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Die Welt scheint sich für diese Augenblicke nur um uns zu drehen und ich trete näher zu Karl, aus dessen Kragen sich die Ratte namens Alina wühlt und mich aus großen Augen mit einem schnuppernden Schnäuzchen begutachtet. Sie verschwindet in der Kapuze von Karls Pulli und rollt sich gemütlich ein.
Karl schaut mich zum ersten Mal direkt an, kann aber meinem erwartungsvollen Blick nicht lange standhalten.
Er räuspert sich geräuschvoll und ich schiebe nervös meine Brille zurück auf Position.
"Das wolltest du mir zeigen?", frage ich mit einem schiefen Grinsen.
Karl senkt den Blick und setzt sich auf die Mauer, die uns allein von unserem sicheren Tod trennt. Er reibt sich nervös über die Oberschenkel und seine Mundwinkel zucken ein bisschen. Noch nie habe ich mir Gedanken darüber gemacht, aber in diesem Moment will ich wirklich wissen, was diesem kleinen Freak gerade durch den Kopf geht.
"Warte noch", sagt Karl.
Ich setze mich neben ihn und lasse meinen Blick über die Stadt schweifen.
Die Zeit scheint still zu stehen, aber nicht ganz. Denn an dem kleinen Stück vom Horizont, das man von hier aus erspähen kann, erscheint langsam ein kaum sichtbarer Streifen, der heller als der Rest aussieht. Und während meine Augen kurz an verschiedenen bekannten Punkten der Stadt, die ich noch nie in meinem Leben verlassen habe, hängen bleiben und meinen Kopf mit verschiedensten Erinnerungen fluten, höre ich Karls Stimme.
"Der Plan sieht folgendermaßen aus", beginnt er und ich zucke zusammen, wende mich ihm zu, während der Zauber um diese unübliche Situation zu verfliegen scheint.
Karl knetet energisch die Hände ineinander und sieht konzentriert dabei aus:
"Wir brauchen eine Falle, in die DIZZORDER mit der größtmöglichen Wahrscheinlichkeit hineintappen wird. Es muss eine Situation sein, aus der er nicht mehr herauskommt, egal welchen Weg er wählt. Da ich nicht einschätzen kann, wie sinnvoll seine Entscheidungen in einem Stressmoment sein werden, die Erfahrung aber besagt, dass die wenigsten aller Menschen in solchen Situationen klar im Kopf bleiben, müssen wir ihn an einem Punkt erwischen, in dem er schnell reagieren muss und somit eine falsche Entscheidung trifft."
Ich muss lachen, "Also müssen wir ihn da treffen, wo es ihm weh tut, ihn in eine unausweichliche Zwickmühle treiben und dann dafür sorgen, dass die Falle zuschnappt? Klingt nach nem Plan!"
"Nach meinen Berechnungen braucht er nur einen kleinen Hinweis, damit er merkt, dass wir seine Backdoor überbrückt haben. Aber es ist nicht so einfach, wie ich gedacht habe, weil er zu viel Zeit hat. Wir brauchen einen geringen Zeitraum, in dem er handeln muss, um sich selbst nicht zu gefährden", versucht Karl mir zu erklären.
Ich habe längst verstanden. Oder zumindest glaube ich das!
"Das heißt", wiederhole ich und spinne weiter, "Wir müssen ihn in die Enge treiben? Kann er haben! Ich bin mir sicher, dass er nicht lange auf sich warten lässt; es muss ihn doch wurmen, dass sein Plan nicht aufgeht. Scheißegal ob er an meinen Daten interessiert ist, schon allein sein Stolz wird ihm sagen, dass er das nicht auf sich sitzen lassen kann!"
"So einfach ist es nicht", sagt Karl, "Im Gegensatz zu den üblichen Verdächtigen kenne ich ihn nicht gut genug, um seine tatsächlichen Fähigkeiten einschätzen zu können. Es gibt über zwölf Variablen, mit denen es ihm gelingen würde, alles zu bekommen, was er möchte und wir würden davon nicht einmal das Geringste mitbekommen."
Ich schlucke und kratze mich am Kinn. Karl sieht weiterhin extrem angespannt aus, als würde sein Gehirn unaufhörlich zu Höchstleistung auflaufen. Ich bemerke das leichte Vor- und Zurückwiegen seines Oberkörpers, als würde er sich selbst beruhigen wollen, lasse mir aber nichts anmerken.
Ist sicherlich nicht besonders höflich, seine Eigenarten infrage zu stellen, was auch immer das soll. Es sieht zwar doch etwas befremdlich aus, aber immerhin geht es mich nichts an und außer dass ich etwas verstört den Blick nicht mehr von ihm wenden kann, macht es mir ja auch nichts aus.
Karl scheint es sichtlich unangenehm, trotzdem hört er nicht auf.
"Da kommst du ins Spiel", fährt er fort und ich versuche, mich wieder zu konzentrieren, "Du musst ihn herausfordern, sodass er sich angegriffen fühlt. In seiner Ehre am besten, sollte er so etwas besitzen. Mit so etwas kennst du dich doch aus, oder? Du kannst dich doch bestimmt in die Lage eines anderen Menschen hineinversetzen und dir denken, was ihm etwas ausmachen würde? Wie man jemanden persönlich aus der Fassung bringen kann, indem man"--
"Hab's kapiert!", lache ich und widerstehe dem Drang, Karl gegen die Schulter zu boxen, "Klar! Ich bin mir sicher, mir fallen zehntausend Möglichkeiten ein, mit denen ich ihm psychologisch in den Arsch treten kann. Und wenn alles nichts nützt, dann beleidige ich seine Mutter!"
