Kapitel 11 - "W" wie "Weg"
So fühlt sich also tiefe, emotionale Erschöpfung an. Dass es anstrengend und vielleicht auch von Angst überschattet sein würde, mit Jimin zu fliegen, war Mina ja klar. Aber nichts hat sie darauf vorbereitet, dass Jimin SO untergehen würde in seiner Angst. Sie fühlt sich entsetzlich hilflos, zumal sie weiß, dass das hier nur der Burgfrieden ist, bevor der große Sturm kommt. Sie ist so dankbar, dass sie Jimin wenigstens zum Reden bekommen hat. Aber wenn das Flugzeug gleich starten wird, wird der Ofen wahrscheinlich völlig aus sein. Und dem ist sie einfach nicht mehr gewachsen. Mina fühlt sich total übermüdet, mutlos und der Situation ausgeliefert. Jimins Weinen und seine panischen Schreie gingen ihr durch Mark und Bein. Und mitten durch die Seele. Im Moment ist er still, weil er direkt bei ihr ist. Aber mindestens für den Start muss er sich in seinem Sitz anschnallen lassen, dann kann sie ihm nur noch die Hand reichen und beten.
Die misstrauisch bis feindlichen Blicke der sieben anderen Menschen in der Kabine machen die Sache auch nicht leichter. Wie gut, dass wenigstens die freundliche von den beiden Stewardessen für die erste Klasse zuständig ist. Sehr gut. Denn jetzt bekommt Jimin einen Schluckauf vom vielen Weinen, und der schicke Bürofuzzi an der gegenüber liegenden Fensterfront steht energisch auf. Er begibt sich ganz nach vorne und bittet, direkt mit dem Kapitän reden zu dürfen. Die irritierte Stewardess ist nicht schnell genug, ihn zu seinem Sitz zurückzukomplimentieren. In diesem Moment kommt einer der Piloten aus der Kanzel, und aus die Maus. Mina sieht schon ihre Felle davonschwimmen.
"Entschuldigen Sie, Herr Kapitän, aber ich habe einen Haufen Geld ausgegeben, um in der ersten Klasse konzentriert arbeiten zu können. Solange dieses panisch schreiende, heulende und hicksende Kind hier ist, wird das unmöglich sein. Ich erwarte, dass Sie Mutter und Kind nach hinten schicken. Sonst wird dieser Flug unangenehm - und meine Publicity hinterher mit Sicherheit auch ..."
Mina schließt verzweifelt die Augen. Wie soll das denn gehen? Da hinten ohne Beinfreiheit im Gewühl? Wo dauernd das Licht angeht, Filme über die Bildschirme zucken, eine Schlange am Mini-Klo entsteht, die Turbinen lauter sind, und, und, und ... Daran, wie Jimin sich nach dem ersten Satz versteift hat, kann Mina erkennen, dass er genau gehört hat, dass von ihm die Rede ist. Sie streicht ihm sanft über den Rücken und flüstert beruhigende Worte in sein Ohr.
Der Pilot sieht überhaupt nicht begeistert aus, aber da mischt sich die Stewardess ein und führt den Piloten direkt zu Mina und Jimin.
"Mrs. Turner? Am besten erklären Sie selbst, wo das Problem liegt. Wir wollen dem kleinen Mann gerne gerecht werden, damit er das gut übersteht."
Der Bürofuzzi mischt sich von hinten ein.
"Und uns anderen bitte auch! Das Gör soll einfach die Klappe halten und still sitzen."
Jimin zuckt zusammen, der Pilot dreht sich langsam um, schaut in all die genervten Gesichter und ... macht sich zum Helden des Tages.
"Ich habe ihre Bitte durchaus gehört und verstanden, ich bin nicht taub. Aber ich fliege dieses Flugzeug, und ich entscheide, wer hier wo sitzt. Ein panisches Kind zum Lärm im Gewühl zu setzen, erscheint mir ausgesprochen kontraproduktiv. Und ..."
"Das ist mir doch egal. Hauptsache hier ist Ruhe. Soll er doch den anderen die Ohren vollheulen."
"Sehen Sie? Und genau wegen dieser Einstellung wird der Junge hier bleiben. Es bleibt Ihnen selbstverständlich vorbehalten, nach hinten umzuziehen. Da sind nur zwei Babys, ein demenzkranker Mann und eine Schulklasse. Da ist es bestimmt ruhiger."
"Aber ich habe für die erste Klasse ..."
"... ganz viel Geld bezahlt, ich weiß. Allerdings - wenn ich das richtig zähle - hat diese Dame für zwei Personen doppelt so viel bezahlt."
"Also, das ist doch ..."
"... menschlich. Und jetzt möchte ich Sie bitten, sich wieder zu setzen und sich schon mal anzuschnallen."
"Der Junge ist auch nicht ..."
"... angeschnallt, weil er so kurz wie möglich von seiner Mutter getrennt werden soll. Um so weniger Geschrei haben Sie dann auszuhalten. Danke!"
In aller Seelenruhe dreht der Pilot sich um und hockt sich direkt neben Mina und Jimin. Mina atmet einmal tief durch, und auch Jimin entspannt sich etwas in ihren Armen.
"So, Mrs. Turner, erklären Sie mir bitte kurz das Problem, und dann wollen wir sehen, wie wir dich heile und zufrieden über den Pazifik bekommen, junger Mann."
Jimin hatte neugierig seinen Kopf gedreht und ein Auge riskiert, aber als der Fremde ihn direkt anspricht, schaut er sofort wieder weg. Der Pilot wird ganz leise.
