18 Die Ältesten
Akira und ich wechselten auf dem Weg nach oben bisher kein einziges Wort. Eigentlich bin ich seine Anwesenheit gewohnt und Stille machte mir bis jetzt nie etwas aus, allerdings lehnt er schon die gesamte Fahrt an der Wand der Blume und beobachtet mich mit seinen Adleraugen. Seine hellen Augen starren aus der Dunkelheit zu mir herüber. Es scheint, als würde er versuchen durch meine Augen bis in meinen Kopf zu schauen, um meine Gedanken zu erraten. Oder bilde ich mir das bloß ein? Sind es Marianas Worte, die sich in Wahrheit in meinem Verstand eingenistet haben und mich nun von Innen heraus manipulieren? Ich weiß es nicht. Was auch immer hier passiert: Ich kenne Akira nicht so gut, wie ich es dachte zu tun. Noch vor wenigen Tagen hätte ich so gut wie alles für meinen besten Freund getan. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob er überhaupt auf meiner Seite steht.
Ich räuspere mich, als ich heilfroh bemerke, dass wir uns langsamer bewegen und als das Sonnenlicht auf die Blüten trifft, erkenne ich jede Ader, die sich durch die Seerose zieht. Mittlerweile ist es wieder angenehm hell unter unserem kleinen Blütendach. „Und was passiert als nächstes?", frage ich ihn. Ich spreche leise, doch meine Stimme dringt leicht durch die Stille des isolierten Raumes.
„Jetzt suchen wir uns Verbündete", antwortet er mit einem deutlichen Nicken.
„Okay." Wieder herrscht Stille. Ich überlege kurz ihn darauf anzusprechen, was Mariana mir beim Frühstück zuflüsterte, doch entscheide mich dagegen. Bevor ich dazu komme, Akira über weitere Dinge auszufragen, öffnet sich die Blume. Rechts von uns kann ich die bunten Drachen erkennen, die anscheinend immer noch oder schon wieder auf der weitläufigen Wiese Rast machen. Die Strömung treibt uns zum Ufer zurück, bis wir endlich stranden. Jetzt, wo ich den Sand unter meinen Füßen spüre und die warme Sonne auf meiner Haut, merke ich, wie sehr mir die frische Luft und der blaue Himmel über meinem Kopf gefehlt haben. Auch die Angst kehrt zurück in meinen Körper. Wie ein Parasit kriecht sie mit dem Rauschen der Wellen, durch meine Ohren, zurück in meinen Kopf. Bei dem Gedanken, dass ich stundenlang unter Wasser gewesen bin, läuft es mir kalt den Rücken herunter und die aufkommende Übelkeit kann ich nur schwer unterdrücken. Mit viel Kraft wende ich meinen, auf die Wellen gebannten, Blick vom Meer ab, um meiner Angst zu entfliehen.
„Lass uns losgehen. Wir sollten keine Zeit verlieren", ertönt Akiras Stimme und ich spüre, wie er seine Hand auf meinen Rücken legt, um mich leicht mit sich zu ziehen.
„Wo gehen wir hin?", frage ich. Auch, wenn ich das Gefühl habe, er wird mir nicht viel verraten.
„Sagte ich doch. Wir suchen Verbündete", antwortet er mir tonlos. Aus ihm werde ich nicht schlau.
„Akira", ich halte ihn am Handgelenk fest, damit er endlich stehen bleibt und werfe ihm einen ernsten Blick zu, als er sich zu mir dreht.
„Luna, hör zu. Ich weiß, das hier ist mit Sicherheit alles sehr verwirrend und viel zu viel auf einmal, aber wir haben jetzt keine Zeit dafür. Ich verspreche dir, wenn wir diese eine Sache erledigt haben, dann werde ich dir alles erzählen, was du willst. Doch jetzt, komm bitte, bitte mit mir", sprudeln die Worte aus seinem Mund. Er faltet bittend seine Hände. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist ehrlich.
„Na gut." Ich nicke genervt, drehe mein Gesicht zur Seite, um ihn nicht ansehen zu müssen. Ich kann diese Geheimniskrämerei nicht ausstehen. Seit dem Angriff an meinem Geburtstag hänge ich hilflos in der Luft. Mein altes Leben ist futsch und in dem hier schaffe ich es nicht Fuß zu fassen und ich glaube auch nicht, dass ich es jemals schaffen werde.
***
„Beeil dich", ruft Akira schon wieder über seine Schulter hinweg zu mir nach hinten. Er ist mir mehrere Meter voraus.
Wieso müssen wir bitte so rennen? „Wenn ich schneller laufen soll, dann gib mir ein Paar Schuhe!", schnauze ich, während ich durch den Wald stakse. Andauernd pieken mir kleine Zweige oder Steine in die Füße, was ungefähr so schmerzhaft ist, wie auf einen Legostein zu treten. Weil ich es leider, im Gegensatz manch anderen, nicht gewohnt bin barfuß durch den Wald zu latschen, bremse ich wohl sein Lauftempo ab.