"Was?", Karl starrt verwirrt auf den linken Bügel meiner Brille, "Wieso solltest du das tun? Das hat doch gar nichts mit der Sache zu tun und du kennst sie nicht einmal."
"Natürlich nicht", sage ich grinsend, "Genau deswegen ist es so wirkungsvoll! Vertrau mir, bei sowas bin ich Spezialist!"
"Ok", sagt Karl und räuspert sich, "Ich kann dir eine Verbindung zu seinem System herstellen. Du musst nur ein bisschen Aufmerksamkeit erregen und ihm deine Nachricht möglichst eindrücklich vermitteln."
"Dann beißt der Fisch an!", ich klatsche freudig in die Hände, Karl zuckt zusammen.
"Welcher Fisch?", fragt Karl verwirrt.
"Vergiss es", ich muss mich zusammenreißen, um nicht loszulachen, aber insgeheim freue ich mich immer wieder darüber, wie leicht man Karl aus dem Konzept bringen kann.
"Wie dem auch sei", sagt er wieder ganz sachlich und schnauft tief durch, "Tatsache ist, dass es der erste Schritt unseres Plan ist. Ich schleuse mit deinem Kontakt ein Script ein, das er erst nach etwa vierundzwanzig Stunden überhaupt bemerken kann, weil es sich unsichtbar durch sein System arbeitet. Dann, wenn er es entfernt, ist es weit genug vorgedrungen, dass wir seine Koordinaten bekommen können."
"Klingt easy peasy! Und dann statte ich dem Guten nen kleinen Besuch ab, den er so schnell nicht vergessen wird!", ich forme mit meinen Fingern eine Pistole und mache "Tschk-buff!"
"Falsch", sagt Karl, "Aber ich hatte gehofft, dass du mobil bist. Wir können dieses Ding unmöglich von hier aus starten. Auch ein Internetcafé funktioniert in dem Fall nicht. Wir brauchen einen unbeteiligten Hochleistungsrechner, der die Kapazitäten hat und an den niemand außer uns rankommen kann."
"Und der steht wo?", frage ich.
"Das ist das Problem", gibt Karl zerknirscht zu und stoppt abrupt seine Bewegungen, um aufzustehen, "Mir fällt nichts Brauchbares ein, was mit dem Zeitfenster kompatibel ist, das WIR zur Verfügung haben. Nur das Robert-Mayer-Gymnasium, aber ich wollte es vermeiden, dass Kinder und Jugendliche da mit reingezogen werden. Dabei wäre der Ort fast prädestiniert, eine Schule leistet sich in den seltensten Fällen eine großartige Überwachung, aber durch die zugehörige Sternwarte im RMG müssen passende Rechenkapazitäten vorhanden sein."
"Machst du Witze?", meine Gesichtszüge entgleisen zu einem breiten Grinsen und ich springe in heller Begeisterung auf, "Wenn ich am Freitag Abend da einsteige, ist die Sache bis Montag Früh durch. Dann juckt das die Kids überhaupt nicht und was die Sicherheitssysteme angeht-- naja. Ich bin mir zwar fast sicher, dass gerade das RMG die höchsten Vorkehrungen von allen Schulen hier hat, aber"--
Ich lache mir ins Fäustchen, "Zufällig kann ich mir so ein bisschen denken, auf welche Art von Angriffen das System ausgelegt ist. Nenn es meine Intuition, aber ich würde fast meine Hand ins Feuer legen, dass alles, was dieses System schützt, auf dem Wissensstand eines neunzehnjährigen Dilettanten beruht. Von daher komm ich mit meinen mir heute zur Verfügung stehenden Mitteln ohne Probleme rein!"
"Ich dachte mir, dass man physisch in der Nähe des internen Netzes sein muss", sagt Karl nachdenklich, "Das heißt, du würdest in eine Schule einbrechen?"
"Das heißt lediglich, ich würde nochmal in meine ehemalige Schule einsteigen", ich zwinkere ihm grinsend zu und füge noch schnell an, "Diesmal natürlich mit einem nobleren Ziel!"
Karl scheint kurz zu überlegen, ob ich ihn verarsche und sich dafür zu entscheiden, dass es nichts zur Sache tut.
"Wie dem auch sei. Von dort aus können wir das Script zu DIZZORDER schleusen und haben genug zeitlichen Spielraum, damit wir uns hier wieder treffen können. Und wenn alles gut läuft, haben wir die Koordinaten zum selben Zeitpunkt wie ich mit Sarahs neuer Programmierung fertig bin."
"Und dann suche ich den Ort auf, fliege Sarah in die Höhle des Löwens und sende auf Knopfdruck den EMP aus, der DIZZORDERs gesamtes System lahmlegt?", frage ich ungläubig, aber angenehm überrascht.
Das könnte tatsächlich funktionieren.
Eigentlich ist es sogar idiotensicher!
"Exakt", sagt Karl, dann stockt er in seiner Bewegung und deutet mit einem hektischen Rudern seines Arms auf einen mir nicht bekannten Punkt irgendwo über den Dächern unserer Stadt.
Mir wird mulmig und ich versuche, die genaue Richtung auszumachen, aber im dämmrigen Halbdunkel um uns ist es schwierig, etwas zu erkennen. Selbst die Sterne sind schon fast verblasst im Morgengrauen und ich mache mir irgendwie kurz ernsthafte Sorgen um Karls Geisteszustand.
Dann sehe ich, worauf er hinaus will.
Und mir stockt der Atem.
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