Kapitel 6

Die Ruhe vor dem Sturm

Wir standen vor einem See. Mitten im Wald. Über den Bäumen ging bereits die Sonne auf. Wir standen neben einem Haus mit Steg. Das Haus war klein aber ziemlich neu. „Kommst du?", fragte Oryx, der unser Gepäck schon im Flur abgestellt hatte. Ich eilte die Stufen der Veranda hinauf und trat ein. Es war anders als im VSS-Gebäude. Viel häuslicher und intimer und einfach... schön. „Was hast du denn gegen das Haus?", fragte ich. Für mich war es perfekt. „Es gibt Gerüchte. Dieser Ort wird auch „die Ruhe vor dem Sturm" genannt. Oft passieren hier in jeder Hinsicht unerwartete Dinge. Und hier werden Sonderfälle trainiert. Sonderfälle wie du", flüsterte Oryx und kam immer näher. Er machte mir Angst. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, machte er mir Angst. Ich musste schlucken. Sonderfall. Das hörte ich so schlecht an. „Du kannst das Schlafzimmer haben. Ich schlafe auf dem Sofa", sagte Oryx, „Aber zuerst wird trainiert."

-----

Ich wunderte mich, dass ich trotz meiner totalen Übermüdung überhaupt trainieren konnte. Das Training bestand dieses Mal darin, am Haus hochzuklettern. Ich konnte das, glaube ich ziemlich gut. Wenn auchnicht besser als Oryx. Zum Abendessen gab es Kartoffeln und ich wunderte mich,dass Oryx kochen konnte. „Kannst du schwimmen?", fragte Oryx. „Wieso sollte ich es nicht können?", fragte ich zurück. „Beantworte einfach die Frage." Ich legte Messer und Gabel beiseite. Sonst würde ich gleich für nichts mehr garantieren können. „Ja, ich kann schwimmen", fauchte ich. Ich könnte diesen Typen umbringen! „Das trifft sich gut. Du wirst gleich im Wasser trainieren." „Ich habe aber keinen Badeanzug dabei!", knurrte ich. In Oryx Blick flammte etwas auf.War es Freude? Erwartung? Auf jeden Fall war es kein Zorn. „Dann wird dir nichts anderes übrig bleiben, als nackt zu trainieren", flüsterte Oryx, „Das dürfte dir doch nichts ausmachen." Ich warf ihm einen wütenden Blick zu, eheich aufstand und zur Spülmaschine ging. Seltsamer Weise spürte ich, dass Oryx direkt hinter mir stand. „Hast du vor, ewig da zu stehen?", fragte er. Es war genug. Ich packte das Messer und wirbelte herum. Oryx zuckte nicht einmal zusammen, als er das Messer an seiner Kehle wiederfand. „Du wirst mich nicht umbringen", sagte er ganz ruhig. „Wie kommst du darauf?", fragte ich verblüfft. Er hatte Recht. Wenn ich es wirklich gewollt hätte, hätte ich ihm das Messer zwischen die Rippen gerammt. „Du liebst mich. Du könntest mich niemals umbringen", flüsterte er, schob meine Hand weg und schob mich nach hinten, bisich gegen die Arbeitsplatte stieß. „Nein, tue ich nicht", flüsterte ich, abermeine Stimme schwand. „Bist du dir ganz sicher?", flüsterte Oryx. Meine Augen wurden rot. Unsere Körper berührten sich fast überall. Ob Vampirzähne wohl beim Küssen störten? Nein, eindeutig nicht. Seine Lippen waren erstaunlich weich. Erschrocken lies ich das Messer fallen. Mit einem lauten Scheppern fiel es zu Boden. Oryx vergrub die Hände in meinen Haaren. Dann stieß er mich weg. Seine Augen waren feuerrot. Dieser Kuss hatte ihn nicht kalt gelassen. „Komm mit raus", sagte Oryx, aber seine Stimme war nicht so schroff, wie sonst. Sie war eher belegt. Es war ihm peinlich. Irgendetwas stimmte hier nicht. Dann war er nach draußen verschwunden. Ich folgte ihm. „Noch kannst du dir aussuchen, ob du angezogen oder nackt schwimmen willst", sagte Oryx trocken. Ich hatte keine Lust, jetzt mit ihm zu diskutieren. Also zog ich Schuhe, Hose und Socken aus. „Und jetzt?", fragte ich. „Du springst ins Wasser und tauchst nach ein paar Dingen", erklärte Oryx. „Ich werde nichts sehen können. Es ist zu dunkel",widersprach ich. „Da liegt ja die Herausforderung", sagte er. Langsam ging ich auf ihn zu. „Und wenn ich mich weigere?", flüsterte ich. Oryx musterte mich von Kopf bis Fuß. Dabei blieb sein Blick länger an meinem Ausschnitt und an meinen nackten Beinen hängen als anderswo. Das war untypisch für ihn. Normalerweise ignorierte er meinen