"Pass auf. Ich bin Abraham Soul, der Copilot dieses Flugzeugs, und das hier ist mein 538. Flug übern großen Teich. Ich mache den Job schon lange, und ich hatte noch nie einen Unfall. Mein Problem ist, dass der Mann recht hat. Eigentlich dürfte ich euch gar nicht mitnehmen, denn ein Panikausbruch an Bord wäre gefährlich für alle. Wenn du also jetzt deinen hübschen Kopf zu mir drehst und mit mir redest, dann kann ich mich davon überzeugen, dass ich euch mitnehmen kann. Du musst nur ein bisschen mitspielen. Schaffst du das?"
Mina hält die Luft an und wartet auf das obligatorische energische Kopfschütteln. Aber es kommt nicht. Stattdessen hickst Jimin noch einmal und dreht dem Mann den Kopf zu.
"Ich ... ich kann ... ich ... ich kann nicht versprechen, dass ... ich nicht mehr weine. Aber ich will versuchen, ... nicht mehr zu schreien. Das macht Tante Mina nämlich auch Angst."
"Hei, du bist tapfer. Was ist denn das Schlimmste für dich?"
Jimin schaut Mina an. Er möchte wohl, dass sie antwortet.
"Das Schlimmste wäre, von mir getrennt zu werden. Außerdem sind laute, volle Räume und unübersichtliche Situationen eine Überforderung. Aggressionen sind ein großes Hindernis. Jimin war zweimal in einer Pflegefamilie und hat ziemlich furchtbare Dinge erlebt. Das hat ihn sehr misstrauisch gemacht und ihm tiefsitzende Ängste beschert. Er ist der Sohn meiner verstorbenen Schwester, aber wir leben in den USA, darum muss ich ihn jetzt wenigstens dieses eine Mal über den Teich bringen. Und heute Nacht hat er ein umfangreiches Katastrophenpaket zusammengeträumt. Also bin auch ich ziemlich übermüdet."
Mr. Soul überlegt einen Moment und wendet sich dann wieder an Jimin.
"Na dann - das kriegen wir hin. Du musst dich leider gleich in deinen eigenen Sitz setzen und dich anschnallen. Aber das tolle ist: deine Tante auch, sie kann dir also nicht weglaufen. Ihr könnt euch aneinander festhalten, und sobald wir Flughöhe erreicht haben, darfst du dich wieder im Raum bewegen, also auch zu deiner Tante gehen. Solange ihr einigermaßen normal redet oder spielt, bin ich mit allem einverstanden. Wenn du weinen musst, dann lass laufen, das kann dir keiner verbieten. Und sobald jemand anderes hier etwas zu dir oder über dich sagt, schaltest du sofort deine Ohren auf Durchzug. Okay? Je besser es läuft, desto mehr spannende Überraschungen denke ich mir für dich aus, damit du nicht so viel Zeit hast, Angst zu bekommen."
Mina schickt innerlich ein Dankgebet zum Himmel. So kann es klappen!
"Ich bin Ihnen sooo dankbar!"
"Gerne!"
Abraham Soul dreht sich zu den anderen Leuten um.
"Und Sie bitte ich, einmal an Ihre Kindheit zu denken. An die Monster unterm Bett, an die fiesen Typen in der Schule, die Ihnen ein Bein gestellt oder sie Brillenschlange genannt haben. Und dann schenken Sie diesem Jungen all das Wohlwollen, dass Sie sich damals von Ihren Eltern und Lehrern erfleht haben. So kriegen wir das miteinander hin. Dankeschön."
Weg ist der Copilot. Mina wartet auf das Zeichen der Stewardess, steht dann auf und setzt Jimin in seinen eigenen Sitz. Sie nimmt ihn noch mal fest in den Arm, schnallt ihn an, gibt ihm die beiden Schäfchen und lächelt tapfer gegen ihre eigene Müdigkeit und Sorge an.
"So Jimin. Ich bin sehr, sehr stolz darauf, dass du eben so gut sagen konntest, was du brauchst. Jetzt kommt etwa eine halbe Stunde für den Start, und dann ist das Schlimmste überstanden. Wir halten uns gleich an der Hand, du darfst jede Frage stellen oder dir die Ohren zuhalten. Aber du musst keine Angst vor einem Unfall haben. Ich glaube, dass Mr. Soul nach so vielen Jahren Erfahrung ein richtig guter Pilot ist. Er fliegt, und wir fliegen mit."
Dann gibt Mina Jimin noch ein Küsschen auf die Stirn, geht zurück zu ihrem Sitz, schnallt sich an und reicht sofort ihre Hand zu Jimin rüber. Mehr kann sie nicht tun. Und das ist furchtbar wenig. Ab jetzt steckt sie ihre ganze Konzentration in ein zuversichtliches Gesicht und die Ausstrahlung, dass das alles gut gehen wird.
Die riesige Maschine fängt an zu vibrieren, und Jimin kneift sofort ganz fest Minas Hand. Dann ist als allererstes die Stimme von Mr. Soul zu hören, der über Lautsprecher auf koreanisch und amerikanisch sich selbst vorstellt, alle Passagiere begrüßt, ein paar Details über den Flug erzählt und eine gute Reise wünscht. Er bittet, sich mit jeder Frage und jedem Wunsch an das Bordpersonal zu wenden und den Flug einfach zu genießen.
"So lange es nicht Nacht ist, werde ich Ihnen ab und zu erzählen, was grade unter uns und den hoffentlich seltenen Wolken zu sehen ist. Aber auch im Dunklen lohnt sich ein Blick nach unten."
