Die kleine kaputte Welt
Jeder Mutant, der von Charles geordert wird, erhält früher oder später einen Brief. Einen mentalen versteht sich.
Einen Brief mit den Daten zu dem Versteck in der Kanalisation in der Nähe des Leakens River.
Es ist ein Versteck für unseresgleichen.
Die Wände dort wurden so konzipiert, dass wir vor fast allen Bedrohung geschützt sind.
Atomangriffe.
Feuer.
Überflutung.
Sauerstoffmangel.
Wir Telepathen sind nicht in der Lage, Mutanten, die sich dort verstecken, so orten und ihre Gedanken zu lesen.
Es befindet sich kein Metal in den Wänden und viele Abschnitte der Kanalisation können sich von Ortungssystemen nicht finden lassen.
Es ist ein Notfallbunker.
Und hin und wieder auch ein Treffpunkt für Leute, die mit den Kräften eines anderen Mutanten nicht klarkommen.
Hat Steve Angst, dass ich explodieren könnte und wollte sich deshalb hier treffen?
Nun ja.
Meine wirklich gefährlichsten Kräfte sind die eines übernatürlichen Wesens. Da wird ihn dieser Bunker theoretisch auch nicht weiterhelfen.
Seufzend sitze ich nun also schon eine Viertelstunde auf einer alten rostigen Tonne, die in einem kleinen Vorraum inmitten der Kanalisation steht und warte.
Normalerweise ist Steve für seine Pünktlichkeit bekannt. Heute, an diesem bewölkten Wintertag scheint ihm jedoch die Sonnenuhr verlassen zu haben.
Womöglich sollte ich gehen. Ich war immerhin da. Ich habe sogar gewartet. Und was ist besser als am Telefon zu sagen, dass man eine ganze verdammte Viertelstunde gewartet hat? Ich schätze so lange sollte man warten, bis man geht.
Vor allem beim Ex.
Wobei. Eigentlich sollte man auf so eine Person gar nicht warten müssen. Immerhin will er doch was von mir.
Genau!
Mit dieser Erkenntnis hüpfe ich von der Tonne, kontrolliere, ob sich meine schwarze Jeanshose eventuell Rostflecken geholt haben könnte, stöhne auf, als dem so ist und will los.
Doch genau in diesem Moment erkenne ich aus der Dunkelheit des angrenzenden Tunnels einen Schatten auf mich zukommen.
In jedem anderen Falle wäre ich sonst sofort in Alarmbereitschaft. Doch sein Duft verrät ihn eher als sein Anblick.
Steve.
In Zivil.
Dunkle Jeans. Schwarze einfache Jacke. Darunter ein dunkelgraues T-Shirt und Lederboots an den Füßen.
Sein blondes strohiges Haar schien einmal gekämmt gewesen zu sein. Jetzt macht es eher den Anschein, als wäre er sich duzende Male mit den Händen durch sie hindurch gefahren.
Lila Ringe sehe ich unter seinen Augen scheinen. Er ist müde. Ganz eindeutig. Aber ich komme nicht umhin einzugestehen, dass er selbst jetzt noch gut aussieht.
Auch mit der Narbe auf seiner Wange vom Kampf gegen Thanos, die fast das Ende unserer noch so jungen Beziehung gewesen wäre.
Trotzdem kann ich nicht vergessen, was er getan hat. Was er uns und unserer Beziehung, unserer Familie angetan hat.
Aussehen hin oder her.
Ich verschränke die Arme vor der Brust, stelle mich etwas breitbeiniger vor ihm auf. Meine Miene wird hart.
„Emma." begrüßt mich Captain America mit freundlicher Stimme und noch freundlicheren Ton in der Stimme.
Ohne anzuhalten, kommt er auf mich zu und schließt mich in eine Umarmung ein, die ich so garantiert nicht vorausgesehen habe.
Auch wenn mein kleines verräterisches Herz womöglich etwas schneller schlägt als mein Kopf an seine Brust gerät, verschließe ich die Gefühle jedoch sogleich in meinen Tresor aus Diamant ein und schupse ihn von mir weg.
„Steve." begrüße ich ihn weniger freundlich und in einem noch viel weniger freundlicheren Ton. „Machen wir es kurz. Was willst du mir sagen? Wieso sind wir hier?"
