Um an einem anderen Tag zu fliegen
Ein Schritt. Zwei Schritte. Drei Schritte. Sie hörte sie von außerhalb des kleinen Zimmers, in dem sie sich gerade befand. Bald würden das ihre Schritte sein. Ihre Schritte hinaus in die Freiheit.
Die Zellentür öffnete sich, der Gefängniswärter, der ihr jeden Tag das Essen gebracht und sie hin und wieder zum Trainingsplatz eskortiert hatte, wies sie an, hinauszukommen, wobei er ihre Hände hinter ihrem Rücken in Fesseln legte.
„Das ist das letzte Mal, Miss Ree."
„Ich werd's nicht vermissen", erwiderte sie grinsend.
Ein Schritt, zwei Schritte, drei Schritte machte sie auf dem Metalluntergrund des Gebäudes, in dem sie festgehalten worden war. Bald würde sie wieder draußen sein. Richtig draußen. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten.
Thane hatte recht gehabt. Und ein wenig hasste Ciena es, dass er Recht hatte. Weil sie weiterleben musste, und ihren Eid verletzte. Sie kam sich furchtbar vor. Aber sie konnte nicht vergessen, was Thane gesagt hatte, besonders dieser eine Satz wiederholte sich immer und immer wieder in ihrem Kopf.
»Ist das Imperium uns treu geblieben?«
Nein. Nein, das war es nicht. Aber darauf kam es bei einem Eid nicht an. Sie hatte ihn geleistet, nicht das Imperium. Sie musste ihn erfüllen und loyal bleiben. So war es einfach richtig...
Aber dann dachte sie an all die Dinge, die das Imperium der Galaxis angetan hatte. Zu all dem Schmerz, den es verursachte... und all dem Schmerz, den es noch hätte verursachen können, wenn die Rebellen nicht den Todesstern – beide Todessterne – vernichtet hätten. Aber der bloße Gedanke daran machte sie ganz krank. Sie dachte an Alderaan... aber auch an ihre Freundin Jude, an Berisse, die die Rebellion auf dem Gewissen hatte, und wollte schon wieder losheulen. Das würde sie den Rebellen nie verzeihen... so wenig, wie sie dem Imperium die Zerstörung Alderaans und den Bau des zweiten Todessterns verzeihen konnte. Inzwischen hatte sie einsehen müssen, dass der Bau des ersten Todessterns ebensowenig einen Krieg hatte verhindern sollen wie der des zweiten. Man hatte damit schon kurz nach dem Ende der Klonkriege begonnen, wie sie erfahren hatte – damals hatte man unmöglich schon einen Krieg mit den Rebellen vorausgeahnt. Beim Bau dieser Waffe ging es immer nur darum, Angst, Terror zu verbreiten. Die Macht des Imperators zu demonstrieren, auf Kosten großteils unschuldiger Bürger, damit niemand es mehr wagte, sich gegen all die Ungerechtigkeiten zu wehren, die ihnen aufgrund des Imperiums widerfuhren.
Ciena lief immer noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie an ihre erste – und gleichzeitig zum Glück einzige – Begegnung mit dem Imperator dachte... und hoffte inständig, dass sie niemals wieder jemandem gegenüberstehen musste, der ein Gefühl bei ihr auslöste, wie es Palpatine und Vader getan hatten.
Nach allem, was sie durchgemacht hatte, begann die Jelucanerin erstmalig darüber nachzudenken, ob diese Regeln über Ehre, mit denen sie aufgewachsen war, wohl einfach nicht auf diese Galaxis anwendbar waren, in der so viele immer nur an sich selbst dachten und andere ausnutzten. Ihre Kultur hatte sie an etwas gefesselt, in das sie Tag für Tag mehr den Glauben verloren hatte und das sie schlussendlich gehasst hatte... Etwas, das sie, wenn Thane nicht gewesen wäre, dazu gebracht hätte, ihr Leben zu beenden, nur um ihren Eid nicht brechen zu müssen – und damit sämtliche potentielle Zukunft wegzuwerfen, die sie vielleicht noch vor sich hatte. Ohne Thane wäre sie jetzt nicht mehr am Leben... und würde nicht mehr mit der Tatsache zu ringen haben, dass ein Teil von ihr noch immer zu den Überresten des Imperiums zurückkehren und ihm treu bleiben wollte, trotz ihrem Hass gegenüber dem, was aus dem Imperium geworden war.