Das Vibrieren wird lauter und doller. Mina lächelt, bis ihr die Gesichtsmuskeln weh tun, und Jimin schaut ihr die ganze Zeit direkt in die Augen. Das Flugzeug rollt los, und die erste Träne kullert. Mina streicht mit dem Daumen über Jimins Handrücken.
"Schau mal raus. dann kannst du sehen, wie riesig hier alles ist. Wir rollen jetzt zur Startbahn."
Durchs Fenster auf der anderen Seite ist der hohe Tower zu sehen, aber Jimins Blick bleibt fest auf Mina gerichtet.
"Da drüben. In diesem Turm sitzen die Leute, die genau wissen, welche Flugzeuge grade in der Gegend in der Luft sind. Die entscheiden, wann welche Maschine starten oder landen darf. Und das sagen sie den Piloten per Funk."
Die Maschine holpert über die Betonpiste, biegt ein paarmal ab und hält schließlich am Anfang einer langen, langen Bahn an. Jetzt taucht der Tower direkt hinter Mina im Fenster auf. Jimin macht große Augen.
"Warum sind da so viele Antennen und Drehdinger auf dem Dach?"
Jimin zeigt an Mina vorbei aus dem Fenster. Die dreht sich kurz um und lächelt zum ersten Mal seit Stunden einfach so und ganz ehrlich.
"Das ist der Tower, von dem ich eben gesprochen habe. Da sitzen ungefähr zehn Leute nebeneinander und funken mit den Flugzeugen. Damit das gut klappt, auch bei schlechtem Wetter und großer Entfernung, haben die ganz viele Radargeräte auf dem Dach. Damit können sie immer alle Maschinen sehen, sogar im Nebel und bei Nacht."
Das Motorengeräusch ändert sich, und Jimin starrt sofort wieder Mina ins Gesicht. Mina hält seine Hand ganz fest. Aber sie hat jetzt wenigstens wieder ein klein bisschen Mut gefasst und kann ihm darum sogar zuzwinkern. Das Flugzeug fährt an, rollt los und nimmt dabei immer mehr Fahrt auf. Mina kann erkennen, wie sich die Klappen an den Flügeln verändern. Auf dem Bildschirm über ihren beiden Sitzen flammt eine Schrift auf. Schnell lenkt sie Jimins Aufmerksamkeit nach oben.
"Weißt du was, Jimin? Ich mag dich. Gleich kommt hier oben die erste Überraschung für dich."
Die Schrift verschwindet, und Mina sieht, dass Jimin tatsächlich gespannt auf den Bildschirm starrt. Dort erscheint jetzt ein Film von unterm Flugzeug, wie die großen Räder über die Startbahn rollen, immer schneller werden und schließlich mit einem ganz kleinen Ruck abheben.
Jimin schlägt schnell die Hand vor den Mund, schaut aber immer weiter hin. Er staunt, wie schnell sich die Räder vom Boden entfernen. Bei einem kurzen Blick nach draußen sieht er schon nur noch die höchsten Wipfel des angrenzenden Waldes. Dann blickt er wieder auf den Bildschirm, wo die Räder langsam in den Bauch vom Flugzeug gezogen und eingeklappt werden. Jetzt geht der Film aus, und es erscheint wieder Schrift.
"So, jetzt ist eigentlich schon alles geschafft. Die Räder klappe ich immer erst ein, wenn ich mir ganz sicher bin, dass wir gut in der Luft sind."
Mina sieht, dass Jimin durchatmet und die Augen schließt. Unaufhörlich laufen kleine, stille Tränen über sein Gesicht, aber sie kann an der Hand spüren, dass er nicht mehr so angespannt ist. Also lässt er wohl grade die ganze Angst aus sich rauslaufen, und das ist viel mehr, als Mina zu hoffen gewagt hat.
Der Flieger ist nun über den Wolken angekommen. Das Wetter ist heute freundlich, viele große Löcher zwischen den strahlend weißen Wattewölkchen zeigen erst die Küstenstädte von Korea, dann viele kleine Inseln im glitzernden Meer. Mina nimmt sich vor, mit Jimin den Platz zu tauschen, sobald sie sich abschnallen dürfen, damit er vielleicht sogar noch was von Japan sehen kann. Und dann die Wolken und das Meer.
"Meine Damen und Herren, unsere aktuelle Reisegeschwindigkeit beträgt 703 Meilen pro Stunde, wir befinden uns in der Höhe von 9786 Fuß, das Wetter ist herrlich. Im Moment sehen Sie unter uns das inselreiche Küstengebiet Südkoreas, gleich werden wir uns östlich wenden und im japanischen Meer die Insel Tsushima überqueren. Wenn wir das japanische Festland überflogen haben, achten Sie mal auf die Farbe des Wassers. Man kann hier genau erkennen, wo die hiesigen Kontinentalplatten enden und dahinter die pazifische Platte in die Tiefsee abfällt."
Auf dem Bildschirm erscheint nun eine Karte, auf der man an einer roten Linie sehen kann, wo das Flugzeug grade ist.
Mina überlegt, ob sie Jimin drauf aufmerksam machen soll. Aber da kommt schon die Stewardess und hockt sich vor sie.
"Jimin darf sich jetzt abschnallen. Soll ich helfen?"
Zack öffnet der Junge die Augen und schaut gespannt auf die Hände, die gekonnt seinen Gurt öffnen und ihn freigeben.
"Setz dich am besten so, dass du aus dem Fenster schauen kannst."
Jimin setzt sich quer auf Minas Schoss, die ihren Arm um ihn legt und zum Fenster zeigt. Jimin reckt seinen Hals und versucht, da unten etwas zu sehen.
