Kapitel 12 ϟ Shy
Go There - Kyd the Band ♪♫
Der heutige Donnerstag war kalt. Keiner von uns hatte mit dem plötzlichen Wetterumschlag gerechnet und somit beeilten wir uns nach Kräuterkunde, in unseren dünnen Umhängen völlig durchgefroren, hoch ins Schloss zu kommen.
Schon in der Eingangshalle spürte man den Temperaturunterschied deutlich. Henrys Nase glänzte ganz rot und Olivias Ohren leuchteten wie ein Weihnachtsbaum.
"Treffen wir uns nachher?", fragte Tori und rieb sich die Hände.
"Wir haben nach der Neunten", zuckte Olivia mit den Schultern. "Danach, gerne."
"Ich kann nicht", gab ich offen zu.
"Was? Wieso nicht?", fragte Henry skeptisch. "Doch nicht etwa wegen Melody?"
Vorwurfsvoll legte ich den Kopf leicht schief. "Nein, nicht wegen Melody", betonte ich. "Der Grund steht hinter dir."
Ich zeigte mit ausgestrecktem Finger zwischen Tori und Davina hindurch. Henry fuhr erschrocken herum.
Shawn lehnte neben der hohen Tür zur großen Halle an der Mauer, das eine Bein angewinkelt und gegen den Stein gedrückt.
Henrys klassischer Frage-Blick mit den hochgezogenen Augenbrauen und der schiefen Lippe erschien auf dem Gesicht des Ravenclaws und er brauchte mich gar nicht nach einer Antwort bitten.
"Wir treffen uns nachher, zum ... Lernen", versuchte ich den Deal zu beschreiben.
"Lernen", hob Henry hervor, keinen Funken überzeugt.
"Hey", grinste Tori breit, "was unter Skassy passiert, bleibt unter Skassy! Du musst deine neugierige Nase nicht überall reinstecken!"
"Skassy?", wiederholte ich entsetzt.
"Das ist einer meiner Versuche, einen geeigneten Shipnamen für euch zu finden", erläuterte Tori stolz. "Lil war ja für sowas wie Kasawn, aber das klingt so puritanisch. Was ich aber noch überlegt hatte, was ist mit Sassy? Das klingt sogar noch besser, wenn ich es so im Vergleich höre. Was hältst du davon?"
"Nichts", brachte ich es ihr schonungslos ehrlich bei. "Rein gar nichts."
Ich seufzte und drängelte mich zwischen meinen Freunden durch.
"Ihr könnt schon vorgehen, ich komme gleich", ließ ich sie wissen.
"Warte, Kassy!", rief Tori mir nach. "Was sagst du zu Shy? Das ist doch cool, oder?"
"Shy?", fragte Shawn merklich amüsiert.
"Ignorier' die einfach. Hast du das mit dem Raum geklärt?", lenkte ich von meinen Freunden ab.
"Alles paletti. Wir können nach der - "
Shawn stockte, denn mein Gefolge lief soeben an uns vorbei und Tori erweckte den Eindruck, mir etwas Dringendes mitteilen zu wollen.
"Shy!", rief sie über Olivias und Ivys Köpfe hinweg, um sich danach hinter Henrys großer Gestalt zu verstecken.
"Victoire macht dir ja richtig Mut", witzelte Shawn.
Ich hingegen versuchte unauffällig meine geröteten Wangen hinter meinen Haaren zu verstecken. "Was wolltest du sagen?", drängte ich unser Gespräch zum eigentlichen Punkt.
"Ach so, ja", erinnerte er sich. "Nach der sechsten Stunde ist der Klassenraum für Verteidigung gegen die dunklen Künste frei, weißt du, der der UTZ-Kurse. Der liegt im dritten Stock, fast neben dem Pokalzimmer."
"Gut, treffen wir uns um halb acht? Ich hab heute erst nach der Neunten", schlug ich vor.
"Klingt gut", willigte Shawn gut gelaunt ein. "Wo ist Alia?"
Diese kontextfreie Frage brachte mich kurz aus der Fassung und ich brauchte eine Weile, um den Inhalt zu verarbeiten.
"Ach, Lil?", wiederholte ich, um sicher zu gehen, dass er wirklich Alia meinte. "Wieso, wie kommst du darauf?"
