Kapitel 04
Erst am späten Abend des nächsten Tages gelang es Gwen wieder mit Rhosyn allein zu sein und ihr zu berichten was sie erfahren hatte. Ihre Hofdame war über die Neuigkeiten entsetzt.
„Das hat er also die ganze Zeit über geplant?“, fragte sie. „Mit Mord davon zu kommen und trotzdem König zu bleiben?“
„Und offenbar auch die Größe des Königreiches zu verdoppeln.“ Gwen trat mit ihrem Stiefel nach einem Graschbüschel. Es erschien ihr als ob wann immer sie beide ernsthaft über etwas reden wollten, sie stets derweil über die Weide wanderten. Gwen hoffte, dass sie nicht anfangen würde die schöne Wiese und den Geruch von Pferden mit den düsteren und nervenraubenden Diskussionen über das Leben im Schloss zu verknüpfen.
„Ich habe noch nie zuvor davon gehört - was für eine Heirat?“
„Eine Bündnisheirat. Ja, ich habe auch noch nicht davon gehört. Offenbar ist es etwas stärkeres als ein normales Bündnis. Die Königreiche werden am Tag der Hochzeit vereint. Es ist eine große Sache. Ein Priester bittet sogar Eirene um ihren Segen für die Zeremonie.“
Rhosyn schaute Gwen an, und ein perplexer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. „Das wird sie aber nicht, nicht wahr? Wie könnte sie jemals einer solchen Sache ihren Segen erteilen?“
„Ich habe ein wenig nachgeforscht. Das Hochzeitspaar kniet nieder, beide halten ihren Kristall in der Hand. Der Priester spricht ein Gebet und sie gibt der Heirat ihren Segen, wenn keiner der beiden Bosheit in seinem Herzen trägt. Solange der Kristall den ich halte glüht, ist es beschlossene Sache.“ Gwen gab einen unglücklichen Seufzer von sich. „Vater hat schon herausgefunden wie das alles funktioniert und er scheint über diesen Teil nicht besorgt zu sein, deshalb denke ich nicht, dass Eirene in diesem Fall ihren Segen vorenthalten wird. Ich glaube nicht, dass ich ‚Bosheit in meinem Herzen trage‘ oder wie auch immer, aber…“
„Gwen, wir können nicht zulassen, dass das passiert!“ Rhosyn schrie die Worte fast heraus. „Und nicht nur um das Leben irgendeines dummen Prinzen zu retten. Dein Kristall darf nicht erlöschen – wir reden hier schließlich über deine unsterbliche Seele! Du hast nichts Böses getan, aber wenn so etwas als Sünde angesehen wird, wirst du…“
„Ich weiß, ich weiß, und ich stimme dir vollkommen zu“, sagte Gwen. „Wir können nicht zulassen, dass das passiert.“
„Also was machen wir?“
Gwen schürzte ihre Lippen. „Ich habe eine Idee.“
„Was? Was, Gwen?“
„Eine ganz simple Idee, eigentlich. Wir erzählen es den Leuten – erzählen es allen!“
Rhosyn zog eine Augenbraue hoch. „Den Plan deines Vaters?“
„Nun, das auch. Aber wichtiger ist, dass wir den Leuten von meinem ganz speziellen Zustand erzählen.“ Gwen hielt ihre behandschuhten und von langen Ärmeln bedeckten Arme hoch um die Bedeutung ihrer Worte zweifelsfrei klarzustellen. „Denk darüber nach – ich werde in der Stadt nur bei offiziellen Zeremonien gesehen, immer nur dann, wenn es sich nicht vermeiden lässt, und ich werde nie jemandem vorgestellt der nicht im Schloss lebt. Keiner aus der Stadt kennt mich, oder weiß irgendetwas über mich. Vater hat das gesamte Personal des Schlosses ausgewechselt und jetzt dürfen nicht einmal mehr die neuen Diener über meinen Zustand Bescheid wissen. Der Prinz wird auch nicht über mich Bescheid wissen, da kannst du Gift drauf nehmen. Der ganze Plan hängt davon ab, dass alles geheim bleibt, richtig? Also lass uns dafür sorgen, dass es alle wissen! Diener, Bürger, einfach alle!“
