52. Kapitel

Harry:

Ein bisschen dumm komme ich mir dabei schon vor, dass ich die ganze Zeit lächle. Oder schmunzle. Was auch immer es ist. Louis liegt im Bett und ich denke, er ist inzwischen schon eingeschlafen. Ich starre seit zwei Minuten in meinen Kühlschrank und überlege, was er wohl mag. Wahnsinnig viele Lebensmittel hat er nicht zuhause, aber ich möchte nicht bestellen. Ich möchte selbst etwas für ihn kochen. Kurzerhand ziehe ich mein Handy aus der Tasche und fange an zu googeln. Schnell finde ich eine Website, bei der man eingeben kann, was man zuhause hat und die einem mögliche Gerichte vorschlägt. Ich sehe durch seinen Vorratsschrank und entscheide mich relativ schnell zu einer Reis-Gemüse-Pfanne mit Hühnchen. Das müsste ich hinbekommen – hoffentlich. Ich habe ewig nicht mehr selbst gekocht. Meistens komme ich erst so spät nach Hause, dass ich mir etwas aus irgendeinem Restaurant liefern lasse. Bei billigen Läden bestelle ich kaum noch, eigentlich nie. Und wenn ich mal etwas selbstgekochtes esse, ist es meistens, wenn ich bei Mum zu Besuch bin. Ihr Essen ist noch besser als die Gerichte von den Restaurant.

Ich suche mit die Zutaten zusammen und fange an. Erst möchte ich mir einen Podcast anmachen – es gibt eine neue Folge zu den wirtschaftlichen Entwicklungen in Südostasien – aber dann entscheide ich mich dazu, es später anzuhören. Ich weiß nicht, wie dick die Wände hier sind und ich möchte nicht, dass Louis aufwacht. Bevor ich den weitermache, gehe ich zu seinem Schlafzimmer. Leise öffne ich die Tür. Er liegt auf dem Rücken und atmet ruhig. Er schläft tief und fest. Einen kurzen Moment sehe ich ihn an. Wie habe ich ihn nur vergessen können? Jetzt, wo ich ihn in seinem Bett sehe, weiß ich wirklich nicht mehr, wie ich ihn nicht erkennen konnte. Es ist ein anderes Bett als damals (glaube ich). Ich wette, er hat sich ein neues nach dem Angriff gekauft. Ich hätte das wahrscheinlich auch getan.

Leise schließe ich die Tür wieder und kehre in die Küche zurück. Das Gemüse ist geschnitten und ich stelle den Herd an. Louis' Küche ist sehr viel kleiner. Ich habe eine große Kücheninsel mit einer kleinen Theke daran, einen doppelten Kühl- und Gefrierschrank und einen Induktionsherd. Louis hat einen normalen Herd und kleine Schränke, aber er hat alles da, was ich brauche. Generell ist seine Wohnung sehr viel kleiner als meine. Es ist eine Zweizimmerwohnung mit einem kleinen Balkon, wo ich einen Kasten Bier entdecke und einen Stuhl. Sehr viel mehr passt auch nicht darauf. Die Möbel sehen alle etwas zusammengewürfelt aus und doch passt es auf eine Art und Weise, die ich noch nicht ganz verstehe. Ich selbst habe ausschließlich hochwertige Möbel von Designern bei mir zuhause stehen. Müsste ich schätzen würde ich sagen, dass mein Sofa so viel kostet, wie sein ganzes Wohnzimmer. Aber deswegen finde ich seine Wohnung nicht ungemütlich oder hässlich. Im Gegenteil. Die Farben und die Einrichtung passt zu Louis.

Während ich darauf warte, dass das Wasser für den Reis kocht, sehe ich mir die neusten Branchennews online an. Es ist immer irgendetwas los, ganz egal um welche Uhrzeit und es hat sich schon oft bezahlt gemacht, dass ich gut informiert bin. Diese Eigenschaft habe ich mir während der ersten Semester angeeignet. In jeder Klausur, in denen Beispiele gefordert waren, konnte ich welche nennen, die nicht älter als einen Monat waren. Es hat sich in meinem ersten Pflichtpraktikum ausgezahlt, das mir daraufhin einer meiner Professoren ermöglicht hat und prompt wurde ich als studentische Kraft eingestellt. Von da an ging es nur nach oben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für Louis gewesen sein muss, seine Karriere ein halbes Jahr lang zu pausieren. So etwas wäre mir nie in den Sinn gekommen.

