24. Kapitel

Louis:

Gebannt starre ich auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde, dann ist Schichtwechsel. Ich will es nicht aussprechen, das würde nur Pech bringen, aber seit gut zwanzig Minuten schon hoffe ich, dass kein Einsatz mehr reinkommt. Dann würde ich definitiv zu spät wieder in der Wache sein. Theoretisch könnte Harry sich denken, dass wir Feuerwehrleute nicht immer 100 Prozent pünktlich Feierabend machen können, aber so wie ich ihn kenne, müsste ich es ihm dennoch erklären. Die Zeit vergeht schleppend. Noch neunzehn Minuten, bis ich gehen kann.

„Hier." Eine dampfende Tasse taucht in meinem Blickfeld auf. Ich sehe zur Seite. Charly steht neben dem Sofa und hält sie mir hin. „Tee?" – „Du wirkst nervös", antwortet er und setzt sich zu mir, als ich ihm die Tasse abgenommen habe. Ich trinke einen Schluck. „Ich hab gleich nur einen Termin", antworte ich. Noch achtzehn Minuten. Charly sieht mich skeptisch an. Er respektiert unsere Privatsphäre, allerdings ist eine wichtige Regel bei der Feuerwehr, dass man nicht abgelenkt sein darf, wenn es in einen Einsatz geht.

„Geht es dir ansonsten gut?" Wenn man Charly nicht kennt, könnte man meinen, diese Frage sei überraschend. Ihm ist wichtig, dass es uns gut geht, nicht nur, damit wir im Einsatz alles geben, sondern auch zwischenmenschlich. „Ja, ich denke schon." – „Du denkst?" Ich zögere. „Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst", sagt er nach einem Moment und ich nicke verstehend. „Es ist nur... ich glaube, ich tue gerade etwas, was ich bereuen werde", beschreibe ich die Situation grob. „Und das glaubst du, weil?" – „Ich es schon einmal bereut habe", antworte ich direkt. „Und ist es das Risiko wert?", fragt er weiter. Ich schüttle den Kopf. „Ich glaube nicht, nein." - „Dann lass es sein", sagt Charly schulterzuckend und lehnt sich nach hinten. „Wenn es sich nicht lohnt, ist es das Risiko nicht wert, ganz einfach. Dann lass es sein."

Ich zögere und drehe mein Handy in meiner Hand. Ich könnte Harry durchaus schreiben, dass er heute nicht kommen braucht. Es ist nicht so, als hätte ich da heute nicht schon drüber nachgedacht. „Ist es dumm, wenn ich das Risiko trotzdem eingehe?", will ich von unserem Captain wissen. „Dann lohnt es sich also doch", erwidert er. „Nein." Ich schüttle den Kopf. Charly sieht mich skeptisch an. „Dafür willst du das Risiko etwas zu sehr eingehen", gibt er mir zu Bedenken. Vor meinem inneren Auge sehe ich immer wieder die Szene, in der ich mich vor einigen Jahren wiedergefunden habe. Ich spüre das Gras unter meiner Wange und sehe die Lichter der Autos in der dunklen Nacht. Noch einmal will ich das definitiv nicht erleben. Noch einmal werde ich das definitiv nicht erleben.

„Also sollte ich aus meinen Fehlern lernen", entgegne ich. „Wenn du es so formulieren willst, ja", stimmt er zu. Ich trinke noch ein Schluck meines Tees. Es sind noch vierzehn Minuten, bis Harry hier sein und bei dem Empfangstresen stehen wird. „Ist es der Termin, von dem du gerade gesprochen hast?", fragt Charly nach. „Mhm. Ja", murmle ich zögerlich. „Du könntest ihn also noch absagen", versteht er. „Oder besser gesagt, du gehst einfach nicht hin."

Ich zucke mit den Schultern. „Nicht hingehen ist nicht so einfach." – „Wieso das nicht? Du kannst doch von der Wache gleich nach Hause gehen", antwortet er mir. „Nein, er kommt her", antworte ich etwas zu schnell. „Er?" Scheiße. Ich verdrehe die Augen. „Können wir so tun, als hätte ich das nicht gesagt?" Charly schmunzelt, als ich ihn das frage. „Das hättest du wohl gerne. Wer ist er?" – „Niemand. Irrelevant." – „Also sehr relevant", schlussfolgert er. „Er ist ein hochnäsiger, protziger Idiot ohne Anstand und Respekt", antworte ich ihm. „Und du hattest ihn schon einmal", versteht Charly. „Dein Problem ist also, ob du es mit ihm noch einmal probieren sollst."

„Werde ich nicht. Wir..." Ja, was eigentlich? Wir treffen uns, weil er sich nicht sicher ist, ob er hetero ist und ich ihn vögeln will? Das werde ich garantiert nicht laut aussprechen. Charly haut mir auf die Schulter und steht wieder auf. „Du wirst schon das Richtige tun. Pass nur auf, dass er dich nicht auf der Arbeit ablenkt." – „Garantiert nicht", schnaube ich und schiele schon wieder zur Uhr. Noch neun Minuten. „Ist er zum Schichtende hier?", fragt mein Captain dann. Ich nicke. „Okay, mach dich fertig. Jetzt kommt kein Einsatz mehr rein. Und selbst wenn, ist die nächste Schicht schon da." – „Danke, Boss." – „Das heißt Captain", korrigiert er mich sofort. Ich grinse amüsiert und gehe in unsere Umkleide. Er hasst es, wenn man ihn Boss oder Chef nennt, aber manchmal kann ich nicht anders, als ihn ein bisschen zu ärgern.