Nicht ein Mal zweifelte sie daran, dass der Gedanke hinter den Regeln ihrer Kultur gut war... Die Moralvorstellung ihres Volkes war gut, es waren nur die schlechten menschlichen und nichtmenschlichen Wesen, die diese Vorstellung nutzten, um Leute wie sie auszunutzen, die sie gefährlich machten. Der Gedanke machte sie krank. Und er erinnerte sie an den Abend kurz vor der Verhandlung ihrer Mutter ein paar Jahre zuvor.
Jener Abend, an dem sie erfahren hatte, dass sich aus Angst niemand mehr an die Gesetze ihrer Kultur gehalten hatte... an dem einzig Thane vor ihrer Tür aufgetaucht war, um ihnen beizustehen.
Wo ihre Mutter wohl war? Sie wollte gar nicht daran denken. Ein wenig wünschte sie sich, sie hätte damals die Regeln gebrochen und ihr geholfen. Jetzt wusste sie nicht einmal, ob sie überhaupt noch am Leben war. Wie lange war die Verhandlung her? War Jelucan immer noch unter imperialer Kontrolle?
Wie viel Zeit war seit ihrer Festnahme vergangen? In ihrer kleinen Zelle hatte sie vollkommen das Zeitgefühl verloren.
Gedankenverloren wie sie war, bemerkte sie gar nicht, dass sie gerade ihren ersten Schritt außerhalb der Basis getan hatte, bis ihre Stiefel den Sand berührten. Ihr erster Schritt in Freiheit.
Sie hob den Kopf. Jetzt, da sie endlich wieder draußen war... es war komisch, wieder eine Landschaft zu sehen, die sich unendlich weit dem Horizont entgegen zu strecken schien anstelle der beschränkten Räumlichkeiten des Gefängnisses.
Es fühlte sich wie eine halbe Ewigkeit an, seit sie zuletzt etwas gesehen hatte, das sich auch nur ansatzweise hiermit vergleichen ließ, da sie selbst vor ihrer Gefangennahme die meiste Zeit im Weltraum verbracht hatte, wo es so etwas wie einen Horizont gar nicht gab.
Sie wusste noch nicht, wohin es jetzt gehen würde. Man hatte ihr nur gesagt, dass sie auf einen der Planeten, die ehemals unter imperialer Herrschaft gestanden hatten und noch immer sehr unter den Folgen litten, geschickt werden würde, und dass ihre Mission war, zu helfen, wo sie konnte.
Das war das Urteil der neuen Republik über ihr Schicksal gewesen. Zwei Jahre soziale Arbeit auf Welten, die das Imperium im ein oder anderen Sinne zerstört hatte. Viele der anderen Gefangenen hatten ein ähnliches Urteil bekommen. Es machte Sinn. Jene, die ihre Augen vor dem verschlossen hatten, was das Imperium allen möglichen Spezies und Planeten mit ihrem Handeln angetan hatte, oder sogar dabei geholfen und es unterstützt hatten, sollten die Folgen nun aus nächster Nähe sehen, mit den Betroffenen sprechen, mit ihnen leben und arbeiten.
Ciena hatte schon vor einer ganzen Weile begriffen, dass diese Dinge geschahen, also war das für sie keine neue Information... aber trotzdem war sie irgendwie froh, helfen zu können, nach allem, woran sie in den vergangenen Jahren beteiligt gewesen war.
Natürlich vertraute man den ehemaligen Imperialen nicht genug, um sie einfach irgendwo abzusetzen und ihr Ding durchziehen zu lassen. Immerhin gab es genug – wenn auch sicherlich nicht alle so dachten – die, sobald sie die Chance bekamen, einfach abhauen würden. Daher waren sowohl Einheimische als auch ein paar Rebellen, die zu jenem Zweck auf jedem dieser Planeten stationiert worden waren, dafür zuständig, sie im Auge zu behalten, damit das nicht geschah.
Das klang ein wenig wie Sklaverei, aber man hatte ihnen humane Behandlung und vernünftige Mahlzeiten versprochen – soweit der hilfsbedürftige Planet das zuließ –, und außerdem zwei freie Tage die Woche.