"Sie ist nicht dabei gewesen. Sonst macht ihr doch auch viel zusammen, oder?" Shawn blickte mich fast etwas ängstlich an.
"Ja, machen wir", beruhigte ich ihn. "Alia ist ..."
Ich konnte mir vorstellen, dass meine Freundin es nicht so toll fand, wenn ich es jedem erzählte, aber versprochen hatte ich ihr auch nichts.
"Die ist im Krankenflügel", holte ich den Kniesel aus dem Sack.
"Was?", erkundigte Shawn sich näher und nahm den Fuß von der Wand. Aufrecht lehnte er sich nur noch gegen die Mauer. "Geht es ihr gut?"
"Ja, alles Bestens", spielte ich die Situation runter. "Tori sagt, ihr war nur ein wenig schwindelig. Sie wäre heute Morgen wohl durch den Schlafsaal getorkelt und hätte gesagt: "Alles dreht sich". Oh, und sie hat gestern Abend und heute Morgen gekotzt, aber erzähl das niemandem, sonst bin ich tot."
Auf Shawns Lippen erschien wieder das leichte Grinsen. Ich wollte ihm erst noch die Geschichte mit Davina erzählen, da ich diese erheblich interessanter fand, aber das wirkte dann doch zu seltsam.
"Ist bei deinen Freunden auch alles in Ordnung?", fragte ich ihn stattdessen, da es mir unhöflich erschien, wenn er sich nach meinen Freunden, ich mich aber nicht nach seinen erkundigte.
"Aber klar. Lewis ist nur ein bisschen stinkig, weil er jetzt sozusagen Hausverbot bei uns hat, aber der beruhigt sich auch wieder."
"Weißt du, wie es Jace und Lewis Johnson geht? Oh, und Luke?", schob ich hinterher, da ich nicht genau wusste, wie Shawn zu Luke stand. "Du hast doch von der Schlägerei gehört, oder?
Obwohl Tori uns bereits erzählt hatte, dass es den Dreien den Umständen entsprechend ging, fragte ich Shawn komischer Weise trotzdem.
Ich genoss es, eine normale Konversation mit ihm zu führen. Ich wollte sie anscheinend aufrecht erhalten. In gewisser Weise fühlte ich mich auch auf irgendeine Art cool, weil ich mit Shawn reden konnte, als kenne ich ihn schon länger.
Mit Teddy befreundet zu sein, war ähnlich. Allerdings kam Teddy mit jedem gut klar, weswegen sich das Gespräch mit Shawn noch etwas anders anfühlte.
"Aber klar, Dave hat mir alles erzählt und Jace ist ja auch in unserem Schlafsaal", erinnerte Shawn mich.
Dämlich Kassy, natürlich weiß er alles. Das ist Shawn, mit dem du da redest, nicht Melody. Shawn musst du nicht alles dreimal erklären.
"Ihnen geht es gut, soweit ich von heute was gehört hab. Aber Lukes Verhalten war ja mal sowas von daneben."
"Definitiv", stimmte ich ihm zu. "War er nur betrunken oder ... ich kenne ihn nicht gut, aber irgendwie kann ich mir das bei Luke nicht richtig vorstellen."
"Ich weiß, was du meinst. Keine Ahnung, vorher habe zumindest ich nichts in dieser Art mitgekriegt. Aber eigentlich ist es egal, ob er betrunken war oder nicht, sowas sagt man einfach nicht. Das war schon krass."
Affirmativ nickte ich und erwischte mich selbst dabei, wie ich nach einem weiteren Thema suchte, damit die Konversation nicht endete.
Ich konnte mit Shawn vernünftig reden, ohne, dass ich vor Aufregung fast starb oder stotterte, bis der Heiler kam. Wer wusste schon, wann das das nächste Mal der Fall sein könnte.
"Ich geh dann was Essen, wenn das okay ist", entschuldigte Shawn sich.
"Aber natürlich, ich hab auch Hunger", sagte ich. Das war noch nicht mal gelogen.
Gemeinsam gingen wir noch durch die Tür, ehe Shawn sich mit einem: "Bis später!", von mir verabschiedete und Dave schon von Weitem mit einem Lachen begrüßte.
"Das sah mir nach einem sehr erfolgreichen Sassy Skassy Shy Moment aus", feixte Tori keck. "Es ist Shy, definitiv. Klingt am besten."
