Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
Du fehlst mir.
Du fehlst mir.
Du fehlst mir...
Tausend mal der gleiche Satz in meinem Kopf.
Seit ich aufgelegt hatte hallte der Satz in meinem Kopf wieder wie ein Mantra. Es war weit nach Mitternacht, fast schon ein Uhr nachts, und noch immer lag ich wach. Meine Wolke war schon längst verschwunden.
Du fehlst mir.
Du fehlst mir.
Du fehlst mir.
Wieder und wieder wiederholte ich seine Worte als wären sie das kostbarste auf der Welt, was ich derzeit besaß. Und das waren sie. Neben den andren Worten die in meinem Kopf waren, waren Nicks Worte das pure Licht.
Schlampe.
Du dreckige Fotze.
Du fehlst mir.
Du fehlst mir.
Du fehlst mir.
Ich hätte es einfach auch sagen sollen. Es auch sagen müssen, aber mein benebeltes Hirn hatte total blockiert. Ich hatte kein Wort mehr herausbekommen. Ich hatte total Panik bekommen. Was Blödsinn war, denn er fehlte mir mit jeder Faser meines Körpers. Mit jeder Faser meines Körpers, die nicht betäubt in einer Wolke sein wollte, wollte ich ihn. Aber ich hatte aufgelegt, weil ich Angst bekommen hatte. Angst vor drei Worten.
Du fehlst mir.
Und drei weitere...
Ich liebe dich.
Ich war so dumm. Es war Nick. Nick. Nicht irgendein Kerl. Ich hielt mein Handy noch immer in der Hand. Ich konnte das nicht einfach so stehen lassen. Nicht bei ihm. Ich hatte ihn schon aus dem Krankenhaus geworfen. Ich wusste, dass ich um mich schlug, weil ich mit der Situation nicht umgehen konnte und ich traf ihn. Vornehmlich ihn – der es am wenigsten verdient hatte. Ich wollte ihn nicht von mir stoßen, aber ich bekam es im Moment einfach nicht besser hin.
Ich: Du mir auch... schlaf gut...
Ich legte das Handy zur Seite und schloss die Augen. Ich wünschte mir eine traumlose Nacht. Nur heute Nacht. Eine einzige. Nichts mehr wünschte ich mir als das.
***
Es war einmal an einem bitterkalten Abend; es schneite und war beinahe schon ganz dunkel, der letzte Abend des Jahres.
In dieser Kälte und Finsternis ging auf der Straße ein kleines, armes Mädchen, mit bloßem Kopfe und nackten Füßen. Als sie das Haus verließ, hatte sie freilich Pantoffeln angehabt: aber was half das? Es waren sehr große Pantoffeln gewesen, die ihre Mutter bisher benutzt hatte, so groß waren sie. Die Kleine aber verlor dieselben, als sie über die Straße hinweg huschte, weil zwei Wagen schrecklich schnell vorüber rollten. Der eine Pantoffel war nicht wieder zu finden, den anderen hatte ein Junge erwischt und lief damit fort; er meinte, er könne ihn recht gut als Wiege benutzen, wenn er selbst erst Kinder hätte.
Da ging nun das kleine Mädchen mit den kleinen, nackten Füßen, die ganz rot und blau vor Kälte waren. In einer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer und ein Bund davon in der Hand. Niemand hatte den ganzen langen Tag ihr etwas abgekauft, Niemand ihr einen Pfennig geschenkt.
Zitternd vor Kälte und Hunger schlich sie einher, ein Bild des Jammers, die arme Kleine!
Die Schneeflocken bedeckten ihr langes, blondes Haar, welches in schönen Locken um den Hals fiel; aber daran dachte sie nun freilich nicht.
