Das Phänomen der "Mary Sue"

Ich weiß, ich weiß, du hast dich sicher schon auf mein Kapitel „Prolog oder 1. Kapitel" gefreut, aber da hat sich doch tatsächlich noch ein anderes Thema dazwischen gegrätscht.

Wie du sicher weißt, kann Motivation sehr sprunghaft sein. Und meine hat mich nun dazu gedrängt zuerst über dieses Thema zu schreiben. Also bin ich dem nachgegangen. (Auch wenn ich mich selbst auf das andere Thema gefreut habe – leider habe ich dazu aber bisher nur den Anfang verfasst.)

Wahrscheinlich ist das Thema für dich vielleicht schon ausgelutscht und völlig uninteressant. Aber vielleicht zählst du auch – so wie ich – zu der Minderheit, die sich noch nicht wirklich damit beschäftigt hat.

Klar, jeder hat doch schon mal von „Mary Sue" gehört. Ich kann mir auch irgendwie was darunter vorstellen. Aber wer ist sie eigentlich? Was verbirgt sich dahinter? Und was hat das mit dem Schreiben zu tun? Den Fragen möchten ich auf den Grund gehen.

Wer oder was ist eine Mary Sue"?

»Eine Mary Sue ist eine idealisierte und vermeintlich perfekte Kunstfigur. Diese Figur wird oft als Wunschvorstellung des Autors wahrgenommen. Üblicherweise kann sie Aufgaben erheblich leichter bewältigen als vergleichbare Figuren mit ähnlicher Ausbildung und Erfahrung. Die Bezeichnung wird oft für beide Geschlechter benutzt, zeitgleich existieren aber auch die männlichen Varianten Marty Sue und Gary Stu.« – laut Wikipedia

Weiter heißt es:

»Heutzutage ist der Begriff fest verknüpft mit der Unterstellung einer geschönten Selbstprojektion des Autors. Ein negativer Beigeschmack entsteht hierbei dadurch, dass die Kunstfiguren als schlecht entwickelte Figuren (zu perfekt, um real und interessant zu wirken) wahrgenommen werden.«

»Mary-Sue (oder kurz Sue) steht synonym für eine bestimmte Sorte Charakter (meistens ein OC in einer Fanfiktion), der hübsch oder herausragend talentiert ist, dem alles ohne großes Zutun oder Opfer gelingt, der im Zentrum des ganzen Universums steht, der keine Fehler macht und auch keine (wirklichen) Fehler hat – kurzum, ein perfekter Charakter ist, der auf gewisse Art und Weise die Wunschträume des Autoren auslebt. Meist ist die Mary-Sue die Hauptperson in einer Geschichte, allerdings gibt es sie auch als Nebencharakter, wobei sie nicht weniger nervig ist. Der Begriff wird oft mit weiblichen Figuren assoziiert; es kommen aber auch häufig männliche Figuren mit vergleichbarer Penetranz vor, die dann mit ‚Marty-Stue', ‚Gary-Stue', ‚Larry-Stue' und zahlreichen weiteren Namen bezeichnet werden. Sie haben dieselben Eigenschaften wie ihre weiblichen Vertreter, jedoch oft auf männliche Tugenden umgemünzt.« – laut Fanfiktion Wiki

Was sich dahinter verbirgt hätten wir an der Stelle auch schon geklärt: Ein perfekter Charakter, der einfach kein „echter" Mensch sein KANN.

Ich gebe zu, auch ich habe früher so geschrieben. Ich wollte eine Figur erschaffen, die ich ist, nur halt ohne Fehler – also perfekt.

Ein paar Kapitel zuvor habe ich ja schon erklärt, dass man sich selbst aber aus der Geschichte raushalten sollte.

Man selbst als Autor ist nicht die Hauptperson und auch nicht der Erzähler. Der Erzähler ist entweder einer, der das Ganze im (Über-)Blick hat (der allwissende Erzähler) oder die Sicht einer Person in der Geschichte. Also der Hauptprotagonist oder eine Nebenfigur.

Ich habe schnell gelernt, dass auch Charaktere in einem Buch Fehler haben können, sie sogar haben SOLLTEN.