Körper vollständig. „Nun, dann werde ich mir eine Strafe für dich überlegen müssen. Das gilt auch, wenn du die Gegenstände nicht findest", flüsterte er. Seine Augen wurden wieder rot. Dann schlang er mir einen Arm um die Hüfte und warf mich ins Wasser. Das Wasser war warm für meine eiskalte Haut. Prustend tauchte ich auf. „Spinnst du?", schrie ich Oryx an. Er lachte. „Sehr witzig!", fauchte ich und tauchte erneut unter um mir die Haare aus dem Gesicht zu wischen. „Als erstes holst du die Uhr", sagte Oryx. Doch anstatt sie einfach vor sich fallen zu lassen, schleuderte er sie mit aller Kraft über den See. Sie platschte bestimmt 150 Meter entfernt ins Wasser. So weit konnte nur ein Vampir werfen. „Ist das dein Ernst? Ich bin nicht dein Hund, der Stöckchen holt", sagte ich. „Also weigerst du dich? Gut, dann werd eich..." „Schon gut. Ich mach's." Aus irgendeinem Grund war es mir schrecklich peinlich durch den See zu schwimmen, nur um eine bekloppte Uhr zu holen, während Oryx dabei zusah. Es war noch viel schwerer als gedacht, die Uhr zu finden. Als ich anfing, mich unter Wasser nach Lichtreflexen umzusehen, war ich mir nicht einmal sicher, ob ich an der richtigen Stelle suchte. Meine Füße verhedderten sich ständig in Algen und irgendwann verlor ich die Orientierung, sodass ich auftauchen musste. „Hast du sie?", fragte Oryx. Obwohl er es in normaler Lautstärke sagte, verstand ich auf diese Entfernung jedes Wort. „Nein", erwiderte ich. „Du konntest sie auch nicht finden", sagte er und hielt die Uhr hoch. Oryx hatte irgendetwas anderes geworfen und ich war darauf hereingefallen. Dieser Typ war so ein Arschloch. Vielleicht hätte ich ihn doch umbringen sollen. So schnell wie möglich schwamm ich zurück um mich zu rächen. Ich zog mich am Steg hoch und Oryx streckte die Hand aus um mich von sich wegzuhalten. „Jetzt ist es, denke ich, Zeit, dass du von meiner Fähigkeiterfährst. Wenn du wütend bist, wenn andere wütend sind -und ich meine nicht nur Vampire- dann kann ich Gedanken lesen. Das ist der eigentliche Grund, aus dem du nie im Kampf gegen mich gewonnen hast. Ich... ich habe alle deine Schläge und Tritte schon in deinem Kopf gesehen. Also wäre es schwer für dich, dich wütend an mir zu rächen", erklärte Oryx. Meine Wut war wie weggeblasen, nur um eine Sekunde später mit voller Wucht zurückzukehren. Aber sie war anders. Ich war sauer auf Oryx, weil er mir etwas so wichtiges verschwiegen hatte. Als mein Mentor. Ungeachtet dessen, was er mir gerade erzählt hatte, tat ich etwas, das Mädchen in solchen Situationen oft taten. Ich gab ihm eine Ohrfeige. Er wehrte sie nicht ab. „Du hast Recht", sagte er, „Ich habe es verdient." „Warum hast du mir das nicht erzählt?" „Ich habe es außer Cory -und jetzt dir- niemandem erzählt. Es ist ein Vorteil im Kampf", sagte er. „Hast du je einen Kampf verloren?", fragte ich. „Ja, die ersten Kämpfe gegen meine Mentorin. Quira",erklärte er. In seiner Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit, als er seine Mentorin erwähnte. „Was ist deine Fähigkeit?", wollte er wissen. „Ich glaube, ich habe keine", erwiderte ich. „Du kannst es mir ruhig sagen, ich habe es dir auch gesagt. Sag' es mir, Susan", flüsterte Oryx. Jetzt verstand ich es. Oryx hatte mir nicht aus Nettigkeit von seiner Fähigkeit erzählt. Er wusste, dass das der Preis war um die meine zu erfahren. „Du willst noch besser sein als ich, nicht wahr? Du bist so ein Idiot!" Das letzte Wort schrie ich. Ich nahm all meine Kraft zusammen und stieß Oryx vom Steg. Meine Wut war zu schnell gekommen. Oryx wollte meinen Stoß abwehren, aber er schaffte es nicht. Er schaffte es nicht! Ich griff nach meinen Sachen und stürmte ins Haus. Oryx musste direkt hinter mir sein, aber ich musste hier weg. Worauf hatte ich mich hier nur eingelassen? Ich rannte die Treppe hinauf und ins Schlafzimmer. Ich versuchte die Tür zuzuziehen, aber es ging nicht. Oryx hatte seinen Fuß zwischen Tür und Rahmen geschoben. Verzweifelt versuchte ich trotzdem die Tür