Kapitel 34
Verlust.
Dieses Wort schwebt mir nun schon seit dem Tag, an dem es geschah, im Kopf umher. Ich konnte an nichts Anderes als den Tod denken. An ihren Tod. Sobald es ruhig um mich wurde, sah ich ihre wunderschönen, vertrauten, blauen Augen. Roch ihr süßes Parfüm, das sich mit ihrem eigenen Geruch vermischte und meinen Lieblingsduft bildete. Hörte ihr klares, außergewöhnliches Lachen, das auch alle anderen immer zum Lachen brachte. Ihre sanfte Stimme und die Worte, die sie immer vor dem Schlafengehen zu mir sprach.
„Ich hab dich so unglaublich lieb, mein Engel."
Kurz bevor sie starb, war ich bei ihr. Sie lag in ihrem Bett. Ihre Haut war blass, das Gesicht eingefallen und insgesamt bestand sie nur noch aus Haut und Knochen. Wenn ich so darüber nachdenke, war es schrecklich offensichtlich, dass sie bald sterben würde. Als ich tief in ihre Augen blickte, aus denen der Glanz nun schon seit einigen Tagen gewichen war, wusste ich, dass sie schon lange gegangen war. Dass dies nur noch ihre Hülle war, die jedoch auch bald ihren Geist aufgeben würde. Und ich wusste auch, dass sie nur für uns noch da war. Weil sie wusste, dass wir nicht bereit waren sie loszulassen. Aber sie konnte nicht mehr. Tränen flossen meine Wangen hinunter, als ich ein letztes Mal ihre Hand nahm und ihre Wange küsste. Sie anlächelte und ihr zuflüsterte, dass ich sie vermissen werde. Dass ich sie so unglaublich lieb habe. Mama konnte nur noch ein schwaches Lächeln hervorbringen, doch sie musste auch nichts sagen. Wir brauchten keine Worte, um zu verstehen, was der andere fühlte und sagen wollte.
Wenige Minuten später verlor ich den wichtigsten Menschen in meinem Leben. Die Person, die mich aufgezogen hatte. Die mich mein ganzes Leben begleitet hatte und die nun plötzlich nicht mehr da war. Die Person, die von meiner Seite gewichen war. Mit ihr hatte ich alles verloren. Ich wollte am liebsten selbst sterben.
Nun sitze ich in einer kleinen Kirche und starre mit verheulten Augen auf das Bild meiner Mutter, das vor ihrem Sarg steht. Ich fühle alles und gleichzeitig nichts. Der Pfarrer redet schon eine ganze Weile, doch ich habe kein einziges Wort verstanden. In meinem Kopf herrscht Leere, denn ich kann nur an diesen unglaublichen Schmerz denken, der wohl nie aufhören wird. Die Haut unter meinen Augen ist gereizt vom vielen Tränen wegwischen und gleichzeitig fühlen sich meine Augen trockener als Sand an. Ich starre auf dieses Bild und frage mich, wie man das ganze Leben einer Person in einer Stunde passend ehren kann. Die Antwort ist vermutlich gar nicht. Gleichzeitig frage ich mich, ob alle Beerdigungen so ablaufen. Oder ob den Menschen, die beispielsweise der Todesstrafe erliegen und die viel Schlechtes getan haben, kein Gottesdienst zu Teil wird. Und falls doch, wird nur Gutes über sie gesagt? Dass sie, trotz ihrer Taten, in den Himmel kommen werden, wenn sie um Verzeihung bitten?
Ich bin nicht gläubig und ich weiß, dass Mama es auch nicht war. Genau wie viele andere auch. Deswegen kann ich nicht verstehen, dass der Pfarrer so viel darüber redet, dass Gott sie aufnehmen wird. Vermutlich ist der Gedanke, seine Geliebten im Himmel wiederzusehen, ansprechender als mit der Tatsache zu leben, dass wir einfach unter der Erde verrotten. Dass Materie eben diese bleibt. Und dass das, was verschwunden ist, auch nicht wiederkommen wird. Mama war keine Heilige. Sie hat auch viele Fehler in ihrem Leben gemacht. Aber was ich an ihr immer bewundert hatte war, dass sie zu ihnen stand und daraus lernte. Sie wuchs mit ihnen. Ich denke, das ist genau das, was einen guten Menschen ausmacht. Nicht nur die Summe seiner guten Handlungen, sondern auch die Art und Weise, wie sie mit den schlechten umgehen.