„Wir laufen einfach herum und erzählen es den Leuten? Das ist eine wirklich einfache Lösung.“ Rhosyn runzelte ihre Stirn. „Aber dein Vater ist nicht dumm, Gwen. Er hat wahrscheinlich auch schon an diese Möglichkeit gedacht. Er wird versuchen dich aufzuhalten.“
„Die nächsten fünf Tage kann er mich tyrannisieren, mir drohen, mich in mein Schlafzimmer im Turm einsperren, was auch immer ihm einfällt. Vielleicht wird er dafür sorgen, dass ich die ganze Zeit über alleine bin und mit niemandem sprechen kann, aber das wird ihm nichts nützen. Selbst wenn ich eingesperrt bin, du wirst es nicht sein, richtig?“
„Wird das genügen? Stell dir das mal vor: Ich soll einfach in der Stadt irgendwelche wildfremden Passanten anhalten und sagen: ‚Hallo, alle miteinander! Wusstet ihr, dass die Tochter des Königs giftig ist?‘ Ich glaube nicht, dass mir viele Leute glauben würden. Davon einmal abgesehen, was ist, wenn dein Vater mich auch einsperrt?“
„Auch wenn er das tut, letztendlich wird er mich dem Prinzen vorführen müssen, der nur wegen mir den ganzen Weg hierher kommt, nicht wahr? Was soll mich davon abhalten, das Geheimnis einfach so heraus zu posaunen? Und wenn der Prinz mir nicht glaubt, werde ich ihm eine überzeugende Demonstration liefern. Das Ergebnis: Vater wird erniedrigt und der Prinz läuft schreiend weg.“
„Und dein Vater explodiert vor Wut.“
„Vielleicht. Wenn ich Glück habe wird er mich vielleicht zu Tode prügeln“, sagte Gwen einfach.
Rhosyn sah ihre Freundin geschockt an.
„Gwen!“
„Ich möchte niemandem wehtun, Rosie! Ich möchte keine Mörderin sein! Wenn er in Rage gerät und mich umbringt, wo liegt das Problem dabei? Sein Kristall im Tempel wird erlöschen, er muss abdanken – er wird nicht mehr König sein! Man könnte es sogar als meine Pflicht ansehen ihn vom Thron zu stoßen!“
„Solche Ideen schlägst du dir besser ganz schnell aus dem Kopf, Gwen!" Rhosyn schnappte sich Gwens Ärmel und drehte sie zu sich herum, um ihr ins Gesicht schauen zu können. „Verstanden? Du darfst nicht einmal ans Sterben denken, geschweige denn davon reden!“
„Ich weiß, ich weiß“, seufzte Gwen. „In den letzten Tagen war ich nicht in der besten geistigen Verfassung und es beeinflusst meine Laune. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, im Grunde geht's mir gut.“
Rhosyn’s mit Besorgnis gefüllte Augen ruhten noch kurz auf ihr, aber dann sah Gwen wie der Blick ihrer Freundin etwas hinter ihr fixierte. Sie vernahm das leise Klappern von Pferdehufen. Gwen drehte sich um, um zu sehen was Rhosyn’s Aufmerksamkeit erregt hatte.
„Nun“, sagte Gwen müde, „wenn man von den Dingen spricht die meine Laune beeinflussen...“
Zirka vierzig Meter entfernt, auf dem Gipfel eines nahe gelegenen Hügels, erschien ein Reiter. Es war Anifall. Langsam kam er auf sie zugeritten. Zwei große Männer, auch zu Pferde, ritten hinter ihm.
Würden sie selbst und Rhosyn so bald eingesperrt werden?
„Mist. Ok Rosie, sie sind wahrscheinlich wegen mir hier. Wenn ich mit ihnen gehen muss, möchte ich, dass du heute Abend anfängst den Leuten alles zu erzählen.“ Gwen sah ihre Freundin verzweifelt an. „Sofort!“
„Das ist ja verrückt! ich kann gar nicht glauben, dass das passiert!“
Sie sahen in grimmigem Schweigen zu, wie Anifail vom Pferd stieg. Auf seinem Gesicht lag ein künstliches Lächeln, als er auf die Beiden zuging. Seine Schritte schienen unbeschwerter zu sein als üblich. Er blieb ein paar Meter von ihnen entfernt stehen und die zwei großen Männer bauten sich hinter ihm auf.
Einen Moment lang betrachtete Anifail die zwei Mädchen. Dann begann er zu sprechen.