Hätte ich das verhindern können? Ich seufze leise und gehe diese Nacht wieder in Gedanken durch. Ich erinnere mich an ihn, dass wir getanzt und geredet haben. Und ich erinnere mich grob an das, was danach geschehen ist. Ich glaube, als ich mir Louis vorgestellt habe, wie er mir einen Blowjob gibt, war es keine Vorstellung, sondern eine Erinnerung. Deswegen habe ich so ein detailliertes Bild vor meinem inneren Auge. Ich hatte es schon einmal erlebt. An das, was danach passiert ist, kann ich mich nicht erinnern. Ich bin ins Taxi gestiegen und hatte wahnsinnige Angst um Gemma. Ich habe zu ihm geschaut, aber ich habe ihn nicht angesehen. Und selbst wenn – ich weiß nicht, ob ich ausgestiegen und dazwischen gegangen wäre. Er meinte zu mir, er hätte genauso gehandelt, wenn es um eine seiner Schwestern gegangen wäre, aber mein schlechtes Gewissen ist aufgetaucht und verschwindet seither nicht. Es ist zwischenzeitig lediglich in den Hintergrund gerückt. Jetzt, wo ich alleine in seiner Küche stehe, ist es wieder da.

Kein Wunder, dass er mich nicht leiden konnte. Und doch um so verwunderlicher, dass er sich auf mich eingelassen hat. Nein, Korrektur, dass er mich verführt und wahnsinnig gemacht hat. Und es immer noch macht. Wäre er nicht, wüsste ich nicht, dass ich auf Männer stehe, so viel steht fest. Nie habe ich mich derart zu einem Mann hingezogen gefühlt. Er bringt mich durcheinander, macht mich auf eine aufregende Art und Weise nervös und wenn er mich küsst, weiß ich, dass ich genau am richtigen Ort bin. Fuck, das klingt derart kitschig, dass ich mir wohl selbst nicht glauben würde, wenn es mir jemand erzählen würde. Aber es ist so. Meine Gedanken schweifen ab. Er meint, es ist okay, wenn er bestimmt und ich mich fallenlasse, dass ich nicht mehr nachdenken oder entscheiden muss.

Ich mag es, zu entscheiden und zu wissen, was als nächstes passieren wird. Aber bei ihm? Es ist, als würde mein Verstand auf Stand-By geschaltet werden und eine Pause machen. Es ist wie Urlaub für meinen Kopf. Das habe ich noch nie gemacht. Im ersten Moment war es seltsam, ungewohnt und ich wollte es definitiv nicht. Es ist nicht so, als hätte ich nicht versucht dagegen anzukommen, es hat nur nicht geklappt. Nicht im Restaurant, nicht auf seiner Wache und auch sonst nie. Es ist kein Satz oder eine bestimmte Formulierung. Es ist die Kombination daraus, wie er mich ansieht und mit mir spricht. Sein Ton verändert sich ein klein wenig und manchmal berührt er mich dabei. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, was ich tun oder lassen soll. Meine Sinne fokussieren sich auf ihn und ich stottere wie ein Volltrottel vor mich hin. Bis heute konnte ich es nicht leiden. Aber vorhin? Das war anders. Im Bett, als ich mich einfach habe treiben lassen. Oh Himmel, das war der Wahnsinn.

Ein Schauer erfasst meinen Körper, als ich darüber nachdenke, wie unglaublich sich das angefühlt hat, was er mit mir getan hat. Und ich weiß, das war es noch nicht. Noch lange nicht. Ich könnte nicht sagen, was Louis noch kann, aber ich weiß, dass er noch mehr kann. Noch mehr, das mich wie Wachs in seinen Händen werden lässt. Noch mehr, das meinen Körper erzittern lässt und dafür sorgt, dass alles in mir, nur noch ihn will und braucht. Mein Herz klopft schneller bei dem Gedanken und Nervosität steigt in mir auf. Fuck.

Das Essen ist fertig und ich stelle den Herd aus. Wenn Louis aufwacht, werde ich es wieder warm machen, das müsste gehen. Und was jetzt? Ich sehe mich um. Ich möchte ihn nicht wecken, nur weil mir langweilig ist. Auf dem Couchtisch entdecke ich Over-Ear-Kopfhörer. Ob es okay ist, wenn ich sie mir einfach nehme? Bestimmt. So kann ich die Podcastfolge hören, ohne ihn zu wecken. Ich setze die Kopfhörer auf und hole mein Handy heraus. Im gleichen Moment schaltet sich allerdings der Fernseher ein. „Scheiße", fluche ich leise und sehe mich nach der Fernbedienung um. Verdammt, ich habe mich draufgesetzt. Schnell mache ich den Ton leiser. Der Startbildschirm zeigt einen Zugang zu verschiedenen Streamingdiensten. Kurz zögere ich. Theoretisch wäre es besser, den Podcast zu hören. Theoretisch.

Schnell habe ich herausgefunden, wie man die Kopfhörer mit dem Fernseher verbindet und scrolle durch das Angebot. Gemma hat mir letztens von dieser kitschigen neuen Serie erzählt. Sie steht auf diesen romantischen Kram. Ich tue es nicht. Theoretisch. Und doch starte ich die Serie und lehne mich zurück in die Kissen. 

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Ein kleiner Einblick in Harrys Gedankenwelt. Ich hoffe, es hat euch gefallen. Was sagt ihr dazu? 

Love, L

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