Before

Zur Erklärung:

After - Gegenwart in Seetal  (personaler Erzähler)

Before - Ein Jahr davor in Graz (abwechselnd aus Sicht von Ella oder Amelie geschrieben)

________________________________________________

Ella P. o. V.

Etwas nervös schulterte ich meinen Stoffbeutel und ging mit langsamen und bedächtigen Schritten auf die drei Eingangstüren zu.

Das war sie also. Meine Universität.

Natürlich hatte  ich mir in Deutschland Bilder angeguckt und war auf der Internetseite gewesen, aber alles weitere hatte mein Vater für mich geregelt. Wie immer eigentlich. Es war ja schließlich auch sein langjähriger, verbissener Wunsch gewesen, dass ich in Graz studieren sollte.

Nachdem sich aber recht schnell herausgestellt hatte, dass ich die Frechheit besaß, nicht wie er eine Begabung für Naturwissenschaften zu haben, fiel seine bevorzugte Studienrichtung für mich schon mal weg: Biochemie.

In der Schule eine Niete in beiden Fächern, hatte mir die erste 5 in Chemie in der 7. Klasse eine saftige Ohrfeige und ein zweiwöchiges Hausverbot eingebracht, was mir allerdings ganz gut gepasst hatte. Vaters Wutanfall war mir stets in Erinnerung geblieben, jedoch hatte sich an meinen schlechten Zensuren in Chemie, Bio, Physik und Mathematik nicht viel geändert.

Die Formeln und angeblich logischen Zusammenhänge wollten einfach nicht in meinen Kopf, ganz egal wie oft Vater es mir mit einer schlecht unterdrückten Wut in der bebenden Stimme zu erklären versucht hatte.

Seine Empörung über mein nicht vorhandenes Talent in den Fächern, die er doch so sehr liebte, war groß gewesen und noch immer nicht ganz verschwunden.

Wie konnte ich es wagen, nicht die erforderlichen Voraussetzungen für einen Beruf in der Pharmazie zu haben?

Wusste ich denn nicht, welch eine Schande, was für eine unerträgliche Schmach ich ihm damit bereitete?

Aber Zahlen und Variablen hatten noch nie mein Interesse geweckt. Buchstaben reizten mich nicht als Abkürzung in einer Gleichung, sondern in geschriebener Form, in Texten jeder Art.

Schreiben war für mich das Schönste auf der Welt. Ich lebte durch die Worte auf, ich lebte in den Worten. Ich lebte für das Schreiben und gleichzeitig schrieb ich, um zu leben. Ich fühlte durch die Charaktere, empfand deren Schmerz und die Wut und das Glück und die Freude.

Unbegreiflich für einen angesehenen Biochemiker, deren Lebensinhalt es war, neue Medikamente zu entwickeln. Zum Glück war es ihm vergönnt gewesen, noch ein zweites Kind zu bekommen, einen Sohn.

Oh, wie war die Freude groß gewesen, als sich rasch herausstellte, wie viel begabter der kleine Malte war! Welch Erleichterung, dass wenigstens eins seiner Erben in seine Fußstapfen treten und seinen hoch geachteten Namen in der Biochemie verteidigen würde!

Und er sollte nicht enttäuscht werden, mein stolzer Vater: Malte war nun in der zehnten Klasse und zeigte beeindruckende Leistungen in jenen Fächern, die für mich stets die Hölle auf Erden gewesen waren. Gott sei Dank! Wenigstens ein Kind war für ihn nützlich war!

Dass ich hervorragende Zensuren in Deutsch, Englisch, Französisch und Philosophie erzielte, hatte kaum ausgereicht, um sein gieriges Verlangen zu stillen, ebenso wie mein Wunsch, Autorin zu werden.

