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Leise Gitarrenklänge füllen den Raum, während der Mann vor mir immer wieder mit seinen Fingern über die Saiten streicht. Er findet nur selten Zeit sein Lieblingsinstrument zu spielen, aber wenn er es tut, dann hört er erst nach frühestens einer Stunde auf. Das Licht der Mittagssonne scheint auf seine braune Gitarre.

Er spielt die Akkorde von ,,Living Proof", einem Lied aus meinem Debütalbum. Dann setzt er mit seiner Stimme eine Oktave tiefer als ich in der originalen Aufnahme ein und singt mehrere schiefe Töne hintereinander. Trotzdem klingt sein Gesang für mich wunderschön. Sebastians Stimme ist dunkel, aber nicht so sehr, dass sie Furcht einflößend klingt.

Sein Blick, der meinen nicht loslässt, zaubert ein Lächeln auf meine Lippen. Ich liebe diesen Mann. Während er singt lege ich meine Hand an seine Wange und streiche über seine kleine Narbe. Meine eigene Narbe finde ich abstoßend, seine hingegen lässt ihn nur noch hübscher wirken, als er sowieso schon ist.

Sebastian lässt die letzten Töne ausklingen und beginnt dann die Akkorde eines anderen Lieds zu spielen. Sofort wird meine Haut von einer Gänsehaut überzogen, denn er sing ,,Daylight" von Taylor Swift - mein Lieblingslied aus ihrem neuen Album.

,,I don't wanna look a anything else now that I saw you. I don't wanna think of anything else now that I thought of you."

Die Worte, die seinen Mund verlassen, rufen ein heftiges Kribbeln in meinem Bauch hervor, wie kleine Schmetterlinge - oder eher Pottwale - die versuchen sich zu befreien. Mein Freund beendet das Lied mit dem letzten Akkord und legt dann die Gitarre zur Seite. Eine Träne löst sich aus meinem Augenwinkel.

,,Das war wunderschön", meine ich der Wahrheit entsprechend. Er trifft vielleicht nicht jeden Ton perfekt, aber die Emotionen, die er ausstrahlt, sind echt. Und genau das ist das, was ich an Musik so schätze - wahre Gefühle.

Einen Augenblick starren wir uns nur gegenseitig an. ,,Ich liebe dich", unterbricht er die Stille und umfasst mein Gesicht mit seinen großen Händen. Mein Grinsen wird, sofern das möglich ist, noch breiter. Anstatt etwas zu erwidern küsse ich ihn und das Gefühl in meinem Bauch verstärkt sich.

,,Ich liebe dich auch", wispere ich und reibe meine Nase sanft an seine, bevor ich unsere Lippen wieder vereine. Seine Lippen drücken fester als beim vorherigen Kuss gegen mein und kurz darauf bittet seine Zunge um Einlass. Mein Herz trommelt gegen meine Brust.

Im nächsten Moment vernehme ich ein Klopfen an der Wohnungstür. Verwundert schaue ich zu Sebastian, da ich niemanden eingeladen habe.

,,Hast du jemanden eingeladen?" Ich schüttele den Kopf. Er erwartet dann wohl auch niemanden.

Ich laufe zur Tür und greife nach dem Hörer. ,,Hallo?", spreche ich, erhalte aber keine Antwort. Dann blicke ich durch den Türspion und erkenne eine bekannte Gestalt.

Shawn.

Was macht er denn hier? Und woher weiß er, dass ich hier wohne? Ich runzele die Stirn und öffne dann zögernd die Tür. Die kalte Luft des Treppenhauses strömt mir sofort entgegen.

Zögernd begrüße ich ihn mit einem kurzem ,,Hey" und erzwinge ein lächeln. Mein gesamter Körper spannt sich an, bestimmt wegen der Kälte. Merkwürdig. Wenigstens schlägt mein Herz in einem ruhigen Rhythmus.

,,Hey." Er kratzt sich am Hinterkopf und spricht dann weiter. ,,Ich war vorhin bei deiner alten Wohnung, aber ein älterer Mann hat mir die Tür aufgemacht. Roger hat mir dann deine Adresse gegeben, nachdem ich ihn angerufen habe."

Ich nicke. ,,Ja, ich bin umgezogen." Meine Miene ist ausdruckslos. Das ist die einzige Möglichkeit, wie ich mit dieser Situation umgehen soll. Shawn kommt mir gerade wie ein Fremder vor und das, obwohl ich ihn so gut kannte. Damals. Dieser Gedanke löst ein Stechen in meinem Brustkorb aus - ich habe Shawn verloren.