"Victoire, halt den Mund", antwortete ich in dem Versuch, ernst zu bleiben und mein Lachen zu unterdrücken, was mir aber durch Toris Reaktion in Form eines Lachens nicht richtig glückte.
"Wenn ich das Teddy erzähle", provozierte Henry mich belustigt.
"Wehe", drohte ich ihm und tat mir etwas Lammfleisch neben meine Kartoffeln auf.
"Er findet's sowieso raus", unterstütze Tori Henry.
"Was machst du eigentlich schon wieder hier?", stichelte ich Tori an. "Weißte, da kriegste schon 'ne Verwarnung von McGonagall und lässt dich eiskalt trotzdem an 'nem fremden Tisch blicken."
"Ey, ich hab kein Verbot gekriegt, zu kommen. Das wart ihr", höhnte sie.
"Das ist übrigens auch vergessene Sache, ich hab das geklärt", offenbarte ich stolz.
"Kassy, meine Heldin", lobte Henry mich. "Dann kann ich Toris heißen Freundinnen weiter hinterher gucken."
"Henry!", empörte Tori sich. Der Ravenclaw und ich lachten.
"Solange du nicht von Alia redest", gab ich noch zu bedenken und spießte eine Kartoffel auf meine Gabel, "soll's mir recht sein."
Um vernünftig auf die späteren, nach der Schule folgenden, magischen Berufe vorbereitet zu werden, wurde in den UTZ-Kursen des sechsten und siebten Schuljahres überwiegend auf die Praxis gesetzt.
Das Theoretische wurde auf das Minimalste reduziert (außer natürlich in Fächern wie Geschichte der Zauberei, wo allerdings der letzte UTZ-Kurs mindestens solange her war, wie Professor Binns schon als Geist unterrichtete), sodass die Prüfungen sauber vonstattengingen.
In dem Bestreben, diese Divise vollends auszuschöpfen, richtete Professor McGonagall bei dem Wiederaufbau des Schlosses nach der Schlacht von Hogwarts 1998 extra Räume für die UTZ-Kurse in den Fächern Verteidigung gegen die dunklen Künste, Zauberkunst, Zaubertränke und Verwandlung ein.
Vor dem Erstgenannten stand ich nun und wartete auf Shawn. Zumindest hoffte ich, dass es der richtige war, doch ich ging davon aus, da sich das Pokalzimmer um die Ecke befand und in der anderen Richtung nur die Toiletten lagen.
Ich wartete eine ganze Zeit auf Shawn und die ständigen Blicke auf die Uhr ließen die Zeit nicht schneller verstreichen. Es war bereits zwanzig vor acht und ich hatte mich sogar schon auf den Boden gesetzt, als Shawn völlig außer Atem um die Ecke gerannt kam.
"Oh, bei Merlins Unter...", keuchte er und stützte sich an der Wand ab. "Es tut mir so leid, ich weiß ... puh ... ich bin zu spät."
"Allerdings", rutschte es mir raus und ich war froh, dass Shawn gerade mit dem Richten seiner Tasche beschäftigt war. Ich stand auf.
"Ich bin den ... den ganzen Weg her gesprintet und ich glaube - Mann, bin ich außer Form - dich interessiert es nicht die Bohne, wieso, aber jetzt bin ich da."
In Wahrheit interessierte es mich schon, doch ich sagte nichts.
"Hast du einen Schlüssel für die Tür?", fragte ich stattdessen und zeigte auf die dicke Eichentür neben mir. Die UTZ-Räume wurden immer abgeschlossen.
"Oh nein, der Schlüssel!", stöhnte Shawn und schlug sich die Hand vor die Stirn.
Das freche Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen.
"Jaja, haha", fuhr Shawn mich mit finsterer Miene an, lachte aber noch in der gleichen Sekunde. "Dann also anders."
Shawn zog seinen Zauberstab, richtete ihn auf das Schloss und sagte: "Alohomora!"
Ich presste die Lippen zu einem Strich und zwang meine Mundwinkel, unten zu bleiben. Funktionierte nicht ganz.
"Was denn?", lachte Shawn und sein Arm schlaffte nach unten.
"Alohomora?", fragte ich, immer noch das Lachen unterdrückend.