Aus allen Fenstern glänzten die Lichter, und es roch ganz herrlich nach Gänsebraten: es war ja Silvesterabend. In einem Winkel, von zwei Häusern gebildet, von denen das eine etwas mehr vorsprang als das andere, setzte sie sich hin und kauerte sich zusammen. Die kleinen Füße hatte sie an sich gezogen; aber es fror sie noch mehr, und nach Hause zu gehen wagte sie nicht: sie hatte ja keine Schwefelhölzchen verkauft und brachte keinen Pfennig Geld.
Von ihrem Vater würde sie gewiss Schläge bekommen, und zu Hause war es auch kalt; über sich hatten sie nur das Dach, durch welches der Wind pfiff, wenn auch die größten Spalten mit Stroh und Lumpen zugestopft waren.
Ihre kleinen Hände waren beinahe vor Kälte erstarrt.
Ach! ein Schwefelhölzchen konnte ihr gar wohl tun, wenn sie nur ein einziges aus dem Bunde herausziehen, es an die Wand streichen und sich die Finger erwärmen dürfte.
Sie zog eins heraus. Rrscht! wie sprühte, wie brannte es! Es war eine warme, helle Flamme, wie ein Lichtchen, als sie die Hände darüber hielt; es war ein wunderbares Lichtchen! Es schien wirklich dem kleinen Mädchen, als säße sie vor einem großen, eisernen Ofen mit polierten Messingfüßen und einem messingenen Aufsatze. Das Feuer brannte so gesegnet, es wärmte so schön; die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen; - doch - da erlosch das Flämmchen, der Ofen verschwand, sie hatte nur die kleinen Überreste des abgebrannten Schwefelhölzchens in der Hand.
Ein zweites wurde an der Wand abgestrichen; es leuchtete, und wo der Schein auf die Mauer fiel, wurde diese durchsichtig wie ein Schleier: sie konnte in das Zimmer hineinsehen.
Auf dem Tische war ein schneeweißes Tischtuch ausgebreitet, darauf stand glänzendes Porzellangeschirr, und herrlich dampfte die gebratene Gans, mit Äpfeln und getrockneten Pflaumen gefüllt. Und was noch prächtiger anzusehen war: die Gans hüpfte von der Schüssel herunter und wackelte auf dem Fußboden, Messer und Gabel in der Brust, bis zu dem armen Mädchen hin.
Da erlosch das Schwefelhölzchen, und es blieb nur die dicke, feuchtkalte Mauer zurück.
Sie zündete noch ein Hölzchen an. Da saß sie nun unter dem herrlichsten Christbaume; er war noch größer und geputzter als der, den sie durch die Glastüre bei dem reichen Kaufmanne gesehen hatte. Tausende von Lichterchen brannten auf den grünen Zweigen, und bunte Bilder, wie sie an Schaufenstern zu sehen waren, blickten auf sie herab. Die Kleine streckte ihre Hände danach aus: da erlosch das Schwefelhölzchen.
Die Weihnachtslichter stiegen höher und höher; sie sah sie jetzt als Sterne am Himmel; einer davon fiel herunter und bildete einen langen Feuerstreifen.
„Jetzt stirbt Jemand!" dachte das kleine Mädchen, denn ihre alte Großmutter, die Einzige, die sie lieb gehabt hatte, und die jetzt gestorben war, hatte ihr erzählt, dass, wenn ein Stern herunterfällt, eine Seele zu Gott emporsteigt.
Sie strich wieder ein Hölzchen an der Mauer ab, es wurde wieder hell, und in dem Glanze stand die alte Großmutter so klar und schimmernd, so mild und liebevoll.
„Großmutter!" rief die Kleine. „O! nimm mich mit! Ich weiß, Du entfernst Dich, wenn das Schwefelhölzchen erlischt; Du verschwindest, wie der warme Ofen, wie der herrliche Gänsebraten und der große, prächtige Weihnachtsbaum!"
Und sie strich schnell das ganze Bund Schwefelhölzchen, denn sie wollte die Großmutter recht fest halten.
