SECHSUNDZWANZIG
H A I L E Y
Die Tage rauschen nur so an mir vorbei. Ich gehe zur Schule und natürlich wöchentlich zu Mrs Lorraine in die Northern School.
Bereits bei unserer zweiten Sitzung hat sie mir gesagt, dass sie kein Fan von Medikamenten gibt, die vermieden werden können, und dass es andere Wege als Beruhigungspillen gibt. Sport zum Beispiel. Sie hat mir die Aufgabe gegeben, mir eine Sportart zu suchen, die mir liegt - und überraschender Weise gelang mir das recht schnell.
Seit einigen Tagen schon gehe ich gleich nach meinen Hausaufgaben, wenn mir das Mittagessen nicht mehr schwer im Magen liegt, in den Fitnessraum im zweiten Obergeschoss unseres Hauses.
Für die Hantelbank, das Rudergerät oder die Yogamatte habe ich nicht besonders viel übrig, aber das Laufband, das direkt vor einer der beiden hohen Flügeltüren steht, hat es mir angetan. Während ich meine Distanz immer weiter steigere, höre ich laute, mich motivierende Songs aus meiner Lieblingsplaylist und lasse meinen Blick über den weitläufigen Garten schweifen. Das Gedankenkarussell in meinem Kopf kommt zum Stillstand und ich fühle mich, als würde ich schweben und nicht laufen.
Ich hätte es nicht gedacht, aber diese halbe Stunde Sport am Tag tut mir richtig gut. Ich falle Abends todmüde ins Bett und einmal habe ich mich schon dabei ertappt, dass mir beim Anblick von Essen wieder das Wasser im Mund zusammenläuft. Die Beruhigungstabletten habe ich nur zweimal gebraucht, seit ich regelmäßig laufe.
Auch meinen Brüdern scheint aufzufallen, dass ich mich verändere. Kyle hat mich einmal gefragt, ob wir wie früher Monopoly spielen, und überraschenderweise hatte ich tatsächlich Lust drauf. Ich glaube, nicht nur Kyle ist begeistert auf und ab gehüpft, bevor er zu unserem Spieleschrank im Wohnzimmer gelaufen ist.
Dano hat mich kurzerhand in eine superkurze aber knochenbrechende Umarmung gezogen, ehe er breit lächelnd doch zu einem seiner ehemaligen Kommilitonen gefahren ist, um ein Fottballspiel anzuschauen. Evan, dem er auf dem Weg zur Haustür begegnet ist, ist völlig verwirrt ist Esszimmer gekommen und hat gefragt, was Dano denn so gruslig grinsen lässt.
Es hat keine Sekunde gedauert, bis er das Spiel, Kyle und mich entdeckt hat und auch er ebenjenes gruslige Grinsen im Gesicht hatte. Das laute "Ha!", das Evan von sich gab, während er sich neben mich auf einen der Stühle hat fallen lassen, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Es klang so triumphierend und gleichzeitig so hoffnungsvoll.
Es gibt also mehrere Gründe, wieso es mir besser geht. Der ausgleichende Sport und der damit einhergehende tiefe, wenn auch immer noch kurze Schlaf, aber auch die Hoffnung, die Dano und Evan irgendwie - mit welchem faulen Trick auch immer - auf mich haben überschwappen lassen.
Mir fällt es leichter mich in der Schule zu konzentrieren und neben Landon zu sitzen ist plötzlich ziemlich lustig. Er hat einen trockenen, eigenen Humor, den ich am Anfang erst verzögert verstehe, aber sobald ich weiß, wie Landon tickt, sind seine geflüsterten Kommentare das Highlight meines Schultages.
Er, Shane und Tony hängen in letzter Zeit fast jeden Tag bei uns ab, was ich meistens aber gar nicht mitbekomme, da sie sich stundenlang in dem Zimmer verkriechen, in dem sich nicht nur ein großer Fernseher, eine Jukebox, ein Spielautomat mit hunderten Spielen und Evans nagelneue Spielkonsole und den dazu passenden Spielen, sondern auch noch eine hauptsächlich mit Bier gefüllte Bar befindet, die der Traum aller Männer ist.
Dano hat von Anfang an nicht zugelassen, dass dort sehr viele alkoholische Getränke lagern, was wahrscheinlich auch gut so ist, denn als ich das letzte Mal am Abend des Barbecues in der Lounge war, wie das Zimmer von Evan liebevoll genannt wird, waren schon einige Flaschen verschwunden.
Als ich gerade aus meinem Zimmer komme, um mir den Freitagnachmittag mit dem Backen von ein paar Keksen zu vertreiben, höre ich, wie hinter mir die Tür zur Lounge aufgeht und gleich darauf schwere Schritte hinter mir, die fast sofort in einen schnellen Laufschritt verfallen. Zwei Sekunden später grinst mich Landon an und geht mit angepasster Schrittgeschwindigkeit neben mir die Treppe ins Erdgeschoss hinunter.