Obwohl ihm wohl mein deutlich kühler Ton aufschrecken lässt, lächelt er dennoch und zeigt auf die beiden Tonnen, von denen ich vorhin bereits auf einer davon saß. „Wollen wir uns vielleicht kurz setzen?"
„Nein." Auf keinen Fall setzte ich mich hin. Stehen ist besser. Macht die Haltung deutlicher.
Nun gehen Steves Mundwinkel endgültig in den Keller. Nervös reibt er sich mit der linken Hand über den Nacken. „Emma, hör mal"
Ich spüre das Feuer in mir lodern. Vergessen ist das leichte flatterhafte Flattern meines Herzes bei seinem Anblick. Vergessen die Zeiten, in denen alles besser war.
Da ist nur Feuer in meinem Bauch, unter meiner Haut und vor allem unter meinen Fingerspitzen, das herauslodern will.
„Was? Willst du mir sagen, dass es dir leid tut? All das hier? Unsere Situation? Unsere, die unseres Kindes und das unserer Freunde? Was willst du mir sagen?" sprudelt es aus mir heraus.
Steve schüttelte sogleich den Kopf und nähert sich mir. Ich sehe, wie er mit der Hand nach meinem Oberarm greift.
Ich lasse es geschehen. Lasse es geschehen, dass er mich berührt und bin fast dankbar darum, dass sich durch diese kurze Berührung mein Feuer wieder zurückzieht.
„Es tut mir leid. All das." beginnt er und sieht mit seinen ozeanblauen Augen tief in meine hinein. „Ich wünschte, ich könnte dir all das erklären. Ich wünschte, ich müsste dich all das nicht alleine durchstehen lassen. Aber vertrau mir, wenn ich dir sage, dass wir keine andere Wahl haben."
Keine Wahl haben? Ich lache keck auf und gehe vorsichtshalber einen Schritt rückwärts von ihm weg. „Dann erklär es mir, verdammt noch einst! Das bist du nicht nur mir, sondern auch Ophelia schuldig! Du verlässt mich. Sagst mir irgendwas, dass es besser ist, wenn ich alleine zurecht komme, und verschwindest. Und jedes Mal wenn ich dich sehe, ist entweder Sharon oder Peggy bei dir, die anscheinend unlängst meinen Platz eingenommen haben!"
Steves Kopf wird schlagartig rot. „Sie würden niemals deinen Platz einnehmen, Emma!" bekräftigt er und will erneut nach mir greifen, doch ich weiche aus.
Er versteht sofort und bleibt stehen. Ich erkenne die Trauer und die Wehmut in seinen Augen scheinen. „Du bist immer noch die Frau meines Lebens und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich dich nicht mehr liebe."
Meine Welt bleibt von einem auf den anderen Moment stehen. Der Typ verarscht mich, oder? Oder?
Wieder zieht sich mein kleines verräterisches Herz zusammen. Wieder tauchen die Bilder unserer kleinen glücklichen Familie vor meinen Augen auf. Wir. Alle. Zusammen.
„Es schmerzt mich zu wissen, wie furchtbar schlecht es dir geht. Wie du mit all diesem Chaos alleine klar kommen musst. Aber bitte glaub mir, es ist besser so."
Ich spüre die Tränen in meinen Augen. Merke wie sie ihren Weg hinab meiner Wange nehmen und fallen. Doch ich bleibe hart und wische sie nicht weg. „Wieso? Erklär mir, wieso du uns das antust!"
Steve senkt den Kopf und stemmt zeitgleich die Hände in die Hüfte. Ich kenne diese Geste nur zu gut von ihm. So wie fast jede seiner Blick für mich Bände spricht.
Seine Verzweiflung liegt so stark in der Luft wie Zigarettenqualm.
„Sag es mir!" dränge ich und mache einen Schritt auf ihn zu. „Sag mir, weshalb du alles, was wir hatten, beendet hast! Das bist du uns, Ophelia und mir schuldig!"
Ich sehe ihn Nicken. Ganz zart. Dann hebt er den Kopf an und sieht zu mir auf. „Ich habe es gesehen. Ich habe gesehen, dass wenn wir beide so weiter machen wie bisher, es alles zerstören würde. Mit mir wird dich das heimsuchen, was hinter dir, dem Dark Phoenix und den anderen fünf Phönixen her ist.