Als die neunjährige, begeisterte Ella ihren Eltern voller Stolz verkündet hatte, dass sie später Bücher schreiben würde, hatte ihr Vater nur ein spöttisches Lachen für den in seinen Augen so kindischen Traum übrig gehabt, während die gutmütige Mutter sich erbarmt und ihre naive Tochter über das Leben aufgeklärt hatte: "Liebling, niemand verdient sein Geld mit dem Schreiben von Büchern, das will doch keiner lesen. Mach lieber etwas Vernünftiges!"

Die Worte aus dem Mund einer im Inneren verbitterten Frau, die ihr Leben lang nur den Erwartungen anderer versucht hatte gerecht zu werden, statt ihren eigenen Träumen zu folgen.

Von diesem Moment an hatte ich mich stets gehütet meine wahren Gedanken laut auszusprechen. Was hätte dies auch für einen Sinn gehabt, wo ich doch nur belächelnde und belehrende Antworten bekam?

Geschrieben hatte ich trotzdem. Zuhause am Schreibtisch, auf dem Weg zur Schule in der Straßenbahn, im Unterricht unter der Bank, nachmittags im Park.

Oft waren es einfach nur meine eigenen Gedanken gewesen, umgewandelt in Gedichte. Später hatte ich begonnen, Kurzgeschichten zu schreiben und sogar mal ein echtes Buch angefangen, aber nie den Mut gehabt, es auch zu beenden. Gezeigt hatte ich all meine Texte nie jemandem.

Wem auch?

Meine Eltern hatten kein Interesse an Büchern und Literatur, schon gar nicht an dem selbst verfassten Humbug ihrer Tochter. Der Rest meiner Familie war mir fremd, und Freundinnen hatte ich nicht.

Ich meine, klar, es gab Mädchen, mit denen ich meine Pausen verbracht hatte und die mich am Nachmittag zu sich nach Hause einluden. Doch es wäre eine Lüge zu behaupten, dass sie mich tatsächlich kannten.

So schrieb ich für mich alleine und meine Werke blieben auf der Festplatte meines Computers versteckt. Es war besser so. Die Geschichten bedeuteten mir viel, es war persönlich und spiegelte das Zerbrochene in meinem Inneren wieder.

Das Risiko verletzt zu werden war hoch, viel zu hoch.

"Du hast keine Zukunft, keine Perspektive, wenn du nicht bald mal entscheidest, was du vom Leben willst! Wie kannst du denn nicht wissen, was dein Traumberuf ist?", hatte mein Vater immer gerufen, die dröhnende Stimme von Empörung erfüllt, und sich dabei das wenige graue Haar gerauft.

Ich wusste, was ich wollte. Schreiben. Was ich den ganzen lieben langen Tag machte. Allerdings hätte Vater das nie geduldet, selbst mein Wunsch, als Alternative Philosophie zu studieren wurde mit verächtlichen Beleidigungen konsequent abgelehnt.

Stattdessen war ich nun hier, in einem fremden Land, in einer fremden Stadt und sah einem fünfjährigen Germanistikstudium entgegen, im Anschluss würde ich in einem gut angesehenem Verlag eine Stelle als Lektorin antreten und hoffentlich Karriere machen, um meinen anspruchsvollen Vater ruhig zu stellen.

Germanistik.

Das war das Fach, was er auf die eindringliche Empfehlung meiner Deutschlehrerin hin skeptisch für mich ausgesucht hatte. Und so war ich gleich im Anschluss an mein mit Bestleistungen bestandenes Abitur von Hamburg nach Graz gezogen.

Ich lebte in einer modernen und recht teuren Wohnung und mir stand monatlich mehr als genug Geld zur Verfügung. Und trotzdem kannte ich hier niemanden, neue Kontakte knüpfen hatte noch nie zu meinen Stärken gezählt.

Ich schluckte schwer, als ich in der Universität all die anderen Erstsemester sah, die aufgeregt plappernd in die Tür hereinströmten, durch die ich ebenfalls gehen musste.