Gerade jetzt muss er auftauchen! Meine Haare stecken in einem unordentlichen Zopf und ich trage eine weite Jogginghose und meinen übergroßen Lieblingspullover, der vorne groß und fett das Marvel-Logo trägt. Darunter sind ein paar Superhelden abgebildet, die ich zwar allesamt vergöttere, aber trotzdem schnell zu verdecken versuche, indem ich möglichst unauffällig die Arme verschränke. Es muss ja nicht gleich jeder wissen, dass ich eine Schwäche für Superhelden habe.
»Was machst du?«, fragt Landon ohne auf meine äußere Erscheinung zu achten. Ich zucke nur die Schultern, nicht bereit die Verschränkung meiner Arme zu lösen. »Gehst du in die Küche?«, versucht Landon es hartnäckig weiter. Ich nicke mit wachsamen Blick auf ihn. Wieso habe ich das Gefühl, dass das ein Fehler war?
»Gut, denn Evan hat mir gerade die offizielle Erlaubnis dafür gegeben, euren Kühlschrank zu plündern. Vielleicht kannst du mir ja was empfehlen...«, es klingt wie eine Frage. Ich nicke wieder.
Wir durchqueren das Wohnzimmer schweigend, und auch als ich den großen, roten Ordner mit Moms Lieblingsrezepten, auf dem jede Menge Sticker und selbstgemalte Bilder aus dem Kleinkindalter geklebt sind, aus dem Regal neben der Tür zur Küche nehme und auf der Küchentheke ablege, höre ich zu meiner Überraschung keinen Kommentar von Landon.
Obwohl ich keinen Blick auf ihn riskiere, weiß ich, dass der vor dem offenen Kühlschrank steht und seinen Blick über die einzelnen Lebensmittel gleiten lässt. Es verwirrt mich, dass ich genau weiß, wie sein Gesichtsausdruck in diesem Moment aussieht, ich kann es vor meinem inneren Auge sehen.
Hastig schlage ich den Ordner auf und blättere darin herum, bis ich das Rezept finde, auf dem schon so einige Backrückstände zu sehen sind. Vor allem Jona liebt diese Kekse, weswegen Mom sie mindestens einmal im Monat gebacken hat. Sie waren, obwohl es immer unglaublich viele waren, schon nach zwei Tagen weg. Aber so läuft es nun mal in einer Großfamilie.
Ich weiß noch genau, wie ich Dad dabei erwischt habe, wie er sich ein paar Kekse in eine Pausenbox gepackt hat, die er dann in seiner Manteltasche verschwinden hat lassen. Als er gemerkt hat, dass ich ihn erwischt habe, hat er mir verschwörerisch zugezwinkert und einen Finger auf die Lippen gelegt. Hinter ihm stand der rote Ordner aufgeschlagen im Kochbuchhalter, der in unserem alten Haus an der Wand befestigt war.
Einen Moment lang habe ich diese Szene so detailgetreu und lebensecht vor Augen, als wäre sie gerade erst passiert und nicht schon Jahre her. Ich schnappe nach Luft und taumle von dem Ordner zurück, der mich gerade durch die Zeit katapultiert hat.
Ich spüre Wärme an meinem Rücken, noch ehe ich genau sagen kann, wo. Erst, nachdem ich die Augen einmal kräftig zusammengepresst habe und mich darauf konzentriere, wird mir bewusst, dass mein Rücken an Landons Brust lehnt. Seine Arme liegen auf meinen, die ich zitternd um meinen eigenen Oberkörper geschlungen habe, wann auch immer.
Landons Geruch steigt mir in die Nase - männlich und herb - und plötzlich dringt auch seine Stimme zu mir durch. »Du musst atmen, Hailey. Versuch tief und regelmäßig einzuatmen, ja?« Ich folge seiner Anweisung und merke erst da, dass ich wirklich den Atem angehalten habe. Die Luft strömt in meiner Lungen und meine umherwirbelnden Gedanken beruhigen sich allmählich. Ebenso wie mein Herzschlag.
Während ich mich voll und ganz darauf konzentriere zu atmen, schließe ich die Augen und lehne den Kopf, als wäre es das Normalste auf der Welt, an Landons Schulter. Ich spüre seinen Atem auf meiner Wange und ich bilde mir ein auch seinen schnellen Herzschlag wahrnehmen zu können.
Landon gibt beruhigende Laute von sich und wiegt mich sanft hin und her. Wenn ich nicht so durcheinander wäre, würde ich es wohl komisch finden, aber in diesem Augenblick ist es das Einzige, das mich am Boden hält.
»Es ist alles gut. Atem einfach ganz ruhig ein und wieder aus. Es ist alles gut, Hailey, alles gut.«, seine gemurmelten Worte im Ohr öffne ich zögernd die Augen. Das Erste, was ich sehe, ist der rote Ordner und ich drehe hastig den Kopf weg. Mein Blick fällt auf Landons trainierte Oberarme, die über meinen liegen und mich fest an ihn pressen. Und plötzlich nehme ich noch viel mehr wahr.
