31 Egbert

Jeder Schritt, den ich mache, führt mich tiefer in das grüne Gestrüpp. So sehr ich auch versuche, mich vor dem Wald und seinen Bewohnern zu verschließen, ich komme nicht gegen den Drang an, den Groll und die Angst in meinem Herzen endlich fallen zu lassen.

Das heilsame Grün des Waldes pulsiert unter meinen Füßen wie das Leben selbst. Ein Schlag trifft meine Fußsolen und durchfährt meinen Körper, nimmt einen Teil meiner Zweifel mit sich, als er verklingt. Noch ein Pulsschlag.

Meine Wut verfliegt.

Das Pumpen wird resistenter, fährt stärker in meinen Körper, als es das eben noch tat. Von meiner Brust wird eine riesige Last genommen, ein ganzer schwerer Berg, der mich erdrückte.

Mein Kopf ist frei.

Noch ein Pulsschlag.

Alles, was ich noch höre ist meine Atmung. Gleichmäßig dringt frische Luft in meine Lungen, bevor sie ausgestoßen wird, benutzt und verbraucht. Tief in mir löst sich ein Knoten und gibt mich frei. Noch ein paar Schritte, dann fühle ich nichts mehr. Weder Schmerz, noch jedwede andere Emotionen. Alles ist friedlich. Plötzlich scheinen mir der Wald und die Lebewesen um mich nicht mehr fremd. Eine Stimme in meinem Kopf flüstert mir zu, hier gehöre ich hin.

„Sie sind zurück!" Große, kleine, dicke und dünne Wesen fliegen, laufen oder traben auf einem großen Platz hin und her.

Wir betreten das große Fleckchen brauner Erde, während sich um uns herum der Kreis schließt. Ein Dorf aus Hütten, Baumhäusern und ich vermute auch aus Höhlen oder Erdlöchern, vielleicht auch Unterwasserstädten, wie ich lernte, erbaut inmitten des Waldes, angepasst an seine Umgebung, beherbergt so ziemlich jedes Fabelwesen, von dem ich jemals wusste. Zu unserer Linken erkenne ich durch das Gewusel sämtlicher Leute, viele große Steintafeln im Freien stehen. Es scheint, hier wird gerne gemeinsam gegessen. Über dem Dorf ragt ein Baum in die Höhe. Nicht nur ein Baum, ein Riese. Er sieht aus, als hätten sich mehrere Mammutbäume zusammengeschlossen, um ihr schützendes Blätterdach über das Dorf zu heben. Zum Glück, strahlt genug Sonnenlicht durch, sodass es hier unten immer noch hell genug ist, um sich unbehindert zu bewegen. Alle meine Gefühle kehren mit einem Schlag in meinen Körper zurück, erinnern mich an eine Situation, in der es mir ähnlich erging. Beim genauen Betrachten des Baumes, durchzuckt mich die Erkenntnis, doch habe ich keine Angst. Viel mehr fühlt es sich an, als würde ich einen alten Bekannten wiedertreffen.

„Luna", krächzt eine alte Stimme unter mir. „Wo ist Akira?" Hikaru sieht mit seinen ernsten Augen zu mit hinauf.

„Bei seinem Vater." Der bittere Ton meiner Stimme füllt den Raum und mit einem Mal ist alles mucksmäuschenstill. Dann geht das große Getuschel los. Ich höre, wie alle wilde Vermutungen aufstellen, ihre Enttäuschung ausdrücken oder, ganz im Gegenteil, beleidigende Worte ausrufen, die ihrer Wut Luft machen sollen. Und wo stehe ich? Am liebsten würde ich glauben, es gibt eine Erklärung für all jenes, was sich in der gestrigen Nacht zutrug. Das erste Mal hat Akira mir meine Identität verschwiegen, und seine. Er hat mir eine ganze Welt verschwiegen. Seine zweite Lüge war die Fälschung seiner, gerade erst offenbarten Identität und ich befürchte auch, die Fälschung seiner Freundschaft. Wie könnte es Zufall sein, dass ausgerechnet der Sohn des Königs, welcher mich an seinem Hof behalten will, mir seit der ersten Klasse auf Schritt und Tritt folgt? Gar nicht. Die grausame Wahrheit tut sich unmittelbar vor mir auf: Es gibt keine Zufälle.

„Nun, damit erübrigt sich auch meine Frage. Der Grund warum eure Reise so lange dauerte, ist wohl der König." Mit einer schnellen Geste fährt sich der kleine Mann über seinen Bart. Dann dreht er sich zu dem Völkchen vor uns, um ihnen zu verkünden: „Das Warten hat ein Ende, meine Freunde. Seht her. Die Retterin ist heimgekehrt!"

Alle brechen in Jubel aus.

