ZWANZIG

E V A N

»Guten Morgen, Evan.« Mrs Lee nickt mir höflich zu. Ich erwidere den Gruß so knapp wie möglich, ohne dass es unhöflich rüberkommt, und lasse mich auf meinen Platz fallen. Im Grunde mag ich Spanisch, aber heute läuft alles etwas anders.

Ich weiß selbst nicht, wieso ich den Gedanken kaum ertragen kann, im Zuschauerraum des Gerichtssaals zu sitzen und auf das Urteil zu warten. Die letzte Zeugenaussage von Officer Lawrence, der Polizist, der als erstes bei uns Zuhause war, und die Schlussplädoyers der Anwälte hätte ich ja noch ertragen können, aber diese ständige Gespanntheit lässt mich verrückt werden. Ich will keine langen Reden, kein viel darüber nachgedacht, weswegen wir zu folgendem Urteil gekommen sind, ich will nur das Urteil.

Haileys Platz neben mir ist leer. Im Gegensatz zu mir, fand sie es schlimmer in der Schule zu sein wie im Gericht. Dieses beschissene Video! Dank irgendeinem unbekannten Scheißkerl muss ich heute diese mitleidigen und neugierigen Blicke über mich ergehen lassen.

Hinter mir flüstert jemand so laut über das ach so schreckliche Schicksal von uns Knights, dass ich jedes einzelne Wort dieser beiden Idioten verstehe. »Es ist furchtbar, schon mit 23 die Verantwortung für seine fünf Geschwister zu haben, im Grunde hatte er ja überhaupt keine Wahl!« 

Oh doch, Dano hatte die Wahl. Er ist nicht der einzige Verwandte, der das Sorgerecht hatte übernehmen können. 

Und was heißt hier fünf? Ich bin volljährig, um mich braucht sich Dano keine Sorgen zu machen! 

Das Gespräch rudert immer weiter Richtung Hailey und schließlich wird im Schutz des lärmenden Kurses sogar das Video angeschaltet.

Innerhalb kürzester Zeit bin ich auf den Füßen, zwei Sekunden später halte ich das Smartphone von Timothy Willis in der Hand. Unter dem lauten Protest von Timothy und seinem besten Kumpel Chris lösche ich das Video und halte  dann das Handy vor die Nasen der beiden Idioten. »Hier, bitteschön.« 

Timothy, von allen allerdings nur Tim genannt, sieht mich entsetzt an, am Rande meines Bewusstseins bemerke ich, dass es ihm der Rest des Spanischkurses nachmacht. »Du kannst doch nicht einfach mein Handy klauen! Wer glaubst du, wer du bist? Das wird mein Vater erfahren, das verspreche ich dir, er ist Anwalt.« 

Meine Finger halten das Smartphone fest, als er es sich schnappen will. »Wenn dein reicher Daddy Anwalt ist, dann weiß er bestimmt, das das drehen von Video- oder Tonaufnahmen bei Gericht verboten ist.« Tim versucht noch immer mit das Handy abzunehmen, doch ich reiße es zurück und werfe es mit einer einzigen, eleganten Bewegung direkt in Richtung Mülleimer. 

Mit einem unangenehmen Knirschen landet es anstatt im Mülleimer auf dem Boden unter dem ziemlich übel zugerichteten Waschbecken daneben. Das Geräusch des zersplitternden Displays hat den ganzen Kurs, der vorher aufgeregt getuschelt hat, verstummen lassen. Es war zwar nicht laut, aber ein fallendes Smartphone bringt seltsamerweise alle zum verstummen. 

Sämtliche Blicke richten sich zuerst auf mich, dann auf Tim, der nach vorne sprintet und sein Handy aufhebt, als wäre es der heilige Gral. Ich verdrehe die Augen. Also bitte, jeder einzelne, die auf diese Schule geht, kann sich ohne Probleme ein neues Handy kaufen. 

»Evan, ich glaube, für Sie ist ein Besuch beim Direktor gerechtfertigt. So sehr ich es auch verstehe, dass Sie zur Zeit nicht besonders aufmerksam dem Unterricht folgen, Gegenstände von anderen Schülern aggressiv durch den halben Kursraum zu werfen, geht zu weit.« Ich habe ja damit gerechnet, dass Mrs Lee nicht sonderlich begeistert sein wird, aber ein Besuch beim Direktor? Meint sie das ernst?

Ich wende mich mit einem knappen Nicken von ihr ab und verdrehe, sobald sie mein Gesicht nicht mehr sehen kann, die Augen. Mit einem raschen Handgriff fasse ich meine Schultasche am Riemen und greife dann nach meiner Jacke, die über der Stuhllehne gehangen hat. 

Auf dem Weg zur Klassenzimmertür muss ich an Tim vorbei, der gerade mit Adleraugen sein zersplittertes Handy begutachtet. Er zieht ein Gesicht, als wäre sein Kind gestorben und nicht nur etwas Glas kaputtgegangen. Das gezischte »Arschloch« von ihm kann ich kaum überhören, auch wenn ich glaube, dass es niemand außer mir mitbekommen hat. 

Ich mache auf dem Absatz kehrt und schlage ihm das Handy ohne mit der Wimper zu zucken aus der Hand. Wieder verstummen die Gespräche, die seit meiner ersten Aktion nur bis zu einem summenden Geflüster herangewachsen sind. »Evan!« Ich würdige Mrs Lee keines Blickes. 

»Schick mir die Rechnung, Timothy. Und das nächste Mal, wenn du über meine Familie ablästerst, dann sorg dafür, dass ich nicht daneben sitze!« Timothys geweitete Augen und der halb geöffnete Mund, der Sicht auf seine langen Vorderzähne erlaubt, erinnern mich ohne Überlegung an einen Hasen - aber ihm das zu sagen, würde den Bogen wohl überspannen.

