I Dare You

[Tim Schäcker]

Ihre Lippen öffnen sich mindestens genauso gierig, wie meine, nachdem sie sich gegen die Wand in einer ruhigen Nische fallen lassen hat. Ihre Finger zerren an meinen Haaren, ihre Nägel graben sich in meine Kopfhaut und mir entfährt automatisch ein Stöhnen, das von ihrem Mund gedämpft wird. Für einen kurzen Moment löse ich mich von ihr, um Alea ansehen zu können. Mein Blick huscht über ihre vollen Lippen. Über ihre Muttermale, die auf ihrem Wangenknochen ein Dreieck bilden. Über ihre glänzenden braunen Augen. Dann senke ich wieder meinen Kopf.

Unsere Küsse sind erhitzt und es fühlt sich an als hätte sie ihr Schutzschild abgelegt. Vorsichtig lasse ich meinen Mund über ihren Kieferknochen wandern. Doch noch ehe ich ihre empfindliche Stelle erreiche, hält mich Alea auf, indem sie mit ihren Zähnen leicht an meinem Ohrläppchen zieht. Obwohl ich meine Augen geschlossen habe, verdrehe ich sie nach oben. Erregt presse ich meine Hände flach gegen die raue Wand – versuche darüber den Druck abzubauen. Es kostet mich wirklich jegliche Selbstbeherrschung Alea nicht anzufassen.

Als sie dann anfängt am Saum meines Hemdes herumzuspielen und ihre kühlen Finger meine Haut streifen, verkrampfen sich meine. Am liebsten würde ich frustriert aufschreien, Alea über meine Schulter werfen und sie wie der letzte Hinterwäldler in das nächstbeste Schlafzimmer tragen. Ich stelle mir vor, wie ich sie auf das Bett werfe und sie mich aus großen Augen ansieht – weil sie weiß, was als nächstes passiert, in wessen Machtbereich wir uns befinden.

Ich würde die Lederhose von ihren langen Beinen streifen – samt ihrer hohen Schuhe, durch die sie wenige Zentimeter größer als ich ist. Ich würde mich auf meine Arme stützen, über ihr schweben und von ihrem Anblick nicht genug bekommen. Und wenn sie mir das Okay gibt, würde ich mein Gesicht zwischen ihren Beinen verschwinden lassen. Rau und ungehalten würde mein Name aus ihrem Mund an meine Ohren dringen und ich würde alles dafür tun, dass dieser Moment noch ein wenig länger anhält.

Dafür weiß ich jedoch viel zu gut, wie es sich anfühlt, ungewollt angefasst zu werden. Viele denken, dass ich es gar nicht merke, wenn sie über meinen Bauch oder Arsch streifen, während wir Fotos schießen. Aber ich spüre es. Jede Hand. Jeden Finger. Mein Becken fällt nach vorne. Und dieses Mal ist es Alea, der ein Stöhnen entfährt. Wie von selbst löst sich meine Hand von der Wand und schließt sich um ihren Hals. Ich üben keinen Druck aus, erlange so aber wenigstens wieder etwas Kontrolle zurück – nicht unbedingt über Alea, viel mehr über mich selbst.

Langsam verringere ich den Abstand zwischen unseren Körpern, als sie an meinem Hemdkragen zieht. Mittlerweile kribbelt es dermaßen stark in meinen Fingerspitzen, sodass ich nicht anders kann als meine freie Hand auf den dicken Stoff ihres Kapuzenpullovers zu legen. Wahrscheinlich ist sie das einzige Mädchen, das ich kenne, das einen einfachen weiten Hoodie zu einer fetten Party in LA anzieht. „Tim, wait", atmet Alea schwer gegen meine Lippen, nachdem ich das Oberteil ein Stück nach oben geschoben habe, „please."

Sofort halte ich inne, hebe meine Hände zurück an die fade Wand und warte darauf, dass sich unsere Atmung normalisiert. Es ist, als würde Alea immer für einen kurzen Moment vergessen, dass mit ihrem Körper rein gar nichts verkehrt ist und dann kommen die Dämonen plötzlich wieder alle auf einen Schlag zurück. Obwohl sich viele in dieser Situation sicher anders verhalten würden, muss ich lächeln, als Alea ihre Stirn an meine lehnt. Es zeugt von ihrem Vertrauen, das sie mir bereits vor einigen Wochen entgegengebracht hat – zwar zaghaft, dennoch hat sie es getan.

„I'm sorry I'm so sensitive", flüstert sie, nachdem ein wenig Zeit verstrichen ist. Dabei habe ich ihr schon öfter gesagt, dass sie sich nicht bei mir entschuldigen soll. Sätze wie I'm sorry I'm shy, I'm sorry I'm too skinny, I'm sorry I'm never enough sollten gar nicht über ihre schönen Lippen kommen – geschweige denn in ihrem Kopf umherkreisen. Alea könnte mit ihrem Aussehen, mit ihrem Charakter die ganzen Menschen hier wirklich leicht in den Schatten stellen – wenn sie es zulassen würde.