"Wieso ist hier oben so viel Watte? Und warum fällt die nicht runter?"
Der Büromensch schnaubt verächtlich, und Mina schaut sich erschrocken um. Aber auf zwei anderen Gesichtern sieht sie ein wohlwollendes Schmunzeln. Das beruhigt sie wieder.
"Weil das keine echte Watte ist. Das sind die Wolken von oben. Die bestehen nur aus ganz leichten, winzigsten Wassertröpfchen, und die sind zu leicht zum Runterfallen. Nur wenn die sich aneinanderkleben, werden sie zu größeren Regentropfen, die zu schwer sind und runterregnen. Aber über den Wolken regnet es nie."
Endlich dürfen sich auch alle anderen Passagiere abschnallen, und Jimin darf ganz ans Fenster gehen. Kurz darauf klappert es hinter ihnen, und dann kommt die freundliche Frau mit Getränken, fragt, was sie essen möchten, und legt unauffällig eine Schwimmweste neben Mina ab. Ach richtig! Sie sollte das ja noch mit Jimin üben.
"Tante Mina, ist das da unten Japan?"
Mina schielt über Jimins Schulter.
"Ja, genau. Siehst du da hinten die trübe Luft und die Stadt, die nirgends aufhört? Das ist Tokyo, die Hauptstadt von Japan."
Im Moment läuft es gut. Jimin hat den Start bewältigt und lässt sich gut ablenken, das Personal geht toll auf ihn ein. Allmählich erlaubt Mina sich, erleichtert zu sein. Nur der Meckerheini muss noch weitere 14,5 Stunden still halten ...
Jimin bleibt direkt am Fenster hocken, bis sich tatsächlich die Farbe vom Wasser ändert.
"Schau mal, Tante Mina. Da ist die Linie im Wasser. Das wird ganz schnell viel dunkler!"
Sofort schaut Mina über Jimins Schulter.
"Tatsächlich. Und es sieht aus, als könne man da den Meeresboden sehen, weil das Wasser so klar ist. Ob das wirklich so ist?"
Die nette Stewardess kommt grade mit den Mahlzeiten vorbei und hat diese Überlegung wohl mitgehört. Sie verschwindet kurz im Cockpit. Mina und Jimin setzen sich in ihre Sitze, klappen ihre Tische aus und fangen an zu essen. Kurz darauf erscheint mal wieder eine Schrift auf Jimins Display.
"Ja, genau. Wenn die See ruhig ist, dann kann man aus dieser Höhe den Meeresgrund sehen. Das hast du gut beobachtet. Das ist die pazifische Kontinentalplatte, die da ganz tief abfällt. Hast du schon mal was von den Kontinentalplatten gehört?"
Mina muss schmunzeln. Dieser Copilot wurde vom Himmel geschickt. Jimin hat längst aufgehört zu essen und starrt stattdessen mit offenem Mund das Display an. Auf die Frage von Mr. Soul hin nickt er ganz andächtig, was der natürlich nicht sehen kann. Minas Schmunzeln wird breiter. Endlich ist sie mit dieser furchtbaren Angst von Jimin nicht mehr alleine!
"Ich gehe mal davon aus, dass Du jetzt genickt hast. Sonst muss Deine Tante Dir noch mehr erklären. Die Erde ist ja rund, außen fest und in der Mitte soo heiß, dass sie flüssig ist. Die harte Schale ist aber nicht aus einem Stück sondern in riesige Platten zerbrochen. Und diese Platten schwimmen auf dem flüssigen Erdkern hin und her. Zwischen Amerika und Asien ist vor allem die pazifische Platte. Die ist riesig und schiebt sich nördlich beim Schwimmen. Deshalb gibt es an der Westküste der USA oft Erdbeben. Aber zwischen Asien und dieser Platte gibt es noch zwei weitere, kleinere Platten. Von Norden kommt die nordamerikanische Platte und endet - IN Japan. Von Süden kommt die philippinische Platte und endet - IN Japan. Das meiste von Japan ist aber auf der asiatischen Platte. Wenn jetzt also die pazifische Platte dagegen schiebt, schiebt sie sich praktisch drunter, hebt Japan ein bisschen hoch und schiebt es immer weiter in Richtung Korea. In ein paar Millionen Jahren wird Japan an Korea stoßen, und dann kann man von Busan nach Tokyo laufen. An dieser Drunterschiebelinie vor Japan ist diese Kante so scharf nach unten geknickt. Deshalb sieht man diese Linie, wo das Wasser dunkler wird, so genau. Und jetzt weiter guten Appetit!"
Jimin starrt noch mehrere Minuten lang auf das leere Display, bevor er sich wieder auf sein Essen konzentrieren kann. Das Bibimbap schmeckt echt lecker. Erst, als er den Mund ganz leer gekaut hat, dreht er sich zu Mina hin.
"Hast du das gewusst, Tante Mina? Ich wusste, dass es Platten gibt. Aber ich wusste nicht, dass die so dolle schwimmen, dass die ganze Länder und Kontinente wegschieben können, wenn sie ihnen im Weg sind!"
Mina greift das dankbar auf.
"Da alle Platten voneinander weg und aufeinander zu schwimmen, passiert das an ganz vielen Stellen auf der Erde. Manchmal - wie wahrscheinlich im Fall von Japan - wird dabei der Meeresboden so hoch geschoben, dass da neues Land entsteht. Weil das genau auf so einer Kante von drei Platten liegt, gibt es da ganz oft Erdbeben. Zwischen Afrika und Europa ist das auch so. Afrika schiebt nach Norden. Weil dort das Mittelmeer und das Schwarze Meer liegen, sehen wir nicht, dass Afrika sich einfach drunter schiebt. Aber in den Ländern rund um diese beiden kleinen Binnenmeere gibt es auch dauernd Erdbeben."