Ich wende mich ab und verlasse den Klassenraum mit eiligen Schritten, es ist an der Zeit von hier zu verschwinden. 

Die Sekretärin schickt mich direkt ins Direktorenzimmer, wo Mr Navarro, ein kahlköpfiger Afroamerikaner in schickem Anzug mich überrascht mustert. »Mr Knight, ist alles in Ordnung?«

Ich nicke und zucke gleichzeitig mit den Schultern. »Mrs Lee hat mich zu Ihnen geschickt, weil ich das Smartphone eines Mitschülers durch das Klassenzimmer geworfen habe.« Bei meiner Direktheit bildet sich eine steile Falte auf der Stirn des Direktors. »Werfen Sie öfter Gegenstände von Ihren Mitmenschen durch Räume?«

»Nein, das war das erste Mal.« Mr Navarro neigt bedächtig den Kopf, dann deutet er auf einen den beiden Besucherstühle vor seinem Schreibtisch. »Dann setzen Sie sich und erzählen mir von den besonderen Umständen.« Ich glaube so etwas wie Neugier in seiner Stimme mitschwingen zu hören. Vielleicht ist er es noch nicht Leid die Geschichten von Unruhestiftern zu hören. 

Sobald ich sitze, faltet er die Hände vor seiner Brust und bedeutet mir mit einem Kopfnicken, dass ich anfangen kann. »Es gibt Leute, die taktlos und dumm genug sind, bestimmte Videos abzuspielen, die große Brüder zwingen zu handeln.« Mehr sage ich nicht. Und das brauche ich auch gar nicht, denn Mr Navarro murmelt leise:»Verstehe.«

Wie ich es mir dachte, hat jeder an dieser verdammten Schule - oder eher jeder im ganzen Bundesstaat - dieses Video gesehen. 

»Ich nehme an, das Handy Ihres Mitschülers ist nicht mehr zu gebrauchen?« »Ja, Sir.« »Dann sollten Sie es ersetzten, Mr Knight.«, es klingt wie eine Frage. »Das habe ich ihm schon angeboten.« 

Verwunderung tritt in die Augen des Direktors. »Nun, unter diesem Umständen ist - wie ich denke - von einer härteren Strafe abzusehen. Offensichtlich bereuen Sie ihre Tat und wollen sie wieder gutmachen. Aber dennoch...« Bedauern spiegelt sich in seinem Blick wider, aber auch etwas anderes, was ich nicht so recht deuten kann. Möglicherweise ist es Gutmütigkeit. Oder Mitleid. »... werden Sie für diesen Tag vom Unterricht befreit, damit Sie über ihre unüberlegte Tat nachdenken können.«

»Sie war nicht unüberlegt.« Bei Mr Navarros gehobenen Augenbrauen füge ich noch ein »Sir« hinzu. Der Direktor räuspert sich und ich wage zu behaupten, dass dabei seine Mundwinkel einen leichten Hang nach oben haben. 

»Sie sollten Ihren Bruder anrufen, damit er Sie abholen kann.« Er dreht das Telefon auf seinem Tisch in meine Richtung und schaut mich abwartend an. Anscheinend habe ich keine andere Wahl. 

Einen schweren Seufzer unterdrückend greife ich nach dem Hörer und wähle Danos Nummer. Bei seinem Privathandy geht niemand ran, erst als ich es auf seinem Geschäftshandy probiere, wird der Anruf nach einigen Sekunden angenommen. Allerdings nicht von Dano. 

»Riley Dixon, persönliche Assistentin von Daniel Knight, was kann ich für Sie tun?« Okay? Ist sie etwa bei ihm? Er müsst doch im Gericht sein! Ein abwegiger Gedanke bildet sich in meinem Kopf. Die beiden haben doch nicht...? Nein, haben sie nicht - bestimmt nicht! Wobei...

»Hier ist Evan, ist Daniel in der Nähe?« Kurze Stille am anderen Ende der Leitung, während Mr Navarro mich aufmerksam beäugt. »Tut mir leid, aber wenn dein Bruder nicht an sein Telefon geht, dann wird man automatisch mit meinem Geschäftshandy verbunden. Also nein, er ist nicht im Büro, er ist im Gericht.« 

»Super...« Ich halte die Sprechmuschel zu und wende mich an Mr Navarro. »Mein Bruder ist gerade bei der Verhandlung. Ist es in Ordnung, wenn mich eine Art Stellvertreter von ihm nach Hause fährt?« Die Augen des Direktors verschmälern sich. »Ihnen ist doch klar, dass er von diesem Vorfall informiert wird?« Ich nicke. 

»Dann sollte es kein Problem sein, solange dieser Stellvertreter volljährig ist und eng mit Mr Knight vertraut ist. Oder mit Ihrer Familie.«, fügt er noch hinzu. Ich grinse breit. »Das ist sie, keine Sorge.«

Ich spreche wieder ins Telefon, wo Riley gerade fragt, ob es bei mir alles in Ordnung ist:»Ja, mir geht es gut.« Ich lege eine kleine Pause ein. »Ist es zu viel verlangt, wenn ich dich darum bitte, mich von der Schule abzuholen? Es gab da einen kleinen Zwischenfall.«

Riley zögert, natürlich tut sie das. »Daniel hat da bestimmt nichts dagegen, eher im Gegenteil.«, fahre ich fort. 

Ich höre Riley verhalten seufzen. »Vermutlich«, murmelt sie. »Sag mir den Namen deiner Schule und ich mache mich auf den Weg. Und es Gnade dir Gott, wenn du hier irgendeine schräge Nummer abziehst, Evan Knight.«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top