"You don't have to apologize", versichere ich ihr auch dieses Mal. Vorsichtig streiche ich mit meinem Daumen über ihren geschwollenen Mund, über ihre dunkle Haut, ehe ich meine Hand an ihren Hinterkopf lege. Es entspannt mich einfach nur in ihre Augen zu sehen und ich glaube, dass es auch Alea beruhigt. „I'm sorry that I'm sorry all the time", murmelt sie allerdings dann, während sie den Kragen meines Hemdes richtet.

Obwohl ich es gar nicht möchte, entweicht mir ein genervter Laut. Dabei bin ich das überhaupt nicht. Meine Boxershorts sind einfach nur immer noch ziemlich eng. „Don't say sorry", lege ich auch meine andere Hand an ihren Hinterkopf, „It's all right." Als sie leicht nickt, drücke ich ihr einen Kuss auf ihre Lippen. Er ist sanft und hat keine Ähnlichkeit mit denen von vorhin. Er soll sie vom Reden abhalten, ihren Kopf für einen Augenblick ausschalten. Er soll ihr vermitteln, dass ich warten kann.

Kurz darauf gehen wir zwar gemeinsam die Treppen hinunter, im Erdgeschoss angekommen verschwindet Alea jedoch direkt, um ihre Freundinnen zu suchen. Aus der Ferne sehe ich, wie sie innehält, als sie an den drei übereinander angeordneten Backöfen vorbeigeht. In jedem Spiegel, in jedem Schaufenster – eigentlich in jeder sich spiegelnden Oberfläche – betrachtet sie sich. Zu lang, um behaupten zu können, ihr Blick ist nur zufällig auf ihr Spiegelbild gefallen. Zu kurz, um sie mit den Frauen zu vergleichen, die immer genau abchecken, ob noch alles so sitzt wie vor fünf Minuten.

Wenn ich mich in einem Schaufenster spiegle, freue ich mich darüber, wie gut es mich aussehen lässt. Alea sieht wahrscheinlich aber etwas ganz anderes. In ihren Augen lässt nichts sie gut aussehen. Deshalb versteckt sie sich unter zu weiten Oberteilen. Deswegen mag sie es nicht, wenn jemand Fotos von ihr schießt. Dabei würde sie einigen Models den Job streitig machen.

„Mal wieder 'ne schnelle Nummer geschoben?", legt Jacob auf einmal seinen Arm um meine Schulter. Sein Grinsen ist so breit, dass ich selbst seine Backenzähne sehe. „Bro", schubse ich ihn zur Seite, „halt einfach die Fresse." Auch wenn er mein bester Kumpel ist, habe ich ihm bisher verschwiegen, dass er das falsche annimmt. Nicht weil es mein Ego nicht zulässt. Es geht ihn einfach nichts an, wie unsicher Alea mit sich selbst ist.

„Haste keinen hochbekommen? Okay, ich bete im Stillen für dich", zieht der Dunkelhaarige einen imaginären Reißverschluss über seine Lippen. „Bete lieber für dich selbst, du Penner", verdrehe ich meine Augen. Ohne Vorwarnung eigne ich mir Jacobs Red Bull an, um den bitteren Geschmack loszuwerden, der sich bei diesem Thema auf meine Zunge legt. „Keine Sorge, ich habe da kein Problem. Mein bestes Stück funktioniert auch bestens", zieht der Junge neben mir seine Hose an der Gürtelschnalle nach oben.

Kopfschüttelnd stoße ich ihn an, damit er mit mir kommt. Das Red Bull war gut, Alkohol ist besser. Am Küchentresen angekommen schütte ich Bacardi und Cola in einen roten Becher, der noch unbenutzt aussieht. Das Mischverhältnis stimmt nicht richtig, dennoch kann man es trinken. „Du hast scheinbar einiges aufzuholen", hebt Jacob skeptisch eine Augenbraue in die Höhe. Daraufhin gebe ich nur ein undefinierbares Schnauben von mir.

Alkohol ist keine Lösung, das weiß ich. Eigentlich habe ich auch kein Problem, das zu lösen gilt. Die ganze Situation fühlt sich gerade nur so unbefriedigend an. „Wie wär's?", deutet der Dunkelhaarige auf eine kleine Gruppe, die sich auf der Sofalandschaft niedergelassen hat, „Sieht so aus als könnten sie dir beim Alkoholkonsum behilflich sein." Wieder nur schnaubend betrachte ich die Ansammlung an jungen Menschen. Auf dem Wohnzimmertisch reihen sich Unmengen an Flaschen, Shotgläser und Becher aneinander. „Ja, wieso nicht", zucke ich schließlich mit meinen Schultern, als ich Alea zwischen ihren Freundinnen erblicke.

„Jacob!", wird er sofort von allen grölend empfangen, ehe ich hinter ihm hervortrete und auch mein Name in die Länge gezogen wird. „How are our favorite hosts?", breitet Markell seine Arme aus, "Wanna play too? We're just starting a round of Truth or Dare." Sofort liegt mir ein abwertendes 'Perfect' auf der Zunge. Den restlichen Abend wird es sich nur noch um irgendwelche Sexfragen drehen.