Shawn lachte stumm und warf den Kopf in den Nacken. "Aber klar, das Zauberkunst-Ass. Hätte wissen müssen, dass ich neben dir alt aussehe."
"Das ist nicht der Punkt", widersprach ich. "Der Punkt ist, dass der Lehrer für Verteidigung seinen Klassenraum nie mit einem so simplen Spruch wie Colloportus abschließen würde, außer vielleicht Professor Trelawney, aber die verlässt ja ihr Turmzimmer kaum. Man bräuchte die Tür dann auch nicht mit einem Schlüssel abschließen, wenn jeder Zweitklässler mit Alohomora rein kommt."
"Na dann, mach es doch besser", forderte Shawn mich genügsam auf und trat einen Schritt zurück.
"Gut, dann zeig ich dir jetzt mal, wie ein Ravenclaw an die Sache rangeht."
"Da bin ich jetzt aber mal gespannt."
"Wir greifen nicht gleich zum Zauberstab", veranschaulichte ich, indem ich meinen Zauberstab demonstrativ hoch hielt, "sondern benutzen erst den uns gegebenen Kopf, beziehungsweise den Verstand."
Leicht klopfte ich mir mit der Spitze gegen die Schläfe.
"Weißt du, alle haben einen Verstand, aber einige Denken auch damit", scherzte ich.
Shawn lachte und ich war von mir selbst überrascht, dass ich so locker war.
"Professor Flitwick wird seine Tür mit mindestens drei Zaubern sichern und davon sind weder dir noch mir mindestens zwei nicht geläufig. Allerdings handelt es sich hierbei um Professor Goldstein deswegen ... Aberto!"
Das Türschloss leuchtete in einem sanften orangen Licht, dann klickte es einmal und die Tür öffnete sich einen Spalt breit.
"Et voila, Monsieur", mokierte ich ein wenig und machte dazu eine einladende Handbewegung.
"Zeig mir nur ansatzweise, dass Obliviate genauso einfach ist, und ich lad dich auf ein Butterbier ein", war Shawns einziger Kommentar, als er die Tür mit den Fingerspitzen ganz aufstieß und hindurch trat.
Normalerweise hätte ich jetzt rumgestottert oder gar nichts gesagt, aber Shawn erinnerte mich ein wenig an Teddy, weswegen ich ungestört mit ihm reden konnte.
"Nur eins?", lautete deshalb meine Antwort.
"Na gut, mindestens zwei", grinste er mich über die Schulter an und bedeutete mir, ihm zu folgen.
Ich schloss die Tür hinter mir und stellte meine Tasche an die Wand. Dann drehte ich mich zum Klassenraum und staunte wahrlich nicht schlecht.
Der Raum hatte etwa den Umfang eines normalen Klassenraums, allerdings wirkte er durch die spärliche Einrichtung um einiges größer.
Die Tische und Stühle waren ordentlich an der Wand gestapelt und bis auf einen Schrank voller Bücher und das Lehrerpult, welches dicht davor stand, war das Klassenzimmer leer.
Zusätzlich befand sich die Decke weit über mir, was mir das Gefühl gab, in einer kleinen Kirche zu stehen.
"Das ist krass", staunte ich leise.
"Ja, oder?", schwärmte Shawn leicht. "Man gewöhnt sich schnell dran, aber es ist doch immer aufs Neue beeindruckend."
Shawn krempelte die Ärmel seines Umhangs hoch, stellte sich in die Mitte des Raumes und winkte mich zu ihm.
"Also, wieso wolltest du dich heute schon treffen?", fragte er freundlich, als ich mich gegenüber von ihm aufstellte.
"Wegen - "
Die nächsten Wörter blieben mir im Hals stecken und ich räusperte mich. Das half nichts und ich hustete kurz.
Das war mir schon wieder so peinlich, dass ich mir innerlich gut zuredete. Wieso ausgerechnet jetzt? Was war anders?
"Wegen des Patronus", setzte ich neu an. "Morgen ist die zweite Praxisstunde und ich krieg nichts auf die Reihe."
Shawns Mundwinkel hoben sich leicht. "Weißt du, woran es liegt? An der Zauberstabbewegung, der Erinnerung, oder klappt es einfach nicht?"
"Es ... ist schwer zu erklären", gab ich offen zu. "Ich hab gefühlt alle guten Erinnerungen ausprobiert und nichts hat funktioniert."