"Oje. Bei einem Erdbeben geht doch ganz viel kaputt."
"Ja, und manchmal gibt es dazu noch Tsunamis, und an der Küste gehen ganze Städte unter."
"Dann will ich aber nie in Busan wohnen! Wenn Japan dagegen knallt, verschwindet da ja alles."
Mina stellt fest, dass sie in der ersten Klasse W-Lan hat und googelt nach einem passenden Youtube-Video. Jimin rutscht wieder auf ihren Schoß, und sie schauen sich gemeinsam eine Animation im Zeitraffer an. Zu ihrem Erstaunen schiebt sich dabei Japan nicht gegen Korea, weil die eurasische Platte nämlich auch nach Norden wandert. Jimin kichert.
"Das sieht ja aus, als ob Korea vor Japan davonschwimmt!"
Dann gähnt er herzhaft, und Mina kann das seeeeeeehr gut nachvollziehen. Sie gähnt gleich mit. In Korea ist jetzt erst früher Nachmittag. Aber da sie in der letzten Nacht kaum zur Ruhe gekommen sind und auch noch gegen die Zeit fliegen, freut Mina sich schon auf die baldige Dämmerung. Dann können sie hoffentlich viele Stunden des Fluges durch die verkürzte Nacht hindurch verschlafen und haben in Amerika schon gleich weniger Jetlag, weil sie für koreanische Verhältnisse viel zu früh aufwachen werden nach dem langen Schlaf.
Die Stewardess bringt wieder allen Getränke und stellt an jeden Platz einen Imbiss, falls später nochmal Hunger aufkommt.
Minas Blick fällt wieder auf die Schwimmweste.
"Könnten Sie mir auch die Atemmaskenattrappe bringen? Dann kann ich das alles mal Jimin erklären. Jetzt ist er so entspannt, jetzt dürfte das gehen."
Die nette Frau lächelt und bringt ihr die Atemmaske.
"Jimin, kannst du dich mal verkehrt herum auf meinen Schoß setzen? Dann erkläre ich dir die Schwimmweste und die Spucktüte und die Atemmaske."
Jimin setzt sich anders hin und hört erstaunlich ruhig und geduldig zu, wie Mina ihm zeigt, wo alles verstaut ist, wie man da drankommt und was man damit macht. Dann lässt er sich die Schwimmweste überziehen und erklären, wie sie funktioniert. Er zieht an den Gurten, sucht nach der Pfeife und der Strippe, die die Weste aufpustet.
"Kann das denn passieren, dass ein Flugzeug auf dem Wasser landen muss?"
"Dazu müssten wir glaube ich in einen dicken Tornado geraten. Oder im Nebel bei einem Flughafen landen, der eine superkurze Landebahn hat. Aber das ist alles bei unserem Flug nicht der Fall. Trotzdem ist all das Zeug in jedem Flugzeug vorhanden, damit wirklich für alle noch so unwahrscheinlichen Fälle gesorgt ist."
Hoffentlich frisst er das jetzt so! Mina sieht, dass Jimins Gesicht entspannt bleibt und atmet auf. Jetzt noch die Atemmaske. Da muss sie auch aufpassen!
"Schau mal. Siehst du diese beiden Klappen da oben über unseren Stühlen? Wenn ..."
Mist, ist das schwer! Mina winkt die Stewardess ran und bittet sie, möglichst harmlos den Druckabfall in der Kabine zu erklären. Die hat das zum Glück schon ganz oft gemacht und kriegt es hin, dass Jimin das Prinzip der Maske kapiert, ohne Horrorvorstellungen vom Worst Case zu entwickeln.
"Wenn wenn wenn das jemals passieren sollte, dann wird deine Tante sich erst ihre Maske aufsetzen und dann dir bei deiner helfen. So ist es ganz sicher, dass ihr das beide rechtzeitig schafft."
Jimin nickt stumm, und Mina weiß ganz genau, dass es da oben in dem kleinen Kopf jetzt anfängt zu rattern. Jimin gähnt schon wieder und lehnt sich gegen Mina. Sie legt einfach ihre Arme um ihn und fängt leise an, ihm eine Geschichte zu erzählen. Jimin darf ihr immer mal einzelne Wörter sagen, die sie dann in die Geschichte einbauen muss. So hört er konzentriert zu, weil er auf seine Wörter wartet, und bleibt noch ein bisschen wach, damit er dann richtig fest schlafen kann. Hoffentlich.
Abraham Soul meldet sich wieder für alle über Lautsprecher.
"So, verehrte Fluggäste, wenn sie mal durch die Fenster nach vorne schielen, dann sehen sie bereits, wie uns die Dunkelheit entgegen"fliegt". Demnächst wird auch hier oben die Dämmerung einsetzen. Ich möchte Sie bitten, im Interesse aller, dann weniger und leiser zu reden, elektronische Geräte nur noch ohne Ton oder mit Kopfhörer zu verwenden und sparsam mit Licht zu sein. Der Service ist selbstverständlich weiter für Sie da, aber die meisten werden versuchen, etwas Schlaf zu bekommen, und das sollten alle respektieren."
Mina muss in sich rein grinsen. Das galt dann wohl der Schulklasse ...