"Of course they want to play!", ertönt Benes Stimme, der zwischen zahlreichen Kissen eingesunken ist und nicht mehr ganz frisch aussieht. "Sure", murmle ich also, während Jacob und ich uns einen Platz zum Sitzen suchen. Da ich meinen Becher bereits geleert habe, mische ich mir eine neue Plörre zusammen. Jedes Mal, wenn jemand eine Frage nicht beantworten oder die Pflichtaufgabe nicht erledigen möchte und trinkt, trinke ich einfach mit.

„Tim", werde ich nach einiger Zeit angesprochen, „Truth or Dare?" Das blonde Mädchen, das mich vom gegenüberliegenden Sofa anstarrt, kommt mir wahnsinnig bekannt vor. Der Schluckauf, der einfach nicht verschwinden will, verwackelt das Bild von meinen Augen aber immer wieder. Als ich für einen Moment meine Luft anhalte, nehme ich Aleas kritischen Blick wahr, den sie der Blondhaarigen zuwirft. Die beiden müssen aus dem gleichen Freundeskreis stammen.

„Truth", unterdrücke ich ein weiteres merkwürdiges Geräusch, das dem Schluckauf geschuldet ist. „Great", schmunzelt das Mädchen, bevor sie ihre Lippen befeuchtet. „Let's say a woman won't give you the time of day. How long would you wait before writing her off?" Plötzlich bin ich mir nicht mehr so sicher, ob Alea mit ihr befreundet ist. Auch, wenn sie irgendwoher dieses Insider Wissen haben muss. Vielleicht handelt es sich auch einfach um weibliche Intuition.

„What kind of crappy question is that?", richte ich mich auf. Meine Ader am Hals beginnt zu pulsieren und ich fahre mir unruhig durch meine Haare. „Answer or drink", gibt die Blondhaarige keine Erklärung ab. „What do you wanna hear? That I set a timer? Sorry, but I have to disappoint you." Verärgert schütte ich mir so viel Alkohol in meinen Becher, dass er überläuft. Weniger elegant hebe ich ihn an meine Lippen, um einen großen Schluck zu nehmen.

Provokant deute ich auf meine gefüllten Wangen. Sollte das Mädchen auf die Idee kommen, zu behaupten, dass ich ihre Frage nicht richtig beantwortet habe, ist meine Strafe schon längst erledigt. Im Augenwinkel nehme ich wahr, wie sich Alea auf dem Sofa bewegt. Ich kann nicht ganz einschätzen, ob sie sich von unserer Gruppe trennen möchte oder, ob sie nur nervös über den Stoff rutscht. „Alea, Truth or Dare?", spreche ich aus, bevor sich meine Befürchtung bewahrheiten kann.

Erschrocken sieht sie mich aus ihren braunen Augen an. Nachdem sie sich geräuspert hat, reckt sie ihr Kinn nach vorne, „Dare." Ihre Körpersprache zeugt von einer gewissen Kampfhaltung. Es sieht so aus als wäre sie auf alles vorbereitet – als könne ich ihr jede Pflichtaufgabe stellen und sie würde sie aus Trotz erledigen. Meine Gedanken schwirren in meinem Kopf umher und bereiten mir Schmerzen.

Ich bin nur noch wenige Wochen hier in LA. Danach werde ich nach Berlin zurückkehren, ein anderes Leben führen und machen wir uns nichts vor – für eine Fernbeziehung ist das mit uns beiden viel zu frisch. Das bedeutet aber nicht, dass mir Alea vom einen auf den anderen Tag egal sein wird. Was ich mir wünsche ist, dass Alea die wenigen Zentimeter, die sie sich vorgearbeitet hat, nicht wieder in ihren Panzer zurückkriecht, sobald ich ins Flugzeug gestiegen bin.

Der Alkohol in meinem Blut formt langsam einen Satz, den ich im nüchternen Zustand sicher nicht vor so vielen Leuten sagen würde. Ein weiterer Schluck aus meinem Plastikbecher sorgt auch nicht für mehr Klarheit. Doch ich will ihr zeigen, dass ich weiß, wo das Problem liegt. Dass ich hinter ihr stehen werde, wenn sie die Pflichtaufgabe erfüllen möchte. Tief einatmend fixiere ich Alea, ehe ich ihr meine Aufgabe stelle. "I dare you to love yourself."

The End.

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Boah sorry Leute, dass ich so lange nichts mehr hochgeladen habe und jetzt nur diese komische Kurzgeschichte kommt. Hatte ich mir in meinem Kopf alles etwas cooler vorgestellt 😅

Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass auch bei mir das Reallife dazwischen gekommen ist. Arbeit, Studium, Lerngruppe, Klausuren, ein Gewinnspiel, für das ich ebenfalls etwas schreiben musste, und ich habe noch so viele ungelesene Bücher in meinem Regal stehen... Freizeitstress at the finest 🙌🏻

Naja, mal sehen, wann ich euch das nächste mal etwas über Tim Schäcker erzählen kann. Behaltet mein Buch auf jeden Fall in der Bibliothek 🤪

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