Wie sonst baut man eine Beziehung zu einem Charakter auf? Indem man sich mit ihm identifizieren kann. Und das geht nur, wenn er Schwächen, Ängste, Emotionen, Gedanken, Narben, und Fehler hat, die wir ebenfalls besitzen. Beziehungsweise nachempfinden können.

Ich gebe auch zu, Kaycie aus „Mondsüchtig" schrammt gefährlich nahe an dem Charakter einer „Mary Sue", wie mir gerade auffällt. Gut, sie hat auch Fehler, aber es überwiegt das Gute in ihr. Von Oscar ganz zu schweigen ... Ja, ich werde in Zukunft einfach genauer darauf achten.

Wie also kann man verhindern eine Mary Sue" überhaupt erst zu erschaffen?

Wie gerade schon erwähnt, ist es wichtig, dass jede Figur andere Eigenschaften und ganz wichtig: eine Vergangenheit besitzt.

Das sollte jetzt aber nicht so ausarten, dass jede deiner Figuren eine absolut grauenvolle Kindheit mit möglichst viel Schmerz hatte, nur damit sie nicht perfekt ist.

Nein, das meine ich damit nicht.

Selbstverständlich dürfen deine Figuren auch schöne Vergangenheiten haben.

Das beste Beispiel bist in dem Fall du.

Sicher gab oder gibt es etwas in deinem Leben, das dich immer noch sehr beschäftigt. Was ist das? Und wie kannst du das beispielsweise auf deine Charaktere übertragen?

Man kann auch eigene Erfahrungen mit einfließen lassen, das ist keinesfalls verboten, sollte allerdings doch wohl dosiert sein.

Es folgen nun Fragen, die man sich zu seinen Figuren stellen kann.

Hintergrund

Wie ist die Figur aufgewachsen?

Wie ist die Beziehung zwischen den Eltern der Figur?

Wie ist die Beziehung der Figur zu den Eltern?

Wie ist die Beziehung der Figur zu anderen Familienmitgliedern?

In was für einer Umgebung/Umfeld ist die Figur aufgewachsen?

Was können/konnten die Eltern der Figur bieten (wie ist/war die finanzielle Lage)?

Welche Einrichtungen (Kindergarten, Schule, aber auch vielleicht psychisch oder gesundheitlich) hat die Figur besucht?

Ist die Figur eher extrovertiert (geht offen auf andere zu) oder introvertiert (hat Hemmungen, ist eher schüchtern, lieber für sich allein) – und wie legt sich das auf das Finden von Freunden aus?

An was erinnert sich die Figur gerne, und was möchte sie am liebsten aus dem Gedächtnis löschen?

Gibt es Gegenstände, die die Figur bis ins Erwachsenenalter begleiten? (Bilder, Bücher, Schmuck, Geräte, aber auch Kleidungsstücke und andere alltägliche Gegenstände, etc.)

An was hängt deine Figur besonders? An einem Menschen/Tier/Gegenstand?

Gab es Schicksalsschläge (Krankheit, Unfall, Tod, Verschwinden, Armut, etc.) in der Familie oder im engen Umfeld und wie geht die Figur damit um?

Was sind die Wünsche und Träume deiner Figur? Und wie gedenkt sie diese zu erreichen?

Was hat die Figur bereits getan, um ihren Zielen näher zu kommen?

Würde sie über Leichen gehen? Oder versucht sie es auf einem friedvollen Weg?

Vielleicht hat die Figur aber auch zwei Identitäten ...

Du siehst also: Es ist so vieles möglich. Mache dir nur Gedanken dazu. Und mit Sicherheit wird es dir auch Spaß machen, so deine Charaktere besser kennenzulernen. Mit solchen Überlegungen tust du dir beim Schreiben dann auch sehr viel leichter.

Auch ist es wichtig dir zu überlegen, wie eine Figur in kritischen Momenten entscheidet.

Frage dich am besten, wie DU dich entscheiden würdest. Ob du eher risikofreudig oder doch vorsichtig und misstrauisch bist.

Und nicht, wie man am besten entscheiden SOLLTE, zum Wohle aller. Ja, auch egoistische Entscheidungen können deinen Charakter menschlich und nachvollziehbar machen.