"Die Toiletten bleiben selbstverständlich in Betrieb, aber auch das muss man nicht im ganzen Flugzeug hören. Bevor sie einschlafen, vergewissern Sie sich bitte noch einmal, dass Sie den kürzesten Weg zu Ihrem Notausstieg kennen und schauen Sie einmal runter auf den nächtlichen Pazifik.
Wir liegen gut in der Zeit und haben stabiles Wetter. Gesundem Schlaf steht also nichts entgegen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und eine gute Nacht!"
Gleich danach kommt bei Jimin wieder Schrift.
"Und dir, Jimin, wünsche ich ganz besonders eine gute Nacht, denn du hast ja ein bisschen Nachholbedarf. Schau, wenn es dunkel ist, einmal runter. Wenn Du da winzige Lichter siehst, dann sind das Schiffe. Oder Meeresleuchten, ausgelöst durch die riesigen Fluken eines Schwarms von Walen. Die nimmst du dann mit in deine Träume, und wenn du aufwachst, sind wir schon fast da. Schlaf gut!"
Draußen bricht jetzt tatsächlich die Dämmerung herein, und es wird sehr schnell dunkel.
"Hast du noch mal Hunger, oder willst du eigentlich nur noch schlafen?"
Jimin kriegt kaum noch die Augen auf.
"Schlafen."
"Dann such dir mal deine Zahnbürste raus und geh damit auf Toilette. Soll ich mitkommen?"
Müde kramt Jimin in seinem Rucksack und nickt dabei bloß. Er kann kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Damit hier nicht doch noch was schief geht mit den anderen Passagieren, geht Mina also mit zur Toilettenkabine. Mina hat auch ihre Kulturtasche mitgenommen. Abwechselnd gehen sie auf Toilette und putzen sich die Zähne. So sind sie schnell fertig. Mina greift sich die Hand von Jimin und lotst ihn zurück zum Sitz. Die Stewardess kommt dazu, legt Jimins Sitz flach, gibt ihm ein Kissen und eine Decke und schnallt ihn wieder an.
"Wenn du schläfst, hörst du unsere Durchsagen nicht. Darum ist es besser, wenn du schon angeschnallt bist. Das heißt aber nichts Schlimmes. Es ist alles in Ordnung. Okay? Dann schlaf ganz schnell."
Mina setzt sich einfach neben Jimin auf den Boden und streichelt ihm über die Hand, bis sie das Gefühl hat, dass er einschläft. Er liegt rund wie ein Kleinkind gekugelt, in die Decke gewickelt und mit den beiden Schäfchen im Arm, als wäre er völlig ruhig und zufrieden. Aber Mina hat langsam das Gefühl, dass das alles ZU glatt geht. Wer weiß, was diese Nacht noch bringt? Sie selbst wird jetzt jedenfalls auch sofort schlafen, jede Minute zählt. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren die Hölle.
Mina ist grade an ihrem Sitz angekommen und greift nach ihrer Decke, als die Maschine kurz in ein Luftloch "sackt". Mit einem lauten Schrei und völlig desorientiertem Blick sitzt Jimin senkrecht und versucht, sich vom Gurt zu befreien. Mina springt zurück zu ihm und nimmt ihn in den Arm, aber Jimin schreit immer weiter. Sie drückt seinen Kopf gegen ihre Schulter und bedeckt sie beide mit Jimins Decke. Der arme Junge klammert sich in seiner Panik an sie, dass ihr alle Muskeln weh tun.
Der Miesepeter fängt an zu schimpfen, die Stewardess kommt, macht bei Jimin ein kleines Licht an, schnallt Jimin irgendwie ab und hilft Mina, sich gemeinsam mit Jimin in dem Sitz einzuknäulen. Sie hat einen besonderen Gurt dabei, schnallt die beiden zusammen an und deckt sie zu. Ihr Blick schweift durch den Raum, ob noch jemand Hilfe braucht. Dann eilt sie zum Cockpit. Jimins panische Schreie gehen langsam in leises Schluchzen über. Mina fängt in ihrer Ratlosigkeit an zu summen und hält Jimin ganz, ganz fest. Sie streichelt sanft seinen Rücken, atmet tief und gleichmäßig.
Innendrin möchte Mina gerne weinen wie Jimin. Was muss dieses Kind noch alles aushalten? War sie egoistisch, dass sie sein Leben so auf den Kopf gestellt hat? Und was wird diese furchtbare Nacht NOCH alles bringen?
"Ich liebe dich, Jimin. Es ist nichts passiert, und ich bin ganz nah bei dir. Ich passe auf dich auf."
Dieses Mal ist es der Kapitän persönlich, der aus dem Cockpit kommt. Aber noch bevor er den empörten Bürotypen erreicht hat, meldet sich dessen Sitznachbarin zu Wort.
"Wissen Sie was? Der Junge hält mich nicht vom Schlafen ab. Der Junge stört nicht meine Ruhe. Er tut mir nur leid. SIE sind es, der uns allen hier das Adrenalin unter die Decke treibt. Also heben Sie sich doch bitte Ihr egozentrisches Benehmen für jemand anderen auf und belästigen Sie uns nicht weiter. Sie strahlen soviel selbstgerechte Empörung aus, dass es mir allmählich wirklich schwer fällt, mich hier wohl zu fühlen."
Dem Mann fällt die Kinnlade runter, der Kapitän lächelt und Mina atmet tief durch. Schnell flüstert sie in Jimins Ohr.
"Hast du das gehört? Die Frau hat dich verteidigt und gesagt, dass er lieber den Mund halten soll. Lass uns jetzt schlafen. Dann haben wir es bald geschafft."