zuschließen, doch Oryx riss sie mit einer Hand auf. Bei seinem Anblick wich ich zurück. Er hatte sein T-Shirt ausgezogen und sein Oberkörper war mit etlichen Narben aller Größen übersäht. Besonders auffällig war aber die Mutationsnarbeam Unterarm. „Jetzt siehst du, was diese Fähigkeit aus mir gemacht hat. Es gab eine Zeit, in der ich vielen Leuten von meiner Fähigkeit erzählt hatte. Sie dachten ich wäre unverwundbar. Sie hassten mich deshalb. Zehn Vampire griffen mich an. Sie haben mir diese Narben verpasst. Ich habe die Hälfte von ihnen getötet. Seitdem habe ich niemandem mehr davon erzählt. Ich habe dich nur aus Neugierde gefragt", erklärte er. Ich schüttelte den Kopf. So leicht kriegte ermich nicht rum. Dazu kam noch, dass ich wirklich nicht wusste, welche Fähigkeit ich hatte. „Warum soll ich dir das glauben? Sag es mir!", fauchte ich. Der Vampir in mir gewann die Oberhand über mein menschliches Verhalten. Sag mir, dass du mich liebst, dachte ich. Ich wusste, dass er mich hören konnte. „Ich kann es nicht. Es ist...", er brachmitten im Satz ab. Sein Blick wanderte zwischen meinen Augen und Lippen hin undher. Was wurde das denn schon wieder? Mit wenigen Schritten war er bei mir. Vorsichtig zog er meine Augenlieder auseinander und tastete an meinem Unterkiefer entlang. „Wann hattest du das letzte Mal Blut?", fragte er. Gereizt schlug ich seine Hände weg. „Als ich vor drei Wochen beim Laufen umgekippt bin", erwiderte ich. „Du brauchst Blut, sonst drehst du durch." „Mir geht's gut!", fauchte ich. „Nein", widersprach Oryx, „Deine Augen verlieren die Farbe.Deine Lippen auch. Hier." Er schob mich vor den Spiegel. Er hatte Recht. Meine Lippen und Augen wurden mit jeder Sekunde grauer. „Aber wir sind hier mitten im Wald. Wie sollen wir hier Menschen finden?", fragte ich. „Gar nicht. Wir suchen Tiere. Zieh dir was Trockenes an. Wir gehen in den Wald.", erklärte Oryx und verließ das Zimmer. Ohne zu zögern zog ich mich um. So schnell ich konnte, rannte ich nach unten. „Lass uns gehen", sagte Oryx und öffnete die Tür. Es war anders durch den Wald zu rennen als durch Gebäude. Die Bäume Flogen an mir vorbei. Meine Schritte waren unfassbar leise. Es war schwer, bei Nacht Tiere zu finden, aber schließlich fanden wir ein schlafendes Reh. Ich fand mich selber unausstehlich, als ich meine Zähne in das wehrlose Tier schlug, aber Oryx hatte Recht: ich musste mich mit meiner Natur abfinden. Das Reh Blut war anders als menschliches. Nicht besser und nicht schlechter. Einfach anders. Man könnte es vielleicht als herber beschreiben. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass Oryx auch ein Tier gefunden hatte. Bald schon gab das Reh kein Blut mehr her. Es war unglaublich wie viel ich trinken konnte. „Hast du genug getrunken?", fragte Oryx. Ich nickte und schob das Reh beiseite. Zum ersten Mal sah Oryx aus wieein Vampir, so wie ich ihn mir als kleines Mädchen vorgestellt hatte. Blasse Haut, rote Augen, Blut in den Mundwinkeln. Ein Monster. „Du kannst dich gleichmal waschen", sagte Oryx spöttisch. Ich betastete meinen Mund, ebenso wie mein Kinn und meinen Hals. Alles war nass. Blut. Na toll. Wir machten uns auf den Rückweg, während dem ich müde wurde. Auch wenn ich als Vampir weniger Schlaf brauchte als als Mensch, aber das hieß nicht, dass ich gar keinen Schlaf brauchte. Die Müdigkeit war so schlimm, dass ich im Bad gerade noch mein blutverschmiertes Gesicht waschen konnte, ehe ich auf dem Boden einschlief.

----------------------------------------------

Hallo!
Sieht so aus, als würde ich jetzt alle Kapitel zwei teilen.

Na, was ist denn jetzt mit Oryx los? Erst küsst er unsere Susan und dann? Aber mal ehrlich, wer liebt ihn nicht, wegen seiner Art?

Bald geht's weiter. Ich habe letzten Sommer angefangen, an einem zweiten Teil zu arbeiten, komme aber nicht wirklich weiter. Soll ich mich dahinter klemmen und ihn nach dem ersten auch noch rausbringen?

~BookEntertainment

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top