„Ahh. Au, au, au, verdammt!" Ich halte mir den Fuß und hüpfe auf dem anderen weiter vorwärts. Sehnsüchtig erinnere ich mich an den angenehmen Sandboden aus Wasserstadt.
Akira wirbelt gereizt herum, packt mich und meine Füße heben vom Boden ab.
Quiekend rudere ich mit den Armen und strample mit den Beinen. „Lass mich runter!"
„Nein", nüchtern hält Akira mich fest auf seinem Arm und blickt nicht einmal vor sich auf den Boden, als er stur weitergeht.
Ich verschränke beleidigt die Arme vor der Brust und atme ein genervtes Stöhnen aus. Toll. Wenigstens muss ich jetzt nicht mehr auf die spitzen Steine treten. Nach wenigen Augenblicken bemerke ich, wie Akira doch einmal zu mir hinabschaut und leider grinst er dabei so selbstgefällig, dass ich mir wütend auf die Zunge beißen muss, um eine Diskussion zu verhindern. Trotzdem kann ich es mir selbst nicht verbieten ihm einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Ein paar Meter weiter, kommen wir auf einer großen Lichtung zum Stehen. Sie ist umringt von vielen, dicht aneinander gereihten, Bäumen, dessen Blätterdach so weit hineinragt, dass in diese Lichtung kaum noch Licht hineingelangt.
Akira sieht zu mir herunter, als er mich an seinem Körper hinab gleiten lässt, um mich abzusetzen.
Kaum berühren meine Füße wieder den Boden bringe ich einen Schritt Abstand zwischen uns und wende mich wieder der stellenweise mit Licht bedeckten Fläche vor mir zu. Ein Rauschen lässt mein Blick zu dem Wasserfall wandern, der aus einem Felsvorsprung in einen kleinen Teich strömt. Die Felswand wird von dicken Wurzeln umrankt, die außerdem mit den kräftigen Stämmen der Bäume verwachsen und sich kreuz und quer überlagernd, den Boden entlanglaufen. Aus dem Augenwinkel nehme ich den Bruchteil einer Bewegung wahr. Ruckartig reiße ich meinen Kopf herum, fokussiere eine Gestalt, die geräuschlos aus dem Dickicht hervortritt.
Ihre gold-braunen Augen fixieren mich, verschlagen mir den Atem. Ihr allein gilt die Aufmerksamkeit aller. Es ist, als würde selbst die Natur sich ihr zuwenden. „Ihr seid es tatsächlich", stellt das blonde Mädchen interessiert fest. Hochachtungsvoll neigt sie ihren Kopf. Als sie auf mich zukommt, höre ich, wie ihr weißes Kleid raschelnd über die Wiese gleitet.
Trotz der Tatsache, dass das Mädchen noch kleiner und zierlicher ist, als ich es bin, wirkt sie auf ihr eigene Art größer und majestätischer. Ihre wuscheligen blonden Locken fallen bis zu ihrer Hüfte hinunter und um ihren Kopf rankt sich ein Haarreif aus Efeu. Ihr stechender Blick mustert mich von oben bis unten, bohrt sich in meinen Kopf. „Wir haben dich erwartet, Luna."
„W-woher kennt ihr meinen Namen?", stottere ich. Dieses Gesicht. Ihr Gesicht. Woher kenne ich sie?
Sie wirft mir ein dünnes Lächeln zu. „Jeder hier kennt deinen Namen, Luna."
Okay. Aber woher? „Woher?", frage ich erneut mit etwas mehr Nachdruck, doch mit erbärmlich zitternder Stimme.
Wieder lächelt sie nur. Wissend. Geheimnisvoll. Beinahe hätte ich vergessen, dass Akira auch noch anwesend ist. Ihr Auftreten ist unglaublich einnehmend. Verunsichert mache ich einen Schritt zurück in seine Richtung, suche dabei seinen Blick. Wie ein verängstigtes Reh. Wie ein Hase.
„Laralda, ihr wisst, warum wir hier sind", ertönt schließlich Akiras Stimme. Er tritt neben mich, macht einen Schritt auf das Mädchen zu.
„Ich konnte es bereits ahnen, ja", erwidert sie auf seine Aussage. „Doch du solltest wissen, dass sie hier nicht in Sicherheit ist. Ihr müsst in den Norden. Findet das Elfendorf. Dort gibt einen Mann namens Egbert. Er kann euch helfen."
Egbert. Auch Hikaru hat von ihm erzählt. Egbert. Diesen Namen muss ich mir definitiv besser einprägen.
In dem Moment, in dem Laralda ihren Satz beendet, steigt ein zweites Mädchen aus dem Teich empor. Bei jedem Schritt den sie auf mich zu macht, schlägt mein Herz ein bisschen höher und ich bemerke, auch sie wendet ihren Blick nicht eine Sekunde von mir ab.
Ein Schauer jagt den nächsten über meinen Rücken. Auf meiner Stirn bilden sich kleine Schweißperlen.