Der Kapitän kommt kurz zu Mina, fragt, ob es jetzt wieder geht, und spricht dann einfach Jimin an, ohne dass der ihn anschaut.
"Ich bin hier der oberste Chef an Bord, Jimin. Es tut mir leid, dass dich die Turbulenzen so erschreckt haben. Ich kann dir versichern, dass wir nicht fallen. Das Flugzeug fliegt ganz normal gradeaus nach USA. Möchtest du, dass ich dir erkläre, was passiert ist? Vielleicht hast du dann weniger Angst."
Jimin nickt unter seiner Decke, also nickt Mina auch.
"Pass auf. Du kennst Wind. Der weht mal schräg, mal grade die Straße entlang, mal im Kreis. Das heißt, dass sich die Luft bewegt. Hier oben kann es auch vorkommen, dass die Luft nach oben weht.
Unser Flugzeug hängt ja sozusagen mit seinen großen Flügeln auf der Luft und wird getragen. Deshalb sind wir ausbalanciert. Wenn jetzt ein kräftiger Windstoß von unten nach oben kommt, dann trägt der für kurze Zeit das Gewicht vom Flugzeug mit. Dadurch wird das Flugzeug 'leichter', und es fühlt sich an, als ob wir fallen. Aber wir fallen nicht, sondern unser Gleichgewichtssinn spielt uns einen Streich. In Wahrheit steigen wir dabei sogar ein bisschen an."
Die Decke fliegt von Jimins Kopf.
"Wir fühlen uns, als ob wir fallen, und in Wirklichkeit steigen wir dabei???"
Mina wagt nicht zu atmen oder sich zu bewegen. Sie wusste bisher auch nicht, was dieses "Luftloch" auslöst, nur, dass es nicht wirklich gefährlich ist. Hoffentlich glaubt Jimin das jetzt auch! Sie ist jedenfalls unglaublich dankbar für Jimins naturwissenschaftliche Neugierde. Das hat ihn wunderbar abgelenkt.
"Ganz genau, wir sind grade ein winziges bisschen gestiegen. Und darum musst du dir keine Sorgen machen und kannst einfach weiter schlafen. O.K.?"
Jimin nickt, murmelt ein "Danke!" und legt sich wieder hin. Mina fragt vorsichtshalber nochmal nach.
"Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass das nochmal passiert?"
"Unser Wetterradar zeigt, dass da jetzt noch etwa zwei bis drei weitere Aufwinde kommen könnten, dann sind wir wieder in stabilem Luftdruck. Schaffen Sie das?"
"Ich muss!"
Mina lächelt gequält. Hoffentlich gewöhnt sich Jimin daran!
"Ich muss wieder nach vorne. Ich denke, in einer halben Stunde sind wir durch das Wetter durch. Viel Glück!"
Der Kapitän löscht das kleine Licht und geht. Jimin kuschelt sich wieder an Mina.
"Soll ich wach bleiben, bis es vorbei ist? Wenn ich schlafe, schreie ich vielleicht wieder."
Wenn Mina diese Frage beantworten könnte, wäre sie schlauer.
"Ich weiß es nicht, Jimin. Das können wir nur ausprobieren. Lass uns kuscheln. Ich bin auf jeden Fall ganz nah bei dir, ja?"
Jimin hat seine Nase schon wieder in das kleine Kissen gesteckt und die Augen geschlossen. Also streichelt Mina ihn weiter und hält ihn einfach fest. Etwas anderes bleibt ihr ja gar nicht übrig. Bei den nächsten beiden Aufwinden zuckt Jimin sehr zusammen und beißt in seine Decke, damit er nicht schreit, bei der letzten zuckt er nur noch - aber er schläft wohl doch, denn sonst rührt sich nichts. Erleichtert und erschöpft lässt Mina ihre angespannte Wachsamkeit fahren und darf endlich auch einschlafen.
Es fühlt sich an, als hätte sie nur fünf Minuten gedöst, als die Stewardess Mina weckt. Es ist noch eine Stunde Zeit fürs Wachwerden, Frischmachen und Frühstücken, bis sie sich für den Landeanflug richtig hinsetzen müssen. Völlig gerädert von der Enge mit Jimin zusammen in einem Stuhl richtet Mina sich auf, reckt und streckt sich und zieht erst mal mit ihrer Decke zurück in ihren eigenen Stuhl um. Jimin schläft jetzt so tief und fest, dass sie ihn getrost allein lassen kann.
In all der Aufregung hat sie gestern Abend überhaupt kein Lebenszeichen oder Lagebericht an John geschickt. Immer mit einem Auge und dem ganzen Herzen bei Jimin, fängt Mina an, eine lange Nachricht an John zu schreiben, was alles seit vorgestern Nacht passiert ist. John antwortet zügig, dass er Nuri zur Schule bringt und sie dann vom Flughafen abholt. Und dass er ganz stolz auf sie beide ist, dass sie es trotz aller Hindernisse und Ängste geschafft haben.
Als die anderen Passagiere alle ihre Runde durch den Toilettenraum gedreht haben, will Mina Jimin mit sanften Streichelbewegungen wecken, hört aber gleich wieder auf. In Korea ist es jetzt mitten in der Nacht. Also ist es eigentlich verrückt, ihn zu wecken. Sie beschließt, erst selbst ins Bad zu gehen. Etwas erfrischt kommt sie zurück und macht Jimin nun endgültig wach. Oder so was Ähnliches. Denn Jimin sitzt nun zwar aufrecht, er isst sogar was. Aber wach ist er definitiv nicht. Mehr so auf Autopilot geschaltet. Vor dem Anschnallen bringt Mina ihn noch zur Toilette, dann packt sie ihn zurück in seinen Sitz, und er ist sofort wieder eingeschlafen. Sie greift nach seiner Hand, damit sie spürt, wenn er wieder wach wird.