Jetzt grinste Shawn. "Okay, ich habe eine Vermutung, woran es liegen könnte."
Gespannt sah ich ihm dabei zu, wie er seinen Zauberstab vor sich hielt.
"Professor Goldstein hat euch bestimmt gesagt, ihr sollt euch von der Erinnerung durchströmen lassen?"
Zustimmend nickte ich nur und zog ebenfalls meinen Zauberstab.
"Gut. Stell dir vor, du spaltest deine Erinnerung auf. Das, was passiert ist, ist völlig unwichtig. Nur das Gefühl zählt. Stell dir vor, wie es aus deinem Herzen strömt, sich in deinem ganzen Körper verteilt und dich innerlich wärmt."
Er machte eine ausladende Handbewegung, die seinen ganzen Körper abdeckte.
"Du wirst davon gestärkt, es ist wie ein kleines Beben. Erst dann stellst du dir vor, wie sich die Kraft sammelt und durch deinen Arm in deinen Zauberstab gelangt."
Seine Hand fuhr an seinem Arm entlang bis zu seinem Handgelenk und seinem Zauberstab.
"Sag den Zauberspruch und spüre das Beben im Stab. Was hast du für einen? Ist das Ahorn?"
"Genau, mit Einhornhaarkern", bestätigte ich.
"Siehst du, dann solltest du kein Problem haben. Du musst es nur richtig spüren. Hast du eine Erinnerung?"
Ich zögerte. Welche sollte ich nehmen? War die Freude über meinen Hogwartsbrief groß genug?
"Ich ... denke schon, ich kann es versuchen", legte ich mich schließlich fest.
"Gut, dann zeig mal."
Shawn trat einen Schritt zurück und lächelte mir aufmunternd zu.
Diesmal wollte ich es unbedingt schaffen. Ich wollte nicht, dass Shawn dachte, ich sei dumm oder unbegabt.
Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich ganz auf den Moment, etwas mehr als einen Monat vor meinem zwölften Geburtstag.
Wie Shawn es mir geraten hatte, warf ich den Brief weg und sammelte das Gefühl.
Ein leichtes Kribbeln durchfuhr mich. Angeregt öffnete ich die Augen und zwang die Magie, in meinen Zauberstab zu strömen. Um mich besser fokussieren zu können, schloss ich meine Augen wieder.
"Expecto Patronum", sprach ich die Zauberformel. Gespannt, ob was passiert war, flackerten meine Lider auf.
Doch da war nichts. Kein einziger heller Schleier, nichts.
Enttäuscht ließ ich meinen Zauberstab sinken.
"Du willst es zu sehr", sprach Shawn und ich schrak leicht zusammen. Für einen kurzen Moment hatte ich seine Anwesenheit ganz vergessen.
"Dein Handgelenk ist ganz verkrampft, du machst dir zu viele Gedanken."
"Kannst - kannst du es mir vielleicht zeigen?", fragte ich zögernd.
"Klar", antwortete Shawn fröhlich und stellte sich wieder gegenüber von mir hin.
Er schloss die Augen nicht, sondern hob einfach seinen Zauberstab.
"Expecto Patronum!"
Aus seiner Zauberstabspitze bracht ein silbrig glänzender Otter hervor.
Mit offenem Mund schaute ich dem gestaltlichen Patronus hinterher, wie er durch den Raum tollte.
Shawn schickte den Otter bis unter die Decke, dann umkreiste er mich und ihn in einer Acht, ehe er sich über uns in Luft und silberne Schliere auflöste.
"Das - war wunderschön...", schwärmte ich überwältigt.
"Danke." Shawn lächelte verlegen und kratzte sich am Ohr. "Jetzt du nochmal."
Leise seufzend hob ich meinen Zauberstab und konzentrierte mich erneut.
"Da, siehst du?", unterbrach Shawn mich. "Deine Hand."
Er trat rechts neben mich und fasste um mein Handgelenk.
Bei seiner Berührung bildete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen. Seine Hand war warm und überraschend weich, ich hatte sie rauer eingeschätzt.
"Das ist viel zu steif. Mach dich locker. Nur so fest, dass du den Zauberstab gerade
noch so halten kannst."
Er schüttelte meine Hand leicht, bis ich etwas lockerer ließ. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie fest ich eigentlich zu griff.
