ist nur die Gewissheit, die mir dumpf im Magen liegt, dass er für die nächsten acht Jahre im Gefängnis sitzen wird.

In den Gängen kommt mir Frau Lewald, meine Kunstlehrerin, entgegen. »Hallo, Sarah«, begrüßt sie mich mit einem Lächeln, das kein bisschen gezwungen wirkt.

»Hallo«, erwidere ich und ziehe die Ohrhörer raus. Sie sagt nichts dazu, auch wenn man auf dem Schulgelände eigentlich keine Musik hören darf.

Genau wie sie Jahre lang geschwiegen und weggeschaut hat, wenn die anderen in ihrem Unterricht auf mich losgingen ...

»Wie schön, dass du wieder hier bist!«, sagt sie und sieht mich an. »Wie geht es dir? Und ... du, Sarah, wenn du reden willst, kannst du gerne zu mir kommen!«

»Ja, passt schon ... und danke«, murmele ich. »Bis später dann!« Ich vergrabe die Hände tiefer in den Taschen und gehe weiter, ohne mich zu ihr umzuwenden.

Ich stecke die Ohrstöpsel zurück und die Musik übertönt die Gespräche von ein paar Unterstufenschülern, bei denen ich mir sicher bin, dass sie von mir handeln. Als ich an ihnen vorbeigehe, schaue ich auf den dreckigen Linoleumboden.

Luisa wartet nicht im Klassenzimmer auf mich. Es gibt kein Tuscheln hinter hervorgehaltener Hand, kein Gekicher und kein zusammengeknülltes Papier, das mich am Kopf trifft.

Da ist nur die Gewissheit, die ich immer wieder verdränge, dass sie nichts von all dem je wieder tun wird.

Genauso wie sie nie wieder mit ihren Freundinnen herumblödeln wird, nie wieder Marko einen Kuss auf die Wange drücken.

Nichts wird sie je wieder tun. Nichts.

Unter den Blicken der anderen schleiche ich zu meinem Tisch in der letzten Reihe, an dem ich vor ein paar Wochen noch zusammen mit Viktor saß. Lasse den rotkarierten Rucksack mit den paar Buttons auf den Boden neben meinen Stuhl fallen, dann erst ziehe ich mir die Ohrstöpsel aus den Ohren. Die Gitarrenklänge verstummen und jetzt ist da nichts mehr, das mich von der Realität trennt.

Vor den anderen schützt.

Es prasseln keine dummen Sprüche auf mich ein, keine Fragen. Nichts.

Nur ein paar verschämte Blicke, ansonsten Ignoranz.

Ein wenig fühlt es sich an, als wäre ich mit Luisa gestorben und im selben Moment schäme ich mich schrecklich für diesen Gedanken. Ich nehme meinen Walkman aus der Jackentasche und wickele das Kabel der Ohrstöpsel herum, löse es wieder.

Ein paar Leute tuscheln miteinander, andere lösen noch schnell ihre Hausaufgaben. Im Gegensatz zu sonst ist es verdammt ruhig in unserer Klasse. Eine stille, unausgesprochene Trauer liegt über ihnen allen. Ihnen, die mit Luisa befreundet waren, die zusammen mit ihr an den Wochenenden feiern gingen. Die alle wohl noch viel mehr darunter leiden als ich.

Es dauert quälend lange, bis Herr Beaulieu nach dem Läuten den Raum betritt und zielstrebig wie immer den Unterricht beginnt. Worüber er redet, bekomme ich nicht mit. Ich mache mir nicht einmal die Mühe, meine Schulsachen rauszuholen. So wie Viktor früher immer, der gar keine Hefte besaß.

Herr Beaulieu ermahnt mich kein einziges Mal, genauso wenig wie die anderen, von denen viele unaufmerksam sind.

In der Pause baut Andy sich vor meinem Platz auf.

»Na, hast deinen Stecher schon im Knast besucht?«, grinst er gehässig. Karina packt ihn am Arm und zieht ihn von mir weg, bevor ich überhaupt reagieren kann. Ich lasse meine Haare ins Gesicht fallen und beobachte, wie sie flüsternd auf ihn einredet.

Für einen Moment glaube ich, sie würde mich verteidigen.

»Ey, du bist doch bescheuert«, lacht Andy dann. »Der ist weggesperrt, der kann mir nichts tun.«

»Trotzdem! Pass lieber auf, ernsthaft!« Karina stemmt die Hände in die Hüfte und schüttelt entschieden mit dem Kopf, sodass die braunen Locken hin und her fliegen. »Willst du, dass es dir wie Luisa geht?«

Sie zerrt Andy von meinem Platz weg und zurück bleibt nur das schreckliche Gefühl, dass sie tatsächlich Angst vor Viktor hat.

Angst, die absolut begründet ist.

Denn mein bester Freund ist ein Mörder.

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