Als ich ein paar Minuten später die Treppe herunterlaufe, ist Harry noch nicht da. Eine Kollegin der anderen Schicht sitzt bereits am Tresen und macht Papierkram. Ich lehne mich an das Treppengeländer und warte.

Die Tür wird aufgestoßen. Harry kommt heran. Ich mustere ihn. Er trägt einen Anzug, vermutlich maßgeschneidert, in dunkelblau. Er sieht gut aus, das kann man nicht bestreiten, allerdingt verstehe ich nicht, wieso er den Anzug trägt. Ich trage ein Shirt und darüber eine Jeansjacke mit weißem Kragen, sehr viel lockerer als sein Outfit. „Da stand ein dummer Touristenbus. Ich bin nicht durchgekommen und..." – „Das heißt hallo", unterbreche ich ihn. „Dass du zu spät bist, bedeutet nicht, dass du hier derart reinpoltern kannst", stelle ich klar. Harry verdreht die Augen. „Hallo, Louis." Ich lächle zufrieden. „Geht doch." Er seufzt. „Können wir los?" – „Nach dir", antworte ich und öffne die Tür. „Ich bin weg, bis dann!", sage ich noch laut und mein Team verabschiedet mich von oben. Harry hat den Wagen direkt vor der Tür geparkt. Nicht in einer Parklücke, nein. Direkt davor.

„Du weißt, dass du hier nicht parken darfst", sage ich trocken und steige ein. „Das hier ist keine Ausfahrt für eure Fahrzeuge", sagt er irritiert. „Das hier ist die Straße", antworte ich ihm. Er startet den Motor und fährt los. „Uhm... wie war deine Schicht?", fragt er zögerlich. „Normal. Nichts Aufregendes." – „Es gibt so etwas wie normal bei euch?" – „Brennende Mülleimer, Autos, Pfannen und Trockner. Das sind ganz normale Einsätze", antworte ich ihm schulterzuckend. „Es ist nicht immer alles gleich, aber wird nach einer Weile normal." Harry nickt verstehend.

An einer roten Ampel sieht er kurz zu mir. „Wo fahren wir hin?" – „Frühstücken", sagt er knapp und seine Finger tippeln nervös über das Lenkrad. „Gibt es da einen richtigen Parkplatz? Du stellst das Auto nicht wieder mitten auf der Straße ab." – „Es waren noch nur zwei Minuten", sagt er genervt und seufzt. „Weißt du was passieren kann, wenn zwei Minuten lang eine Straße durch einen Falschparker behindert wird?" – „Jemand muss kurz warten?" Natürlich kommt eine dumme Antwort von ihm, was auch sonst. „Ein Rettungswagen könnte es nicht rechtzeitig in die Notaufnahme schaffen. Oder ein Löschzug schafft es nicht richtig zur Einsatzstelle und ein Feuer greift auf ein anderes Haus über. Oder..." – „Schon klar", unterbricht er mich und seufzt. „Ich parke gleich vernünftig, okay?" Ich nicke zufrieden. „Ja, okay."

Wir fahren eine gute Viertelstunde durch London. Harry parkt in einem Parkhaus, als er keinen Parkplatz findet. Nicht, dass er die Geduld hätte, groß danach zu suchen. „Ist es ein Nobelschuppen?" – „Ich bezahle." – „Es geht nicht ums Geld", antworte ich und drücke auf den Aufzugknopf. „Sondern?" – „Um deinen Anzug." – „Ich muss nachher noch ins Büro", erwidert er knapp. Ich wette, er hätte auch so einen Anzug angezogen. Wir laufen die Straße entlang und kommen schließlich in ein kleines Restaurant. Es ist mit hellen Blumen dekoriert und ein Bücherregal steht an der Wand. Er steuert einen leeren Tisch an. „Stuhl oder Bank?", fragt er mich und bleibt stehen. „Bank", entscheide ich und setze mich. Eine Kellnerin kommt zu uns und reicht uns die Frühstückskarte. „Wissen Sie schon, was sie trinken möchten?" – „Einen Kaffee, schwarz", sagt Harry knapp. „Ich würde gerne einen Earl Grey trinken, mit Milch und ohne Zucker. Vielen Dank", sage ich freundlich. Sie lächelt kurz und verschwindet dann.

„Du könntest freundlicher sein." – „Ich war nicht unfreundlich." – „Bitte und Danke sind keine Zaubersprüche, man darf diese Wörter durchaus benutzen", antworte ich ihm. Er schaut auf die Karte. Ich hingegen sehe mich um. Harry passt nicht zu diesem Laden. „Wer hat dich mit hierhin gebracht?" – „Was?" – „Woher kennst du das Restaurant?", frage ich ihn. Verwundert sieht er mich an. Dann antwortet er: „Meine Schwester. Das Frühstück hier ist wirklich gut." Wir bestellen und Harry schafft es diesmal sogar danke zu sagen.

Die Kellnerin geht wieder und abwartend sehe ich ihn an. „Wieso bin ich hier?" – „Wir... uhm... sind verabredet", antwortet er irritiert. „Du hast mich darum gebeten. Wieso?", möchte ich wissen. Er zögert und verzieht nervös den Mund. „Uhm... also..." – „Sag es einfach. Niemand hört dir hier zu und niemand hier wird bald ein Klient von dir sein." Ich trinke einen Schluck Tee und warte. Ihm ist anzusehen, dass er nach den richtigen Worten sucht. „Ich dachte nicht, dass es so sein würde. Ich dachte immer... es bedeutet nicht, dass ich... also... du weißt schon", stottert er. Ich schmunzle. „Sprich es ruhig aus, es ist kein Fluch und auch keine Beleidigung."

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Sie gehen also Frühstücken. Was haltet ihr davon?  Wie wird es wohl weitergehen? 

Love, L

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