Und die Schwefelhölzchen leuchteten mit einem solchen Glanze, dass es heller wurde, als mitten am Tage; die Großmutter war nie früher so schön, so groß gewesen; sie nahm das kleine Mädchen auf ihre Arme, und Beide flogen in Glanz und Freude so hoch, so hoch; und dort war weder Kälte, noch Hunger, noch Angst - sie waren bei Gott.
Aber im Winkel an die Mauer gelehnt, saß in der kalten Morgenstunde das arme Mädchen mit roten Backen und mit lächelndem Munde - erfroren an des alten Jahres letztem Abend.
Die Neujahrssonne ging auf über der kleinen Leiche.
Starr saß das Kind dort mit den Schwefelhölzchen, von denen ein Bund abgebrannt war.
„Sie hat sich erwärmen wollen!" sagte man.
Niemand ahnte, was sie Schönes gesehen hatte, in welchem Glanze sie mit der Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war.
***
Ich schrak auf.
Ich war schweißgebadet, mein T-Shirt klebte an mir.
Mein Puls raste. Diese elendigen Alpträume. Diese verdammten Märchenträume. Mühsam richtete ich mich in meinem Bett auf und blinzelte in die Dunkelheit.
Dieser Traum... Das Mädchen mit den Schwefelhölzern...
Ich lehnte mich gegen das Kopfteil meines Bettes und schloss die Augen. Diese Märchen, von denen ich in den letzten Wochen geträumt hatte, sie alle waren so... furchtbar. So lebendig und grausam. Ich hasste jeden einzelnen Traum und träumte ihn immer und immer wieder.
Und dieses...
Ich hatte das Märchen schon als Kind gehasst. Es war eins der grausamsten und furchtbarsten Märchen, die ich je gehört hatte.
Ich fuhr mir über die geschlossenen Augen und spürte meinem Atem nach. Er ging unregelmäßig, gepresst.
All diese Märchen waren mir nah... Rotkäppchen... Schneewittchen... In jedem erkannte ich Motive, die mich begleitet hatten... die... Aber dieses... dieses war mir am nächsten. Dieses ging mir nah. Dieses war...
Der Hunger.
Die Kälte.
Die Einsamkeit.
Ich schloss die Augen.
Ich hatte das Märchen schon als Kind gehasst.
Mit einem Ruck stand ich auf und verließ mein Bett. Es war halb vier. Mitten in der Nacht, viel zu früh. Mit dem Fuß stieß ich gegen das langstielige Weißweinglas, das ich gestern Abend nach dem Essen mit hoch genommen hatte und schluckte.
Das langstielige Weißweinglas machte auch nicht, dass der Hunger verschwand, genauso weinig wie die Kälte oder die Einsamkeit. Der Gedanke schoss schnell in meinen Kopf und ich schob ihn auch schnell wieder hinaus. Sehr schnell. Ich wollte über dieses Märchen nicht mehr nachdenken und auch nicht über den Grund, warum es mir so nah ging. Ich wollte nicht darüber nachdenken, warum es mir so zu setzte und auch nicht über die Kälte, den Hunger und die Einsamkeit. Und auch nicht über Düsseldorf.
Und damit war ich wieder beim Anfang. Ich sackte vor meinem Bett zusammen und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Ich war wieder beim Anfang. Bei meinem Mantra.
Ich wollte nicht hier sein.
Ich wollte nicht dort sein.
Auf gar keinen Fall wollte ich dort sein.
Und doch fehlte er mir.
Du fehlst mir.
Du fehlst mir.
Du fehlst mir.
Kälte.
Hunger.
Einsamkeit.
Du fehlst mir.
Du fehlst mir.
Du fehlst mir.
Das langstielige Weißweinglas.
Vier Uhr morgens.
Leer in meiner Hand.
Kälte. Einsamkeit. Durst.
Du fehlst mir.
.........
Schönes Wochenende
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