„Ach. Ich muss ein privates Gespräch unterbrochen haben, wie schrecklich unhöflich von mir. Verflucht sei diese Arbeit! Warum muss ich nur immer die geflüsterten Gespräche von langweiligen, hohlköpfigen kleinen Mädchen unterbrechen?“
„Vielleicht deswegen weil man euch nicht in die Nähe von Jungs lässt?“, antwortet Gwen hitzig. „Ihr wisst schon, nur vorsichtshalber?"
Mit amüsiertem Gesichtsausdruck verschränkte Anifall die Arme vor der Brust.
„Die Prinzessin sagt mir, dass ich mich nicht an jungen Männern vergreifen soll.“ Er lächelte sie boshaft an. "Ein Esel sollte den anderen nicht Langohr nennen, glaube ich."
“Hauptmann, zahlt man Euch Euren Sold dafür, dass Ihr Euch wie ein Idiot aufführt oder tut Ihr das nur zum Spaß?“, fragte Rhosyn.
„Ich passe nur das Niveau meiner Konversation der Intelligenz meiner Gesprächspartner an“, lachte er während er mit einer behandschuhten Hand in die Tasche griff, die er über einer Schulter trug. „Mir wurde vom König aufgetragen zwei Dinge zu überbringen. Und wie es das Glück will“, sagte er, während er von Rhosyn zu Gwen und wieder zurück blickte, „finde ich beide Empfänger auf einmal.“
„Oh, wirklich? So hübsche Kerle. Ganz für uns allein? Wie süß!“, sagte Gwen und deutete auf die zwei riesigen Wachen hinter Anifail. „Wie heißen sie?“
Beide Wachen versteiften sich bei diesen Worten.
„Oh, die sind nicht für Euch, Prinzessin“, grinste Anifall und zog etwas aus der Ledertasche. Mit seinem behandschuhten Daumen und Zeigefinger hielt er es vor sich ins Licht. „Nein, das ist für Euch.“
Es war eine kleine, glänzende Glaskugel die etwa so groß war wie ein Hühnerei. Die Art wie er das Objekt hielt, ließ vermuten, dass es irgendwie wichtig war. Für Gwen sah es nicht wirklich nach etwas Besonderem aus – trotz des schönen Tages reflektierte es nicht einmal die Sonnenstrahlen.
„Lasst mich raten – Vater ist zunehmend besorgt, dass ich bei seinen Intrigen nicht mitmache und jetzt versucht er unbeholfen mich zu bestechen“, lachte Gwen. „Wisst Ihr, wenn der König mir etwas billiges, schönes und unnützes senden wollte, hätte er nicht irgendeinen dummen Edelstein kaufen müssen. Er hätte einfach Euch eine Lockenperücke aufsetzen und ein Kleid anziehen lassen können, und Euch schicken können.“
Rhosyn versuchte ein Kichern zu unterdrücken.
Anifail lächelte Gwen kalt an.
„Prinzessin, ich habe eine Theorie. Würdet Ihr sie gerne hören?“, fragte er, steckte die Kugel in seinen Ärmel und senkte seine Hände. „Sie handelt davon, wie dumm und berechenbar Ihr seid.“
Gwen versuchte sich eine originelle Antwort einfallen zu lassen, doch Anifail fuhr fort bevor ihr eine einfiel.
„Seht, ich glaube, dass Ihr Eurer Hofdame vom Plan des Königs berichtet habt. Ihr habt wahrscheinlich beschlossen, dass Ihr nicht untätig herumsitzen könnt sondern die Pläne seiner Majestät verhindern müsst, und Ihr wart gerade dabei einen dummen Plan auszuhecken um ebendies zu erreichen.“ Er lächelte ein aalglattes Lächeln. „Habe ich recht?“
Gwen erwiderte nichts.
„Und wahrscheinlich war auch ein bisschen Drama dabei, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Verzweifelte Versuche, die einzelnen Puzzleteile zusammen zu fügen, ein paar ‚Wir werden uns etwas überlegen‘ und ängstliches Händeringen, hmm?“
„Unsere Unterhaltungen gehen niemanden etwas an, Hauptmann“, zischte Rhosyn.