Wenn sie sich vorbildlich benahmen, würde man ihnen sogar ein wenig Urlaub zugestehen, in dem sie überall hinreisen konnten – wenn auch unter Beaufsichtigung. Arbeitete man die Strafe ohne Zwischenfälle ab, so bekam man eine Arbeitsberechtigungsbescheinung ausgestellt und konnte damit wieder so ziemlich überall in der Galaxis Arbeit bekommen – sowohl in den zur Neuen Republik gehörigen, als auch in den unabhängigen Systemen, die zu recht großen Teilen Handelsverträge mit der Neuen Republik geschlossen hatten.
Alles in allem klang das gar nicht mal so schlecht – und allemal besser, als Ciena es auch nur zu träumen gewagt hatte. Sie hatte mit lebenslänglicher Haft in irgendeinem Gefängnis am Ende der Galaxis gerechnet – vielleicht sogar mit einer Todesstrafe. Aber nicht damit, dass man tatsächlich versuchte, die ehemaligen Imperialen durch soziale Arbeit in die Gesellschaft einzugliedern.
Vielleicht könnte das hier tatsächlich funktionieren. Vielleicht war die Neue Republik tatsächlich gar nicht mal so schlecht.
„Wird das noch lange dauern?", fragte sie den Gefängnisangestellten, der sie gerade nach draußen geführt hatte. „Wie viel länger werde ich noch warten müssen?"
„Kannst es wohl gar nicht erwarten, hier wegzukommen, was?", fragte er, fast schon ein wenig grimmig.
Aber sie schüttelte den Kopf.
„Es ist weniger das, als... Ich... ich kann es bloß kaum erwarten, wieder zu fliegen", erwiderte sie mit dem strahlendsten Lächeln, das sie seit Monaten aufgesetzt hatte.
Sie wusste, dass sie fliegen würde – also, natürlich würde sie nicht selbst die Pilotin sein. Wahrscheinlich würde man sie nicht einmal einen Fuß ins Cockpit setzen lassen. Aber sie würde zumindest wieder in der Luft sein. Dieses Gefühl hatte sie unglaublich vermisst, mehr als irgendetwas sonst.
Ihre Finger zitterten vor Ungeduld. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Sie sollte sich nicht zu früh freuen. Immerhin wusste sie noch nicht, wer sie überwachen würde. Vielleicht würde die Person furchtbar-
„Ich bin hier, um Ciena Ree abzuholen?", meldete sich eine Stimme, die Ciena überall erkannt hätte. Sie musste nicht die Augen öffnen, um zu wissen, wer es war –, aber sie öffnete sie trotzdem, weil sie ihn ansehen wollte, und ertappte sich dabei, zu denken, dass er noch besser aussah als beim letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte. „Thane Kyrell, Corona-Staffel. Sie sind autorisiert und können sie mitnehmen", bestätigte der Wärter schließlich, nachdem er die Papiere geprüft hatte, und löste ihre Fesseln.
Im ersten Moment überlegte sie, ob sie ihm eine runterhauen oder ihn umarmen sollte – und entschied sich schließlich für letzteres, weil der Wärter noch immer zusah und sie nicht schon gleich einen Strike auf ihrer Akte haben wollte. Thane selbst hätte sie nie gemeldet, das wusste sie wohl.
„Idiot! Du sagtest doch, du dürftest nicht meine Aufsichtsperson sein, weil sie skeptisch sind, ob du mich wirklich melden würdest, falls ich Mist baue oder abhaue!", fluchte sie, den Kopf gegen seine Schulter gedrückt.
„Deine Haare riechen gar nicht nach Heu", murmelte er. „Aber trotzdem gut." Es fühlte sich wie eine halbe Ewigkeit an, dass sie sich zum letzten Mal hatten berühren dürfen. Jetzt, wo sie es wieder durfte, hätte sie am liebsten den ganzen Tag nichts anderes mehr getan. Und kaum hatte sie das gedacht, hatte sie ihre Lippen auch schon auf seine gedrückt. Der Wärter hinter ihnen störte sie nicht. In dem Moment hätte es sie nichtmal gekümmert, wenn das ganze Universum zugesehen hätte. Sie war schon lange nicht mehr wirklich sauer auf Thane. Sie bewunderte, dass er... trotz dem sie auf unterschiedlichen Seiten des Krieges gestanden hatten... trotz allem, was passiert war... immer ihr Thane geblieben war – immer bereit, sein Leben zu riskieren, wenn es nur hieß, dass er ihres vielleicht retten, ihr vielleicht helfen konnte. „Wie geht's deiner Wunde?", fragte er schließlich, als sie sich langsam voneinander lösten.