Das Ertönen der Glocken reißt mich aus meinen Gedanken. Männer mit weißen Handschuhen, von denen ich die meisten noch nie in meinem Leben gesehen habe, kommen herein und gehen zum Sarg. Sie heben ihn hoch und tragen ihn zum ausgehobenen Loch. Der Moment, in dem ich mit meiner Familie als erste hinter dem Sarg aus der Kirche trete, ist der schlimmste. Unzählig viele Menschen haben die Beerdigung draußen über Lautsprecher mitverfolgt und richten ihren mitleidigen Blick nun auf uns. Sofort senke ich den Blick und starre auf meine schwarzen Converse, während wir dem Grab immer näher kommen. Am liebsten hätte ich sie alle angeschrien. Dass sie wegschauen sollen. Dass sie gehen sollen, weil niemand von ihnen meine Mutter nur ansatzweise kannte und so sehr liebte, wie ich es tue. Doch ich bleibe stumm. Wie immer.
Ich sehe zu wie sie Mamas Leiche langsam in das Loch hinunterlassen. Tränen fließen nun stumm meine Wangen hinunter und mein Hals schnürt sich immer mehr zu. Wir treten gemeinsam zum Sarg vor, wo wir die Blumen hinunter werfen, die auf unseren Plätzen lagen. Ich kann nicht beschreiben warum, aber nun ist ihr Tod endgültig. Sie ist wirklich tot. Sie wird nie mehr wiederkommen. Gleich wird ihre Leiche mit Erde überschüttet und in ein paar Jahren ist nichts mehr außer Erinnerungen von ihr übrig. Jedoch weiß ich bereits von dem Tod meiner Großeltern, dass auch diese immer schwächer werden. Dass ich mich eines Tages nicht mehr an ihre Stimme erinnern werden kann. Dass die Konturen ihres Gesichts in meinem Kopf immer mehr verschwimmen. Und das schlimmste ist, dass meine Gedanken immer seltener bei ihr sein werden. Sie wird zwei Mal sterben. Das erste Mal ist sie es schon.
In ein paar hundert Jahren wird niemand mehr wissen, dass sie jemals existiert hat. Dass sie geliebt hat und geliebt wurde. Dass sie der herzlichste Mensch war, der je gelebt hat. Und genau dasselbe wird mit mir und auch allen anderen geschehen. Manche verschwinden schon direkt nach ihrem Tod und andere bleiben etwas länger. Aber am Ende steht eben doch immer das große Nichts.
Manchmal wünschte ich mir, dass ich gläubig wäre. Weil es Hoffnung gibt. Aber dann erinnere ich mich wieder daran, dass es einfacher ist, wenn ich vergessen werde und selbst für immer vergesse, da der Druck so viel geringer ist. Ich muss nichts Großartiges vollbringen. Ich muss nicht berühmt werden oder nur Gutes tun. Natürlich sollte man ein halbwegs annehmbarer Mensch sein, aber im Endeffekt reicht es vollkommen, wenn ich das tue, was mir Freude bereitet. Und ich hoffe von Herzen, dass ich glücklich sein werde. Dass ich mir meine Wünsche erfüllen kann und nicht an der Existenzgrenze herumkratze. Dass es meinen Liebsten gut geht. Es ist egoistisch. Das auf jeden Fall, aber vielleicht hat Lorena in dieser Hinsicht recht. Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. Aber ich würde niemals andere benutzen oder verletzen. Ich wünsche mir, dass jeder ein erfülltes Leben in Frieden leben kann.
Ich knie mich vor Elian, der ebenfalls weint und streiche ihm die Tränen von den Wangen, bevor ich ihn fest in den Arm nehme. Sein kleiner Körper bebt unaufhörlich und seine Schluchzer reißen mein Herz mit jedem Mal ein wenig mehr entzwei. Ich wollte ihn beschützen. Und jetzt muss er in seinen jungen Jahren schon den schlimmsten Schmerz von allen spüren. Genau deswegen muss ich jetzt immer für ihn da sein. Niemals werde ich von seiner Seite weichen oder ihn allein lassen. Elian ist mein Ein und Alles. Für ihn werde ich jeden Tag mein Bestes geben. Ich werde die beste Version meiner selbst sein. Er wird sich auf mich verlassen können. Nichts wird uns jemals trennen.