Verhalten

Wie verhält sich deine Figur im Allgemeinen?

Ist sie freundlich? Zuvorkommend? Oder eher gemein und hinterlistig?

Handelt sie nur im eigenen Interesse? Oder ist sie hilfsbereit?

Kann sie Mitleid empfinden? Kann sie Verständnis für andere aufbringen?

Handelt sie (zu) schnell, vielleicht sogar unüberlegt? Oder ruhig und bedacht?

Wie reagiert die Figur auf Stress? Wie macht sich das im Verhalten bemerkbar?

Wie sieht es mit Eigenarten aus? Hat die Figur immer wiederkehrende Verhaltensmuster? Hat sie Ticks? Schlechte Angewohnheiten, mit denen sie eventuell sogar zu kämpfen hat? Ist sie eifersüchtig (der Klassiker)?

Kaut sie auf den Fingernägeln herum? Beißt sie sich auf die Unterlippe? Knirscht sie mit den Zähnen? Lässt sie die Finger knacksen? Kratzt sie sich? Fährt sie sich nervös durch die Haare? Zupft sie unsichtbare Fussel von der Kleidung?

Wie verhält sich die Figur umgeben von ganz vielen Menschen? Zuckt der Blick hin und her, ist sie unruhig? Oder schwimmt sie mit der Menge? Genießt sie diese „Unsichtbarkeit" unter vielen?

Natürlich zählt auch das Äußere, schließlich muss man sich ja ein Bild zu deinen Charakteren machen können.

Aussehen

Hat die Figur auch mal einen Bad Hair Day?

Wie sieht es mit der Pflege aus, sowohl Körperpflege als auch die der Kleidung? (Falten, Geruch, Fussel, Dreck, Staub, Risse, Löcher, Verletzungen, blaue Flecken, etc.)

Benutzt die Figur Make-up? Oder ist sie natürlich? Ist sie vielleicht zu faul, oder hat sie kein Talent sich aufzuhübschen?

Achtet die Figur auf ihr Äußeres?

Sieht die Figur gut, oder braucht sie eine Brille? Trägt sie Kontaktlinsen? Oder ist sie für alles zu eitel?

Trägt die Figur Schmuck? (Ohrringe, Piercings, Tattoos, Ketten, Armbänder, Ringe, etc.)

Welche Qualität hat der Schmuck? Welche Qualität besitzt die Kleidung?

Gibt es Körperstellen, die die Figur ablehnt? Für die sie sich schämt? Die sie lieber versteckt?

Oder gibt es Stellen, die eine besondere Betonung verdienen? (Augen, Lippen, Ausschnitt, Beine, etc.)

Gibt es auffällige Narben, Merkmale? (Augenfarbe, Nasenform, etc.)

Das Alter spiegelt sich ebenfalls im Aussehen wider. (Glatte Stirn, wallendes Haar, zarte, glatte, straffe Haut, strahlende Augen, Falten, dünne, rissige, trockene Haut, graue Haare, wenigere Haare, gemächlicherer Gang, gebückte Haltung, trüber Blick, etc.)

Soweit zu meinem Brainstorming, das ich gemacht habe.

Was fallen dir noch für wichtige Fragen ein?

Man könnte an der Stelle zum Beispiel noch auf die sexuellen Vorlieben, den kulturellen Hintergrund oder die Glaubensrichtung, etc. eingehen.

Es gibt so viel, das einen Menschen ausmacht. Und anhand dieser Fragen kann man eigentlich ganz leicht den Charakter einer „Mary Sue" verhindern.

Lass deine Figuren leben. Als wären sie echte Menschen. Wenn du sie so betrachtest, kann nichts mehr schiefgehen.

Ich bin gespannt, was dir noch einfällt, und ob du dich dabei ertappt hast, all diese Fragen für jede deiner Figuren auch beantworten zu können.

Keine Sorge, sollte dem nicht so sein – ich kann es (auch) nicht. Aber ich werde mich bemühen.

Im nächsten Kapitel geht es dann wie versprochen um das erste Kapitel, beziehungsweise den Prolog.

Nächstes Kapitel: „Prolog oder 1. Kapitel"

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