„Ich nehme das mal als 'Ja'“, sagte Anifail und sah Rhosyn mit seinem aalglatten Lächeln an. „Wie ich schon sagte, dumm und vorhersehbar.“
Vielleicht war es seine selbstgefällige Überheblchkeit, die Gwen in Rage brachte, aber egal weshalb, sie konnte einfach nicht mehr an sich halten.
„Ihr redet von Dummheit? Wie dumm werdet Ihr und mein Vater Euch wohl vorkommen, wenn ich dem Prinz, der uns besuchen kommt, erzähle was Ihr für ihn geplant habt? Hmm? Wer wird dann dumm und vorhersehbar dahstehen?
Gwen konnte sehen wie Rhosyn ihr einen ‚Ich wünschte du hättest das nicht gesagt‘-Blick zuwarf, doch Gwen scherte sich in diesem Moment einfach nicht darum.
Anifail sah Gwen mit gespielter Verwunderung an.
„Ach du meine Güte“, sagte er mit einer winzigen Spur von Spott in seiner Stimme. „Habt Ihr Euch das etwa ganz allein ausgedacht. Himmel hilf, was soll ich nur tun?“
„Versuchet mich nur aufzuhalten! Ohne meine Kooperation wird Vaters Plan nicht funktionieren! Er hat bereits mein Leben ruiniert – ich lasse es nicht zu, dass er auch noch das Leben eines anderen zerstört! Er kann mich bedrohen, mich schlagen – es ist mir egal! Um meinen Vater bloßzustellen, würde ich sogar den Arm des Prinzen berühren, wenn ich dazu gezwungen bin. Oder vielleicht werde ich auch einfach unter seinen Augen meinem Vater einen dicken Kuss auf die Wange geben. Oder Euch! Wäre das nicht ein Spaß?“
Die drei standen schweigend da.
„Meine Güte. Ihr würdet Hochverrat begehen?“, fragte Anifail sanft.
„Ohne zu zögern.“
„Nun, das hatte ich bereits befürchtet. Wie schrecklich peinlich.“ Anifail seufzte dramatisch. „All diese Jahre der Arbeit für nichts und wieder nichts, nur weil der König nicht daran gedacht hat, dass seine leicht erregbare Tochter ihre große Klappe bei der ersten Chance die sie bekommt aufreißen und alles ruinieren wird. Ich fürchte er wird ein Exempel an mir statuieren und mich zwingen, von meinem Posten zurück zu treten.
Seine Worte waren entspannt und unbekümmert – beißend ironisch. Der selbstgefällige Hauptmann der Wache dachte noch immer, dass er im Vorteil war und das machte Gwen ein wenig nervös. Trotzdem erwiderte sie Anifails Blick sicher und standfest.
„Ich muss es den Damen zugestehen, Ihr seid zu klug für mich!“, fuhr Anifail fort. „Ich befürchte ich kann nichts tun, außer zurück ins Schloss zu reiten und meine Taschen zu packen. Nachdem der König mich meines Postens enthoben hat, natürlich.“ Er hielt die Glaskugel hoch. „Dürfte ich aber zuerst um einen kleinen Gefallen bitten, Prinzessin. Bevor ich in Schande zurücktrete, gedemütigt von einem siebzehnjährigen Mädchen… Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, Eure Hand küssen zu dürfen?“
Jede bissige Antwort, die Gwen vielleicht gehabt hätte, blieb ihr im Halse stecken.
Ihre Hand küssen?
Was versuchte er zu erreichen? Gwen hatte ein Gefühl, das dem von letzer Nacht nicht unähnlich war – das Gefühl, dass sie verspottet wurde, ohne genau sagen zu können wo der Witz lag.
Sie stand einfach da und versuchte die Absicht des Hauptmanns zu durchschauen. Anfail stand einfach vor ihr, einen spöttischen Ausdruck spöttischer Unschuld auf seinem Gesicht.
„Tu es, Gwen“, sagte Rhosyn plötzlich. „Lass ihn machen. Zieh einfach deinen Handschuh aus und gib ihm wonach es ihm so sehr verlangt!“
Das klang nach einer guten Idee. Gwen warf ihrer Freundin ein schnelles Grinsen zu.
„Gut, Hauptmann!“ Sie lächelte und zog an den Fingern ihres Handschuhs, bis er locker genug war um ihn ganz herunter zu ziehen. Sie hielt ihm ihre bloße Hand entgegen, das Handgelenk leicht gebeugt, wölbte die Augenbrauen und warf ihm einen Blick zu, der ihm die Botschaft vermitteln sollte: Wagt es bloß! Na los, wagt es!