Lorena und Papa stehen neben uns. Papa hat einen Arm um ihre Schultern gelegt und versucht seine Fassung zu halten. Auch wenn er für niemanden Liebe erübrigen kann, glaube ich doch, dass er Mama auf seine eigene, ganz verkorkste Art und Weise doch irgendwie mochte. Oder vielleicht sogar brauchte. Gerade weil er weder mir noch meinem Bruder Zuneigung schenken kann, ist es so wichtig, dass Elian diese nun von mir bekommt. Mein Blick schweift zu Lorena, welche mit leeren Augen auf das Grab starrt. Es ist ihr nicht anzusehen, was sie denken oder fühlen könnte. Selbst jetzt hält sie ihre steinerne Fassade aufrecht.
Nacheinander gehen auch die anderen Menschen zum Grab und kommen daraufhin zu uns, um ihr Beileid auszusprechen. In diesem Moment könnte ich Vater dafür verfluchen, dass er nicht in die Todesanzeige geschrieben hat, von Beileidsbekundungen am Grab abzusehen. Personen, die mir fremd sind, schütteln meine Hand und sagen, wie sehr ihnen unser Verlust leid tut. Am liebsten würde ich verschwinden. Ich will mit meiner Trauer allein sein. Ich will nicht, dass sie in meine trüben, schmerzerfüllten Augen schauen und fast vor Mitleid platzen. Ich will weg. Und ich will vergessen, wie sich Leid anfühlt.
Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, bis wir endlich im Auto sitzen und uns auf dem Weg nach Hause befinden. Elian, der schläft und so unendlich erschöpft aussieht, und ich sitzen hinten, Lorena vorne neben Papa. Ich frage mich, wie es nun weitergeht. Wie wir den Alltag ohne Mama bewältigen sollen.
Die letzten Tage waren ein Ausnahmezustand. Aber jetzt müssen wir wieder in die Schule, es muss gekocht und der Haushalt gemacht werden. All das hat größtenteils Mama für uns gemacht. Mich beschleicht das Gefühl, dass dies nun meine Aufgaben werden. Dass ich mich um alle Sorgen werden muss. Dass ich die Mutterrolle für Elian übernehmen werde. Bei dem Gedanken an die ganze Verantwortung wird mir fast schlecht, doch gleichzeitig fühle ich mich entschlossen. Ich werde alles für meine Familie und vor allem für meinen Bruder tun. Es wird eine Herausforderung, aber ich werde es schaffen. Ich muss es schaffen. Außerdem habe ich Kayla, die immer für mich da ist und mich unterstützen wird. Wenn ich nicht mehr kann, wird sie mich festhalten und wieder auf die Beine stellen. Auf sie kann ich vertrauen. Das ist es, was mir Zuversicht schenkt.
Aber wie wird meine Zukunft aussehen? Mama ist so plötzlich gestorben. Es könnte jeden von uns jederzeit treffen. Ich kann nicht anders als mir vorzustellen, wie ich sterben werde. Vielleicht schlafe ich sanft in hohem Alter ein. Vielleicht werde ich auf der Straße ermordet. Am besten wäre es ja, wenn mich meine eigene Schwester umbringt. Manchmal ist es ihr zuzutrauen, wenn ich beispielsweise aus Versehen ihr Shampoo benutze. Zum Glück weiß ich jedoch, dass sie so etwas niemals tun würde. Unsere Beziehung zueinander ist leider nicht besonders gut momentan, aber ich liebe sie trotzdem. Sie ist immerhin meine Schwester. Lorena ist nicht perfekt, aber ich schaue zu ihr herauf. Sie ist stark und selbstbewusst und mutig. Auch wenn sie manchmal sehr fies sein kann.
Ich hoffe einfach, dass mein Tod schmerzlos wird. Dass ich mich von meinen Liebsten verabschieden kann und er nicht ganz so früh kommt. Und wenn er dann da ist, hoffe ich vielleicht doch ein wenig, dass ich danach bei Mama bin.
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