So nah war er mir noch nie. Er hat mich noch nie an so vielen Stellen gleichzeitig berührt. Wir haben uns vor heute noch nie umarmt - Oder zählt das hier nicht als Umarmung? Seine kurzen Haare kitzeln mich im Nacken. Er riecht gut. Seine Arme liegen stark um mich und halten mich fest. Seine Brust hebt und senkt sich stetig an meinem Rücken und ich ertappe mich dabei, wie ich anfange in seinem Takt zu atmen.
Das muss aufhören. Ich muss mich endlich von ihm lösen und dafür sorgen, dass er diesen Moment der Schwäche vergisst. Doch ich kann nicht. Oder ich will nicht. Es fühlt sich zu gut an so von ihm gehalten zu werden.
Ich spüre, wie Landon seinen Kopf neigt, weil sein warmer Atem mit einem Mal viel stärker auf meine Haut trifft. Augenblicklich bildet sich eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper und ich neige den Kopf automatisch ein wenig zur Seite. Meine Augenlider fallen zitternd zu und ich warte ab, was passieren wird, während mein Herz in meiner Brust rast.
Landons schweren Atem im Ohr spüre ich, wie sein Daumen zögernd - fast schon fragend - anfängt meinen Handrücken zu streicheln. Die Berührung ist ganz behutsam und so leicht, dass ich sie mir auch nur einbilden könnte. Als ich mich nicht rühre, beugt Landon sich noch weiter nach vorne - und dann liegen plötzlich seine Lippen auf meiner Haut.
Es fühlt sich an, als würde dort eine Flamme auf meiner Haut tanzen, federleicht und wunderschön gleiten sine geschlossenen Lippen an meinem Pulli vorbei über den Ansatz meines Halses und von dort aus immer weiter nach oben.
Ich verschaffe ihm besseren Zugang, in dem ich den Kopf noch ein kleines Stückchen schiefer lege, was Landon damit beantwortet, dass er ein leises, gedämpftes Stöhnen von sich gibt. Was mich wiederum dazu bringt die Finger so zu spreizen, dass er seine dazwischen schieben kann und ich sie fest und haltsuchend umklammern kann.
Sein Mund, der eine flammende Spur hinterlässt, ist an meinem Kiefer angekommen, den er quälend langsam entlangfährt. Gerade als ich spüre, wie er seine Oberarme anspannt - Vielleicht um mich herumzuwirbeln und mich richtig zu küssen? - ertönt, wie es mir vorkommt hunderte Meter entfernt, das Geräusch einer zuknallenden Tür und Landon und ich zucken gleichermaßen zurück.
Sein stützender Körper und die damit einhergehende Wärme sind innerhalb von nicht einmal einer Sekunde verschwunden und auch das beruhigende und gleichzeitig so aufwühlende Geräusch seines Atems klingt mir nicht mehr in den Ohren.
Ich stütze mich zittrig an der Küchentheke vor mir ab und konzentriere mich ganz darauf, dass meine wackligen Beine nicht nachgeben. Mir ist kalt und ich wünsche mir die Wärme zurück, die gerade noch meinen gesamten Körper ausgefüllt hat.
Ich höre Landons Räuspern und das Zuschlagen des Kühlschranks, das so heftig ist, dass ich erneut zusammenfahre. »Sorry«, murmelt Landon, der mich anscheinend im Blick hat. Dieser Gedanke sorgt dafür, dass ich mich augenblicklich aufrichte und mich bemühe, das Rezept vor mir durchzugehen. Aber die Worte kommen nicht bei mir an. Ich lese, aber mein Gehirn ist nicht in der Lage etwas davon zu verstehen. Ganz toll.
»Ich sollte gehen.« Meine Augen richten sich auf Landons Abbild in den spiegelnden Herdplatten. Er bewegt sich keinen Millimeter, stattdessen schaut er mich so durchdringend an, dass ich selbst von der Spiegelung erneut eine Gänsehaut bekomme.
Um sie loszuwerden schüttle ich mit zusammengekniffenen Augen den Kopf. Zu spät wird mir klar, dass Landon das als Reaktion auf seine Worte verstehen kann. »Also soll ich bleiben?« Ich möchte den Kopf noch einmal schütteln, aber es will einfach nicht funktionieren. Möglicherweise, weil ich tief in mir nicht will, dass er geht, schießt es mir durch den Kopf.
Erneut ein Räuspern, und dann steht Landon plötzlich neben mir und späht über meine Schulter auf das aufgeschlagene Rezept. »Kekse also, was?«
Ich schlucke, und nicke. »Kann ich dir helfen?« Jetzt zögere ich. Will ich das wirklich?
Landon deutet mein Schweigen viel zu früh als ja, er dreht sich um und fragt diesmal lauter in die stille Küche, wo wir das Mehl aufbewahren. Ich überwinde mich, auf einen der Küchenschränke zu zeigen und dann auch die andere Hand von der Küchentheke zu lösen, dich gerade noch wie einen Rettungsring umklammert habe.
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