„Nun, das Wichtigste zuerst“, sagte er und warf ihr plötzlich die Kugel die er in der Hand hielt zu. Gwen fing sie mit einer Hand, bevor die Kugel sie treffen konnte und-
Die kleine Kugel war kalt, wurde aber fast sofort warm in ihrer Hand. Ein leichter Schauer überlief sie, obwohl ihr überhaupt nicht kalt war.
Einen Moment lang starrte sie den Kristall verwirrt an. Dann streckte sie mit einem Blick der Verachtung ihren Arm aus und ließ den Kristall los. Er fiel neben ihr ins Gras. Sie suchte nach irgendeiner Reaktion auf dem Gesicht des Hauptmanns, fand aber nichts. Anifail hatte bereits dads Knie vor Ihr gebeugt und hielt ihr seine Hand hin, als ob er eine dargebotene Hand nehmen wollte.
Gwen hielt ihm ihre Hand hin, ein trockenes Grinsen auf ihrem Gesicht, als sie zu ihm hinab sah. Was auch immer sein Plan sein sollte, er würde nicht funktionieren. Wie befriediegend es sein würde ihn hastig zurückweichen zu sehen...
Anifail grinste zu ihr hoch, nahm ihre Hand in seine Behandschuhte und beugte seinen Kopf, als wollte er ihren Handrücken küssen.
Gwen riss ihre Hand schnell aus seinem Griff.
„Nein, lass es ihn machen! Du musst kein Mtileid mit ihm haben, Gwen“, sagte Rhosyn. „Er verdient es! Rühr dich nicht – lass ihn sich selbst verbrennen! Ich möchte zu gern sehen wie seine Lippen aussehen, wenn sie so groß und dick wie Pflaumen sind!“
Gwen stand einfach nur da und starrte auf ihre Hand.
Sie hatte sie nicht wegziehen wollen.
„Ja, sie hat Recht, Prinzessin“, gurrte Anifail, einen kleinen Schimmer von Belustigung in seinen Augen. „Lasst mich Eure Hand küssen. Ich würde mich schrecklich fühlen, wenn ich es nicht täte.“
Wieder streckte Gwen ihm ihre Hand entgegen, weit weniger königlich und unsicherer. Er nahm sie wieder in seine behandschuhte Hand und beugte seine Lippen der glatten Alabasterhaut ihrer Finger entgegen.
Wieder riss sie ihre Hand aus seinem Griff frei und zog sie weg.
„Gwen?“, fragte Rhosyn, ein wenig besorgt. „Was machst du?“
Gwen starrte zuerst auf ihre Hand und dann mit weit aufgerissenen Augen zu Rhosyn.
„Ja Prinzessin, was ist das Problem?“, lächelte Anifail. „Gibt es einen Grund, weshalb ich Eure Hand nicht küssen sollte?“
Sie öffnete ihren Mund und holte tief Luft um zu schreien: „Ihr wisst genau was passieren wird, Trottel!"
Doch kein Laut drang aus ihrer Kehle.
Gwen blieb starr stehen, die Worte lagen ihr auf der Zunge und bettelten förmlich aus ihrem halb geöfneten Mund dringen zu dürfen. In Gedanken sagte sie die Worte, laut und klar, sandte die Nachricht zu ihrer Kehle, wie sonst immer auch. Aber ihre Stimme wollte einfach nicht kooperieren.
Sie versuchte es wieder und wieder.
Sie gab keinen Ton von sich.
„Gwen?“ Jetzt sah Rhosyn wirklich besorgt aus.
„Prinzessin Gwenwyn, meint Ihr etwa, dass ich in Gefahr bin? Meint Ihr, dass ich Eure bloße Haut nicht berühren sollte? Ist es das was ihr zu sagen versucht?“ Anifail lachte, zog seinen Handschuh aus und griff nach ihrer Hand.
Ihre Hand zuckte von ganz allein zurück.
Grinsend, streckte Anifail seinen bloßen Finger aus, um ihre Wange zu berühren. Ihr Genick schien sich wie aus eigenem Willen zu bewegen und sie drehte ihr Gesicht sofort weg. Sie ging einen halben Schritt rückwärts, obwohl sie auch das eigentlich nicht vorgehabt hatte.