„Du hast vergessen uns vorzustellen, Schwester. Vergiss nicht, dieses Mädchen ist in der Welt der Menschen aufgewachsen", erklärt sie mit einer Stimme, die zwar einen Funken Verständnis aufweist und dennoch fertig bringt vor Spott zu triefen. „Mein Name ist Saramia. Wir sind die Ältesten und die Mächtigsten unseres Volkes. So wie es zwei Nymphenstämme gibt, gibt es auch zwei von uns", erzählt sie, während sie einen Kreis um mich zieht. „Es ist mir eine Ehre dich kennenzulernen, Kriegerin der Nymphen." Endlich ist sie vor mir stehen geblieben.
Kriegerin der Nymphen? Auf meiner Zunge liegen tausende Fragen, auf meiner Seele brennen hunderte Emotionen, die sich entfesseln wollen. Der Schock steht mir bestimmt in mein Gesicht geschrieben. Immer wieder öffne ich meinen Mund, um etwas zu sagen, doch es kommt kein einziger Ton aus meiner Kehle. Wie ein Fisch auf dem Trockenen. „W-was... bin ich?", bringe ich es gerade so hervor.
„Eine Nymphe", antwortet Akira prompt. Bei seiner Aussage sieht er mir nicht einmal in meine Augen. Er sieht zu Saramia.
Es dauert einen Moment, bis die Bedeutung dieser beiden Worte zu mir durchdringt. Zuerst stehe ich nur dort, starre in das Gesicht meines Freundes, das er so mühsam von mir abwendet. Er hat gelogen, das weiß er. Er hat mich angelogen und ich bin eine Nymphe. Könnte ich mich aus meiner Starre lösen, würde ich jetzt in lautes Gelächter verfallen. Nach der langen Zeit, in der ich mich mit Mythen aus der Anderswelt beschäftigt habe, ist es zwar noch immer ein Schock, dass ich tatsächlich ein Teil davon sein soll, doch ist der Schock darüber nicht ansatzweise so groß wie meine Enttäuschung. Mein ganzes Leben lang wusste mein bester Freund, was ich bin und hat es nicht für nötig gehalten es mir zu sagen. Und da er offensichtlich auch ein Nymph ist, frage ich mich, warum wir überhaupt befreundet sind? Was hatte er in der Welt der Menschen zu suchen, wenn er doch, im Gegensatz zu mir, die ganze Zeit über bescheid wusste, wer er ist?
Auf einmal sehe ich Saramias vor Zorn verzogene Grimasse. „Du wagst es, kleiner-"
„Ich denke, wir sollten gehen", schneidet Akira ihr das Wort ab.
„Akira", mahnt Laralda, macht energisch einen Schritt auf uns zu, würdigt mich dabei jedoch keines Blickes.
Akiras Miene bleibt hart und unberührt. Ich kenne diesen sturen Blick. Er wird auf keinen Fall nachgeben.
Plötzlich nehme ich wahr, wie Saramia ein leises gruseliges Lachen von sich gibt. „Es geht dir doch um etwas ganz anderes. Nicht wahr? Wir, meine Schwester und ich, empfangen dich hier, mit offenen Armen. Und das nur, um wieder einmal festzustellen, dass ihr, nach all den Jahren der Unterdrückung, noch immer die gleichen kaltherzigen, kleinen, listigen Biester seid, die ihr schon vorher gewesen seid", zischt sie.
Geschockt sehe ich zu meinem sichtlich angespannten Freund herüber. Ich kann genau sehen, wie das Oberteil über seinen Muskeln spannt und sein Kiefer angestrengt arbeitet. In seinem Blick sehe ich überraschender Weise keinen Zorn, sondern Reue und Scham. „Ihr-", beginnt Akira seinen Satz, doch Saramia war noch nicht fertig.
„Sei still!" Sie fuchtelt aufgebracht mit dem Arm und im selben Moment beginnt das Wasser im Teich zu brodeln. „Wage es nicht, mir zu widersprechen." Das Wasser spritz in alle Richtungen aus dem Teich heraus, sodass wir nach hinten ausweichen müssen, um nicht von kochend heißem Wasser verbrüht zu werden.
Akira gestikuliert beschwichtigend mit seinen Armen, während er einen Schritt zurück macht. Saramia aber denkt gar nicht daran ihr Temperament zu zügeln und kreischt laut los.
Scheiße! Äste peitschen mir in mein Gesicht und unzählige Steine bohren sich in meine Fußsolen. Der Wald fliegt nur so an mir vorbei und als ich fühle, wie jemand von hinten nach meinem Arm greift, reiße ich meinen Körper herum und schnelle mit dem anderen Arm nach oben. Eine kräftige Windböe schießt quer nach oben an mir vorbei, bündelt sich vor meiner Brust und reißt meinen Verfolger von den Füßen. In diesem einen Moment scheint sich irgendetwas in mir zu verändern. Es ist kaum beschreibbar. Plötzlich hat die Welt so viele Farben mehr, die Natur ist noch viel schöner, als sie es vorher schon war. Ich habe weder mitbekommen wann ich losrannte, noch weiß ich, was ich hier eigentlich tue. So renne ich panisch, von der Angst getrieben und vollkommen verwirrt weiter durch den Wald, bis ich wieder auf der weitläufigen Wiese, bedeckt von fläzenden Drachen, zum Stehen komme.
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