„Ist inzwischen ausgeheilt", erwiderte sie und grinste. „Würdest du mir jetzt mal verraten, warum du mich doch beaufsichtigen darfst?"
„Darf er nicht", meldete sich eine Frauenstimme hinter Thane. „Zumindest nicht allein."
„Du bist ganz schön spät", bemerkte Thane und drehte sich um.
„Ich dachte, ich geb euch zwei erst ein wenig Privatsphäre, wo ihr euch doch jetzt wieder befummeln dürft."
Sie liefen beide rot an.
„Sag mal was fällt dir eigentlich-", fing Ciena an, die sich neben Thane gestellt hatte, um die Frau anzusehen, mit der sie es hier zu tun hatte. Und als sie sie sah, stockte sie mitten im Satz, als ihr klar wurde, dass sie sie kannte. Vor ihr stand so ziemlich die letzte Person, von der sie je erwartet hatte, sie wiederzusehen. „Kendy?", stieß sie überrascht hervor.
Ihre ehemalige Zimmergenossin grinste.
„Es muss dich jemand mitbeaufsichtigen, der nicht Thane ist, deshalb bin ich hier."
„Ich..." Ciena wusste nicht richtig, wie sie reagieren oder was sie sagen sollte. „Ich dachte, du wärst..."
„Ja, ich weiß. Den Großteil meiner Truppe haben sie bei dem Aufstand auch erschossen. Dass ein paar weggekommen sind, haben sie allerdings nicht unbedingt an die große Glocke gehängt."
„Verstehe..."
Wenn sie ehrlich war, freute sie sich wahnsinnig, Kendy zu sehen. Sie war froh, dass zumindest eine ihrer Freundinnen heil aus dem Krieg herausgekommen war. Es war nur... sie hatte wirklich nicht damit gerechnet, Kendy jemals wiederzusehen. Diese gigantische Galaxis war manchmal wirklich viel zu klein.
Und so gingen sie zu dritt in Richtung Raumhafen, wo Ciena zusammen mit ein paar anderen ehemaligen Imperialen Gefangenen heute abheben und dann auf einen anderen Planeten gebracht werden würde, wo man Hilfe benötigte.
Besagte Andere warteten bereits an Bord des Schiffes, als sie es betraten, und Thane führte Ciena ins Cockpit, während Kendy die anderen in den Aufenthaltsraum des Transporters geleitete.
„Echse-Kröte-Schlange um den Pilotensitz?", scherzte Ciena, als sie das Cockpit betraten.
Thane lachte.
„Irgendwann wieder, aber nicht heute, Copilotin", erwiderte er dann, woraufhin sie ihn mehr als überrascht anschaute.
„Ich darf?"
Sie strahlte.
„Na ja, offiziell nicht, aber die Regierung muss ja nicht alles wissen", sagte Kendy, als sie sich zu den beiden Gesellte. „Ihr fliegt immerhin zusammen, seit ihr Kinder wart. Und du liebst das Fliegen. Aber ich werde trotzdem als Aufsicht dabei bleiben, damit du nicht auf dumme Ideen kommst", erklärte sie dann.
Ciena war es letztendlich völlig egal, ob ihre ehemalige Mitbewohnerin blieb oder ging. Genau jetzt, in diesem Moment, war sie glücklicher, als sie es seit langem gewesen war. Nirgends konnte sie jemals so glücklich sein wie im Cockpit eines Schiffes, besonders, wenn sie es mit Thane teilte. Sie wusste, dass ein Teil dieses Zweifels bezüglich ihres Eides sie bis zum Ende ihres Lebens begleiten und ihr immer zusetzen würde... aber vielleicht konnte sie lernen, damit zu leben.
Sie beiden hatten, obwohl sie dafür die ganze Galaxie hatten überwinden müssen, den Krieg überlebt, um an einem anderen Tag zu fliegen.
Die Zukunft war ungewiss... aber weil er sie gerettet hatte, konnte die Galaxie vielleicht selbst für Ciena eines Tages besser werden als sie zu der Zeit gewesen war, in der sie aufgewachsen waren.
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