Anifail zog seine Hand kichernd weg. Gwen drehte sich um und starrte ihn aus großen Augen an.
„Ihr habt ihre Stimme gestohlen!“, rief Rhosyn. „Elender Bastard!“
„Was? So etwas würde ich nie tun“, sagte Anifail. „Prinzessin Gwenwyn, wie lautet der Name der jungen Frau die dort drüben steht?“
„Rhosyn!“, antwortete Gwen mit Furcht in der Stimme. Ein verwirrter Ausdruck war kurz auf ihrem Gesicht zu sehen. „Aber wie-?“
„Und Euer Name, Prinzessin?“
„Gwenwyn! Warum-?“
„Und plant Euer Vater irgendetwas, das ein junger Prinz der bald bei uns zu Besucht ist vielleicht gerne wissen würde?“, fragt Anifail. „Gibt es einen Grund, weswegen er Euch vielleicht nicht berühren sollte? Gibt es irgendetwas schreckliches über Euer Leben, das Ihr ihm gerne erzählen möchtet?“
Gwen begriff nach kurzer Zeit, dass sie jedes Mal wenn sie eine seiner Fragen beantworten wollte, den Mund zwar öffnen konnte, aber keinen Ton herausbrachte.
„Findet Ihr, dass wir heute schönes Wetter haben, euer Hoheit?“
„Aber ja doch!“ Plapperte Gwen drauf los. Die Worte fluteten nur so aus ihrem Mund: „In der Tat die günstigsten Wetterverhältnisse – die letzten drei Tage waren sehr warm, kaum eine Wolke war am Himmel zu sehen! Die Getreidebauern werden denken, es ist ein Segen, obwohl sie zumindest zwei oder drei Tage länger brauchen werden, um ihre Felder gut zu trocknen, wenn sie Weizen anbauen. Weniger Flachs natürlich, weil die Öle-"
Gwen hielt den Rest der Worte zurück und schlug die Hände vor den Mund, um sich vom Reden abzuhalten. Ihre Augen fühlten sich an als ob sie gleich aus ihrem Kopf springen würden.
Die Worte, die sie eben gehört hatte, waren einfach aus ihrem Mund gesprudelt, ohne dass sie das gewollt hatte. Es waren alles Dinge, die sie zwar wusste, die sie aber nie im Leben laut ausgesprochen hätte!
„Nun, anscheinend funktioniert das Ding perfekt. Hervorragend“, sagte Anifall und grinste die beiden an. „Zurück zu meiner Theorie darüber wie dumm Ihr seid, ich nehme an, keine von Euch hat je von einer Meistersphäre gehört. Normalerweise enthalten sie nur einen einzigen Zauber, aber in diesem Fall haben wir sie mit zwei belegen lassen. Einer zwingt Euch dazu vor der Berührung jedes Lebewesens zurückzuscheuen, das andere beschränkt eure Fähigkeit zu sprechen auf höfliches Geplauder, Bemerkungen über das Wetter, Märchen, Geschichten oder Klatsch, solche Sachen eben. Wenn ich ehrlich sein soll denke ich nicht, dass Eure Konversation sich durch den Zauber sehr verändert, wenn man bedenkt, wie dumm Ihr doch seid. Doch der König fand, dass dies trotzdem notwendig wäre. Jetzt zum Anderen. Seine Majestät hat einen Erlass niedergeschrieben, Lady Rhosyn, und wünscht, dass ich ihn Euch in Gegenwart dieser beiden Wachen überreiche.“
Anifail zog einen mit Wachs versiegelten Umschlag aus seiner Tasche und hielt ihn Rhosyn hin. Sie nahm ihn, öffnete ihn und las schnell. Gwen sah, wie das Gesicht ihrer Freundin erbleichte.
„Weil ich mit den Reitwegen vertraut bin, wurde mir befohlen bis Fort Pike als Führerin für diese Wachen zu dienen“, sagte Rhosyn mit schwacher Stimme. „Ich muss sofort aufbrechen.“
Gwens Herz sank bis zu ihrem Rocksaum. Fort Pike war einen viertägigen Ritt vom Schloss entfernt.