Mein Kinnlade klappt herunter. Ich bin keine Retterin, verdammt. Was wollen die alle von mir? „Hikaru, H-hikaru." Ich zupfe an seinem Ärmel. „Was soll das werden?"

„Ich gebe den Leuten Hoffnung", erklärt er beim Beobachten der Einwohner.

„Aber ich bin keine Retterin und auch keine Kriegerin", flüstere ich.

„Noch nicht." Ein Lächeln schleicht sich auf das Gesicht des alten Mannes und Fältchen zupfen an seinen Augenwinkeln.

Ein Elf fliegt über die Menge hinweg und macht mit einem zusätzlichen Räuspern, das er gar nicht nötig hat, auf sich aufmerksam. Auch er hält mir die Hand entgegen. „Ich heiße dich Willkommen, Luna Evans, Retterin unseres Reiches. Fühl dich hier wie Zuhause."

Wie Zuhause - diese Worte zaubern mir ein ehrliches Lächeln auf die Lippen. Breit strahlend, fasse ich nach seiner Hand. „Dankeschön." So einfach dieses Wort auch sein mag, es rührt mich beinahe zu Tränen, die ich geradeso unterdrücken kann. Vor mir taucht ein Bild von Kathrin und Madison auf. Ich denke an Madis und meine letzten Worte, die wir gewechselt haben. „Mach dir keinen Kopf. Wir sehen uns dann heute Abend." Das habe ich ihr geschrieben.

„Bitte, folg mir."

Ich gehorche dem Elf. Auf dem Weg beginnt er zu reden. „Du hast bestimmt schon viele Fragen. Ich bin guter Hoffnung, dass wir dir wenigstens einen Teil davon beantworten können. Mein Name ist übrigens Egbert. Wie ich hörte, hat Hikaru dir schon von mir erzählt?", plaudert er, während er neben meinem Kopf herfliegt. Er ist auch nur knapp so groß wie eben dieser und augenscheinlich, ist Blau seine Lieblingsfarbe, denn er ist von Kopf bis Fuß in einem dunklen Ton bekleidet.

Bei der Erwähnung seines Namen, bleibe ich für einen Augenblick stehen. „Nicht nur von Hikaru. Ich hörte schon öfter, dass ihr wohl so etwas wie meine Rettung seid. In den letzten Tagen, war der Gedanke an euch mein Lichtblick", gebe ich zu und erinnere mich an all die Male, in denen mich die Verzweiflung auf die Probe stellte.

„Deine Rettung ist vermutlich ein wenig übertrieben. Diesen Ort, würde ich viel eher deine Rettung nennen. Ich bin nicht viel mehr, als einer seiner Bürgermeister, doch sicherlich werde ich dir eine gute Hilfe sein. Wenn du es brauchst, werde ich dich leiten", ein bescheidenes Lächeln huscht über seine Lippen.

Während unseres Gespräches, rückt der Baum näher und näher. Nun stehen wir direkt vor ihm und ich kann nur sagen, was ich hier vor mir sehe, gefällt mir. Ein hölzernes, braunes Tor, dass an ein Stalltor erinnert, eingelassen in die Rinde des Baumes, steht weit offen.

Egbert fliegt, vermutlich in seiner alltäglichen Umgebung, den langen Weg daher, welcher sich durch die Mitte der riesigen Bibliothek bahnt. Wir laufen neben etlichen Reihen von Bücherregalen entlang und auch unter ihnen her. Die Regale ziehen sich von links nach rechts komplett durch, werden nur von darin eingearbeiteten Toren getrennt. Außerdem vermute ich, sie ragen bis nach ganz oben in den Baum hinein, denn die Decke kann ich beim besten Willen nicht mehr erkennen. Zuerst frage ich mich, wer denn bitte da oben an die Bücher herankommen soll, doch meine Frage beantwortet sich von selbst. Hier ist wohl der Arbeitsplatz der Elfen. Und Heinzelmännchen? Überrascht sehe ich den kleinen Männchen hinterher, die zwischen meinen Beinen durchlaufen und in einem großen Raum, der sich in der Mitte des Baumes befindet, Bücher sortieren. Bunt gekleidete Elfen holen die Werke ab und tragen sie in die Höhe.

„Hier entlang, bitte."

Am Ende des Baumes erscheint eine, auf Hochglanz polierte, Holztreppe. Sie führt zu einer weiteren Tür, die aber geschlossen ist. Bevor Egbert sie öffnet, werfe ich noch einen staunenden Blick zurück in die Bücherei und frage mich, was ich hier wohl alles diese Welt erfahren könnte. Kaum betreten wir den Raum, in den Egbert mich führt, richten sich alle Augenpaare auf mich. Mich beschleicht das Gefühl, es sind nicht nur irgendwelche Augenpaare.

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