Über Mikrophon meldet sich Mr. Soul, wünscht allen einen guten Morgen, erzählt etwas über ihre Position, die Uhrzeit, das Wetter und die bevorstehende Landung. Jimin schläft. Mit allgemeinem Klicken schnallen alle sich an, stellen ihre Sitze senkrecht und packen schon mal ihre Habseligkeiten in ihr Handgepäck zurück. Mina hält Jimins Hand ganz fest und zählt die Minuten, bis sie endlich am Boden sind.
Die Landung verschläft Jimin komplett, und Mina ist gar nicht böse darüber. So kann wenigstens nichts mehr schief gehen, und sie selbst muss nicht nochmal Energie aufbringen, um irgendeine weitere Katastrophe zu beheben. Irgendwann in seinem Leben wird er nochmal fliegen, und dann kann er auch eine Landung erleben. Aber nicht heute!
Die Maschine setzt auf der Landebahn auf, rollt zum Gate und wird auf einmal ganz still. Alle Passagiere drängen zum Ausgang. Mina bleibt einfach sitzen. Sie kann es kaum glauben, dass sie tatsächlich da sind. Der Pilot, Mr. Soul und die nette Stewardess kommen lächelnd zu Mina und hocken sich um Jimins Sitz drumrum.
"Möchten Sie ein Bild machen, damit Jimin Ihnen hinterher glaubt, dass es uns gibt?"
Mina rappelt sich auf und macht ein paar Bilder von dem schlafenden Jimin mit der Crew drumrum.
"So, und jetzt schnappen Sie sich Ihren kleinen Engel, und wir bringen Sie durch die Kontrollen und zu Ihrem Gepäck."
"Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich bin, dass Sie alle uns so durch diesen Flug geholfen haben. Dieses Kind hat schon so viel Furchtbares erlebt. Aber ich konnte einfach nicht noch länger in Korea bleiben, ich musste nach Hause."
Mr. Soul schnappt sich Jimins Rucksack.
"Ich hatte das Gefühl, dass es nur noch schlimmer werden würde, wenn wir Sie nicht mitgenommen hätten. Seine Angst wäre bei jedem vergeblichen Versuch größer geworden. Und wir haben es ja alle miteinander geschafft."
Der Pilot schnallt Jimin ab und hebt ihn in Minas Arme. Jimins Kopf sinkt auf Minas Schulter, und so gehen sie gemeinsam los. Da alle anderen schon weg sind, kommen sie zügig durch die Passkontrollen, zum Gepäck und durch den Zoll. Mr. Soul schiebt das Gepäck noch bis in die Ankunftshalle, wo John auf sie wartet.
"Nochmal tausend Dank, dass Sie sich so wunderbar auf Jimin eingestellt haben."
"Nicht der Rede wert. Der Mann hat mich einfach aufgeregt - ich hab ihm den Triumph nicht gegönnt. Wenn Sie möchten, können Sie mir ja mal berichten, wie Jimin sich hier eingelebt hat."
Er drückt Mina eine Visitenkarte in die Hand, verabschiedet sich und geht.
John übernimmt den Gepäckwagen und lotst Mina zum Parkhaus. Er nimmt Mina das schlafende Kind aus dem Arm und bettet Jimin auf die Rückbank. Dann verstaut er das Gepäck und schiebt Mina sanft auf den Beifahrersitz.
"Du darfst abschalten, Schatz. Ich bin stolz auf dich, dass du das alles so toll überstanden hast. Jetzt übernehme ich."
"Du kannst dir nicht vorstellen, WIE erleichtert ich bin, dein Gesicht zu sehen und deine Stimme zu hören. Diese Schreie sind mir so durch und durch gegangen. Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt. Ich war so hilflos!"
Mina sinkt schweigend in ihren Sitz zurück, schließt die Augen und lässt ihren Tränen freien Lauf. John lenkt den Wagen vorsichtig aus dem Parkhaus und nach Hause.
Auf einmal hören sie von hinten eine verschlafene Stimme.
"Warum weinst du, Tante Mina? Hab ich was falsch gemacht?"
Mina zuckt ein bisschen zusammen. Dann dreht sie sich zu Jimin um.
"Nein, mein Schatz. Ganz bestimmt nicht. Du warst der tapferste Jimin aller Zeiten heute Nacht. Wir sind angekommen in Amerika. Jetzt fahren wir nach Hause, und gleich darfst du in deinem neuen Bett in deinem eigenen Zimmer weiter schlafen.
Ich ... ich weine, weil ich sehr, sehr müde und erleichtert bin. Weil ich Angst gehabt habe und die jetzt loslassen darf. Aber nicht wegen dir! Du und ich - wir haben eine große Herausforderung bewältigt."
Als John das Auto in die Einfahrt lenkt, wird Mina nochmal wach. John schiebt sie sanft in Richtung Haustür.
"Geh einfach schlafen. Und wage es nicht, dir einen Wecker zu stellen. Der Jetlag läuft dir nicht weg."
Als Mina im ersten Stock zum Schlafzimmer abbiegt, kann sie noch sehen, dass John den schlafenden Jimin in sein Zimmer trägt und mit dem mobilen Teil ihres alten Babyphones wieder rauskommt.
"Gute Idee!"
"Kopf ausschalten, du bist nicht mehr dran. Schlaf gut, Liebling!"
.....................................................
3.10.2021 - 17.8.2022
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top