„Nun, ich habe Euch schon lang genug davon abgehalten, des Königs Befehl Folge zu leisten, Lady Rhosyn“, sagte Anifall und verbeugte sich spöttisch. „Passt gut auf Eure Schützlinge auf. Immerhin seid Ihr ja eine Frau und die beiden sind nur zwei starke, schwer bewaffnete Männer.“
„Na dann...“, sagte Rhosyn nachdem sie einen Moment nachgedacht hat. „Ich … sollte wohl nach Hause eilen um sofort meine Sachen zu packen.“
„Oh, das ist nicht nötig. Ich kann ja nicht zulassen, dass Ihr davonrennt oder eine Nachricht an Eure Freunde hinterlasst“, sagte Anifail. Er schnippte mit dem Finger. Gehorsam griff einer der muskelbepackten Wachen hinter seinen Sattel und holte einen fast vollen Reisesack hervor. „Nein, wir waren bereits bei Euch daheim und haben uns die Freiheit genommen, Euch ein paar Dinge für die Reise einzupacken. Also sehen wir uns in zirka … einer Woche?"
Rhosyns Schultern sackten nach unten.
Alles geschah viel zu schnell und Gwen konnte nichts tun, außer da zu stehen, mit weit aufgerissenen Augen und unfähig zu sprechen, während Rhosyn zu dem reiterlosen Pferd geführt wurde und der Hauptmann ihr in den Sattel half. Obwohl er es schaffte sein Gesichts ausdruckslos zu halten, schien Anifail das Ganze sehr zu genießen.
Gwen und Rhosyn tauschten einen kurzen Blick aus, als das Trio auf ihren Pferden vorbeiritt und Gwens eigene Angst und Verzweiflung schienen sich in der düsteren Miene ihrer Freundin widerzuspiegeln. Ihr fiel nichts ein, das sie hätte sagen können, gar nichts. Jetzt, da sie mit diesem schrecklichen Zauber belegt war, war sich Gwen nicht einmal sicher, ob sie überhaupt in der Lage gewesen wäre etwas zu sagen, wenn sie gewusst hätte was.
Die drei Reiter ritten den eingetretenen Feldweg hinunter ohne zurückzublicken und ließen Gwen alleine neben Anifail auf dem Grashügel stehen. Nur etwa eine Minute später ritten sie um eine Ecke des sich windenden Reitpfads und waren verschwunden.
Sie war allein. Ihre beste Freundin war ihr genommen worden.
Was sollte sie jetzt machen?
„Ich denke das wäre dann alles“, sagte Anifail, der kurz einen Blick zur Sonne hoch warf, als ob er die Zeit schätzen wollte. „Wenn Ihr vorhabt noch eine Weile hier auf dem Hügel zu schmollen, tut Euer Möglichstes, Euch dabei kurz zu fassen. Ich habe gehört, dass einige Kürschner Schattenwölfe hier in der Nähe gesehen haben.“ Er lächelte ihr kurz zu. „Ich bin mir nicht sicher ob der Zwang eures Zaubers ausreichen wird um dafür zu sorgen, dass Ihr sicher seid – Schattenwölfe können wirklich schnell rennen. Wir wollen doch nicht, dass Ihr einem armen Wolf Bauchschmerzen bereitet, oder?“
Die Hoffnungslosigkeit in ihrem Herzen verwandelte sich plötzlich in Ärger. Gwen sah Anifail mit so viel Verachtung an wie sie aufbringen konnte und bereitete eine vernichtende Antwort vor.
„Ich … mag keine Wölfe“, schaffte sie zu stammeln. „Sie sind … gemein.“
Das war nicht das, was sie hatte sagen wollen Nicht im geringsten.
Anifail kicherte angesichts ihres verzweifelten Gesichtsausdrucks, bevor er sich einfach umdrehte und fröhlich pfeifend in Richtung des Schlosses davon ging.
Ganz allein stand sie auf der Kuppe des grasbewachsenen Hügels und sah zu wie er verschwand.
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Es geht wieder weiter!! Leider darf Gwen keine Ostereier suchen - ich hoffe euch gefällt die Geschichte trotzdem! .)
Fröhliche Ostern
Robert
P.S: Eine Übersetzerin für unser Projekt ist ausgefallen. Wenn ihr jemanden kennt, der gerne noch bei unserer Übersetzer-Community mitmachen würde, bitte meldet euch bei mir. Danke!! :)
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