Es herrscht Stille. Ich weiß nicht wirklich, was ich sagen soll. Früher wäre so eine Situation nicht eingetreten, denn einer von uns hatte immer etwas zu sagen. Aber Dinge ändern sich. Ob sich seine Gefühle zu mir auch geändert haben? Eigentlich sollte mich das gar nicht interessieren, immerhin bin ich glücklich mit Sebastian zusammen, weshalb ich diesen Gedanken in die hinterste Schublade meines Verstandes schiebe.

,,Ähm, möchtest du reinkommen?", biete ich ihm an, nachdem wir einige Sekunden rumgestanden habe.

Überrascht schaut er zu mir. Hat er etwa gedacht, ich würde ihn nicht hereinbitten? Oder dachte er vielleicht sogar, dass ich ihn direkt wieder wegschicken würde? Wenn ich zurückblicke, wie ich ihn damals abserviert habe, ist das verständlich. Meinetwegen ist unsere Freundschaft zu Brüche gegangen. Ich habe nicht mehr mit ihm geredet, weil ich es nicht ertragen habe, ihm damit weh zu tun. Ich war diejenige, die ihm nicht mehr in die Augen schauen konnte, weil ich sonst denselben Schmerz empfunden hätte wie er. Es war das Beste für uns beide, den Kontakt so klein wie möglich zu halten. Ich durfte seine Gefühle nicht erwidern.

Shawn tritt in die Wohnung und blickt durch die Wohnung. ,,Sieht schön aus." Vor einem Bilderrahmen, das an der beigefarbenen Wand hängt, bleibt er stehen. Auf dem Bild küssen Sebastian und ich uns vor dem Eiffelturm. Wir waren damals erst seit einigen Wochen zusammen.

Shawn schmunzelt, was seine kleine Narbe auf der Wange herausstechen lässt. Ihre waagerechte Form erinnert mich an die Narbe von Sebastian, nur das seine sich unter seinem Nasenflügel befindet.

,,Schatz, ich-", höre ich Sebastians Stimme, der gerade den Flur betritt aber aufhört zu sprechen, als er Shawn sieht. ,,Hey! Ich bin Sebastian, Camilas Freund." Der Blondhaarige reicht dem Kanadier höflich die Hand, die dieser annimmt.

,,Shawn, freut mich dich kennenzulernen", stellt der Braunhaarige sich lächelnd vor.

,,Also, ich muss jetzt zur Arbeit." Sebastian läuft ins Schlafzimmer, weshalb Shawn und ich wieder alleine im Flur stehen bleiben.

Schon wieder sagt keiner von uns ein Antwort. Immer wieder schaut Shawn zu mir herüber, nur um dann den Blick abzuwenden, sobald ich ihn anschaue.

Die Schlafzimmertür öffnet sich und mein Freund erscheint in seinem schwarzen Trainingsanzug aus Nylon. Um seiner Schulter hängt eine Tasche. Er sieht in diesem Anzug verdammt heiß aus. Mein Freund scheint meine Blicke zu bemerken, weshalb er zu mir kommt und sich zu meinem Gesicht runter beugt.

,,Wenn du willst kann ich den Anzug später anlassen", flüstert er in einer tiefen Tonlage in mein Ohr und ein Kribbeln fährt meine Wirbelsäule entlang. Ich beiße mir auf die Lippen. Die nächsten Worte richtet er an mich und Shawn. ,,Ich muss dann jetzt los."

Er verabschiedet sich von uns, gibt mir einen Abschiedskuss und verlässt dann die Wohnung.

,,Du siehst glücklich aus." Shawns Augen leuchten bei seinen Worten. ,,Ich bin froh, dass du jemanden gefunden hast, der dir gut tut." Er klingt erleichtert, aber irgendetwas in seiner Stimme ist anders. Es ist, als würde er leiden.

,,Ja, er macht mich wirklich glücklich", entgegne ich ihm grinsend.

Shawn murmelt noch etwas, aber ich verstehe nicht was er sagt. Dann reibt er die Hände aneinander. ,,Ich bin hier, weil ich mit dir reden wollte."


Worüber möchte Shawn wohl mit Camila sprechen?

Ich habe beim Schreiben dieses Kapitels ,,Feel It Twice" gehört, weil es irgendwie echt gut gepasst hat. Vielleicht merkt man das ja an einigen Stellen. Es interessiert zwar niemanden, aber ich wollte das irgendwie dazu schreiben 😂

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