Ich weiß nicht, was es ist. Aber es hat dich zerstört. Es hat alles zerstört, weil ich dir, als dein Wächter, nicht geben kann, was du brauchst. Du warst nicht stark genug gegen dieses Wesen, was in dieser Version als eine Art dunkler Nebel hinter euch her war. Erst waren es deine fünf Brüder. Dann dein Vater und zum Schluss du selbst. Es hat euch wahnsinnig gemacht und egal, was ich getan habe, es hat dich immer tiefer in einen Strudel aus Gefühlen, Macht und Gier gesaugt und am Ende hat es uns alle zerstört."
Es ist ein Rauschen, was ich in meinem Ohr vernehme. Mehr nicht. Ein Rauschen, das mich glauben lässt, ich würde noch hier stehen und ihm zuhören. Aber derweil starre ich nur den Mann an, von dem ich früher geglaubt habe, er würde mit mir bis zum Ende aller Tage gehen.
„Es hat alles vernichtet, was uns lieb und teuer war." erklärt Steve weiter, „Mir blieb also nur übrig, es nie soweit kommen zu lassen. Wenn ich es bin, der dich davon abhält gegen dieses Wesen zu kämpfen, muss ich gehen. Mit samt allen Konsequenzen. Mir ist bewusst, was das für uns heißen sollte. Immer schon. Ich wusste, was ich tat und habe Peggy und Sharon mit ins Boot geholt.
Ich wusste, dass eine Trennung alleine dich früher oder später davon nicht abhalten würde, wieder zu mir zurück zu kommen.
Also bat ich die beiden, öfters zu mir zu kommen.
Bis der Eindruck für dich entstanden ist, dass ..." Er schweigt und schüttelt den Kopf und verzieht dabei das Gesicht zu einer Miene. Er scheint von seinen eigenen Taten selbst erschreckt zu sein.
„Ophelia hat sich bei beiden wohl gefühlt. Das war für mich wichtig. Und auch die Situation zwischen uns beiden schien sie einigermaßen verkraftet zu haben. Und auch ... du schienst mir immer besser mit der Situation klarzukommen. Nicht nur seelisch, sondern auch" Er wird leise.
Ich schluckte schwer und beende seinen Satz. „Sondern auch körperlich, nicht wahr?
Meine Kräfte haben kein Problem für dich dargestellt. Nichts, was es von dir zu regeln gab. Keine Gefühlsausbrüche, die für andere eine Gefahr darstellen könnten, oder?!"
Immer mehr Tränen fließen über mein Wange. Und ich lasse es zu. Tapfer recke ich das Kinn vor. „Du hast mich also verlassen, weil du eine Vision gesehen hast. Du hast du Peggy und Sharon anvertraut, anstelle von mir. Du hast mich angelogen, anstatt mit mir zu reden, nicht wahr?"
Es ist keine Frage, auch wenn Steve langsam nickt.
Es ist alles eine Lüge.
Alles, was mir in den letzten Jahren weis gemacht wurde. Er hat mich glauben lassen, dass er mir vertraut. Dass wir ein Team wären.
Und kaum sieht er irgendeine Vision von uns, in irgendeiner Zukunft, vertraut er anderen mehr als mir.
Er redet nicht mit mir. Vertraut sich anderen lieber an als seiner eigenen Frau.
Weil er mich für gefährlich hält ...
War ich das schon die ganze Zeit für ihn gewesen? Eine tickende Zeitbombe, die nur er kontrollieren kann?
Wo ist die Gleichberechtigung, wo ist die gleiche Augenhöhe, auf der wir uns immer gesehen hatten?
Mir fehlen die Worte.
Für all das.
Ich kann ihn nicht mehr ansehen. Kann diese Augen nicht mehr sehen, in die ich mich einst verloren habe.
Mein Herz schmerzt und ich verstehe, wieso er sich hier mit mir treffen wollte.
Wenn ich explodiere, sind es nur wir beide. Wenn er mich nicht aufhalten kann, bin ich, die Gefahr, die alles zerstören wird, gebannt.
„Verschwinde." gebe ich leise von mir und versuche meine brüchige Stimme so gut es geht gerade zu halten.
Ich sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie er erneut nickt. „Natürlich. Nur ..."