Mit einem schweren Schlucken trat ich über die Schwelle und stand in einem riesigen Hörsaal. Ich umklammerte den Griff meiner Tasche so fest, dass meine Finger ganz weiß wurden und sich der Stoff tief in meine Haut schnitt.

Schüchtern suchte ich mir einen Platz in der Mitte. Die Reihe war noch vollständig leer und irgendwie war ich dankbar und traurig zugleich. Orientierungslos sah ich mich um und erzitterte fast angesichts der Masse an Unbekannten, die sich hier versammelt hatten.

Ich biss mir fest auf die Lippe, um nicht los zu weinen. So allein wie hier an diesem fremden Ort hatte ich mich noch nie gefühlt. Aber Vater hatte ja darauf bestanden, dass ich unbedingt in Graz studieren müsse! Das sei ja so eine großartige Universität, da könne ich doch gar nicht 'nein' sagen!

'Nein' hatte ich trotzdem gesagt, es oft wiederholt und schließlich doch nachgegeben.

Mit der rechten Hand fuhr ich mir durch das blonde, kurze Haar, das mir nicht mal bis zu den Schultern reichte. Meine hellbraunen Augen wanderten von einem unbekannten Gesicht zum nächsten. Der Zeigefinger meiner Hand bebte, als ich mir meine transparente Brille mit den runden Gläsern höher auf die Nase schob.

Wie sollte ich mich hier nur je zurecht finden? Eine gewisse Hoffnungslosigkeit packte mich und riss mich mit wie ein vorbei fahrender Zug. Verzweifelt bemühte ich mich, die Kontrolle zu behalten, doch meine Ruhe schwand dahin. Es war nur das Einführungsprogramm, wir befanden uns schließlich noch in der Orientierungswoche. Kein Grund zur Panik. Ich musste nur abends zu den extra für die Erstsemester veranstalteten Partys gehen und ein paar nette Leute kennerlernen.

Nur?

Für mich klang das grauenhaft. Die Vorstellung, von allen prüfend gemustert zu werden, raubte mir fast den Atem. Ich wollte das nicht. Wehleidig kämpfte ich gegen den Kloß in meinem Hals an, sodass ich die junge Frau gar nicht bemerkt hatte, die an mir vorbei wollte.

"Wiad's heit noch, moa Liawe?", fragte sie mit einem breiten Grinsen.

"Was?", gab ich verwirrt zurück und wischte mir rasch die Tränen aus dem Augenwinkel.

Die großen, schokobraunen Augen funkelten belustigt, als sie antwortete: "Owa meakscht denn nich, dasch ich da siezen will?"

"Entschuldigung, könnten Sie bitte etwas deutlicher sprechen?", bat ich sie hilflos und bemühte mich, meine zitternden Hände unter Kontrolle zu bringen.

"Ich mach doch nur Spaß!", meinte sie nun in einem völlig dialektfreien Deutsch. Kopfschüttelnd lachte sie über meinen perplexen Gesichtsausdruck und strich sich eine rot-braune Haarsträhne ihrer beeindruckenden Löwenmähne zurück. Ihre Haut war wie aus Porzellan, ganz fein und hell.

Mir fiel auf, dass sie ziemlich hübsch aussah. Eher breit gebaut und kurvig, aber dick oder plump wirkte sie keinesfalls. Obgleich ich rot wurde bei dem Gedanken, musste ich mir eingestehen, dass sie verdammt sexy war.

"Machen Sie das öfter?", wollte ich mit Argwohn in der Stimme wissen.

"Was?", erwiderte sie unschuldig. "Spießige Deutsche mit steirischem Dialekt veräppeln? Jaah, das ist so ein Hobby von mir."

Unwillkürlich lächelte ich sie scheu an.

"Ich bin Ella", stellte ich mich vor und reichte ihr die Hand. Ihre Finger fühlten sich angenehm warm und ganz weich in meinen an, doch ihr Händedruck war fest.

"Amelie", gab sie strahlend wie die Sonne zurück.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top