„Nur was?" will ich wissen und drehe mich wieder halb zu ihm um.
Steve scheint so als wenn er sämtlichen Mut in sich zusammensammeln muss. „Ophelia wird vorerst bei mir bleiben. Damit du dich besser auf deine Mission konzentrieren kannst. Ich habe eine Schule für sie gefunden, wo sie Übergangsweise hingehen wird. Mit Charles rede ich noch darüber."
Wenn ich bisher angenommen habe, dass mir dieser Mann die Kehle zugeschnürt hat, lag ich wohl falsch.
Jetzt ist der Moment dafür gekommen.
Ein Moment, der mir alles nimmt. „Das kannst du nicht machen!" hauchte ich und will mir am liebsten die Diamantform überwerfen. Doch hier geht es nicht.
„Doch. Glaub mir, es ist besser für sie. Ich habe es ihr bereits gesagt, und sie ist einverstanden."
Feuer bahnt sich den Weg über meine Fingerspitzen empor. Bei Gott, ich werde es nicht herunterschlucken. Nicht, wenn es um meine Tochter geht! „Wag es nicht, sie mir wegzunehmen!"
Doch anstelle von Einsicht, baut sich Steve nun wirklich vor mir auf. Mit seiner gewaltigen Statur aus Muskeln und Größe sehe ich dagegen aus wie ein kleiner Welpe. „Sieh dich an, Emma!" sagt er bitter ernst. „Du hast dich selber nicht unter Kontrolle! Glaubst du ernsthaft, bei dir ist sie sicher?"
Mir fällt die Kinnlade nach unten. Das hat er gerade nicht wirklich gesagt, oder?
Wie kann er ihre Sicherheit bei mir in Frage stellen?
„Sei ehrlich! Glaubst du wirklich, dass du die Zeit hast, dich um Ophelia zu kümmern? Es tut mir leid, wie es dir momentan geht und auch dafür, dass ich der Grund dafür bin. Aber du wirst aus dieser Gefühlslage auch wieder entkommen. Da bin ich mir sicher. Nur jetzt, wo alles noch schwankt und du dich selbst finden musst, kann sie unmöglich bei dir bleiben! Du musst dich selbst retten!" In einem noch vernichtenderen Ton fügt er hinzu: „Du, die sie einfach an Logan weitergereicht hat, weil dir alles zu viel geworden ist. Wie willst du es anstellen, wenn dieses Wesen, das hinter euch her ist, wirklich auf uns zu kommt?"
Ich öffne den Mund. Will mich widersetzen und auflehnen. Doch es kommt nichts aus mir heraus. ... Weil er Recht hat? Recht hat über mich.
Steves seufzte und lässt die straffen Schultern etwas sinken. „Sie hat es mir erzählt. Sie tat so als ob sie geschlafen hätte, um dich nicht aufzuhalten. Aber sie hat es gemerkt. Emma,du bist gerade einfach nicht in der Lage, sie zu nehmen."
„Steve, ich" stottere ich, doch mehr kommt aus meiner Kehle nicht mehr hinaus.
Er hat Recht. Er hat mit allem Recht.
Und lässt meine kleine kaputte Welt damit auf noch mehr Sand auflaufen.
Er gibt mir nicht die Gelegenheit irgendetwas zu sagen. Er wartet nicht ab. Sondern dreht sich einfach um und geht.
Captain America, der sonst in alles und jeden Hoffnung steckt, dreht mir den Rücken zu und geht.
Er geht und nimmt mir meine Tochter. Mein altes Leben.
Keine Wörter dieser Welt können beschreiben, was in meinem Kopf vorgeht. Welche Formen meine Gedanken annehmen.
Er hat mir alles genommen. Alles, was mich ausgemacht hat. Alles, was ich geliebt habe.
Meine kleine kaputte Welt.
Die Realität gerät vor meinen Augen ins Wanken. Meine Knie geben nach.
Weinend falle ich zu Boden und wünsche mir so sehr, dass Steve sich einfach umdreht und wieder zu mir kommt. Er würde mich in den Arm nehmen und sagen, dass es ihm leid tut. Dass alles ein Missverständnis ist. Dass wir es zusammen schaffen.
So wie sonst auch. Aber ich bin alleine - und das bleibe ich wohl auch.
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