"Und den Ellbogen ein wenig weiter nach außen drehen ...", wies er mich an.
Sein Mund war dicht an meinem Ohr. Sanfte winkelte er meinen Ellenbogen an und drückte ihn nach außen.
"So ..."
Sein Flüstern löste eine erneute Gänsehaut aus und ich war froh, dass mein Umhang sie verbarg.
"Du kannst dich vermutlich nicht daran erinnern", schoss es einfach so aus mir heraus.
Ich war völlig ruhig und gleichzeitig überrumpelt, was mein Unterbewusstsein schon wieder frei ließ. Es sprach einfach den Gedanken aus, der mir soeben durch den Kopf gewandert war.
"Aber in meinem ersten Jahr im Zug. Das Mädchen, das so tollpatschig in euer Abteil geplatzt ist - "
"Wie könnte ich das vergessen", hauchte Shawn neben meinem Ohr.
"Du erinnerst dich an mich?", fragte ich verwundert.
Ich konnte spüren, wie Shawn nickte. Er hielt immer noch meine Hand und irgendwie wollte ich nicht, dass er losließ.
"Natürlich. Wie du mich mit deinen großen braunen Augen angesehen hast. Aus dir sprach so viel Angst, was ich bis heute nicht verstehe. Du bist so ein tolles Mädchen, du solltest dich nicht so verstecken."
Mein Magen drehte sich um. Es war ein seltsames Gefühl, wenn Shawn mir so etwas sagte, aber gleichzeitig war die beschwerliche Übelkeit ziemlich angenehm.
Seinen Blick von damals konnte ich nie vergessen. Ich hatte erst fast ein Jahr später erfahren, in wessen Abteil ich da eigentlich geplatzt war und wer mich so angesehen hatte.
Langsam drehte ich meinen Kopf ein wenig zu ihm, sodass ich ihn aus den Augenwinkeln beobachten konnte.
"Mal davon abgesehen", lachte er leicht und seine Stimme kratzte ein wenig, "dass ich in der ganzen Woche überlegt habe, wie ich dich am besten darauf ansprechen könnte, ohne, dass es seltsam wirkt."
Dieser Satz ließ alles in mir einfrieren. Ich könnte mich keinen Millimeter bewegen, selbst meine Atmung setzte kurz aus.
Ich hörte Shawns gleichmäßige und beruhigende Atemzüge.
"Hast du mich mit Absicht umgerannt?", fragte ich schließlich ganz leise.
"Nein", lachte Shawn wieder. "Aber anscheinend war es eine der besten Unfälle meines Lebens. Als du mir in die Augen gesehen hast, erkannte ich dich voll und ganz wieder. Ich wusste, du bist das Mädchen aus dem Zug."
Mein ganzer Körper kribbelte und meine Gedanken rasten so schnell, dass ich nicht sagen konnte, was mir durch den Kopf schoss, da ich keinen einzigen zu fassen bekam.
"Allerdings habe ich es nie jemandem erzählt. Hey, sieh mal."
Ich riss mich von seinem Gesicht los und folgte seinem Blick. Seine Hand berührte nach wie vor meine und aus der Spitze meines Zauberstabs stiegen mehrere helle, leuchtende, silbrige Schlieren auf.
Sie rankten sich nach oben und es wirkte fast, als würden sie einen Kampf um die Spitze führen.
"Wie machst du das?", fragte Shawn leise. In seiner Stimme schwang ein Hauch von hoher Bewunderung mit.
"Keine Ahnung", gab ich ehrlich zu und beobachtete fasziniert das, was ich angeblich vollbracht haben sollte. Selbst Olivia hatte weniger geschafft, und ich hatte nicht einmal den Zauberspruch gesagt - geschweige denn bewusst daran gedacht.
"Ich weiß", äußerte Shawn und ließ sachte meine Hand los, "dass du es vielleicht nicht siehst, aber du hast eine unheimliche Ausstrahlung."
Die Schlieren stoppten.
"Wenn du jemanden ansiehst, faszinierst du einen echt. Man muss nur lang genug hinter deine errichtete Mauer schauen."
Ich schluckte. Oh Merlin, was ging hier ab? Das hier musste entweder ein saftiger Streich oder ein Traum sein.
"Deine Mauer ist ganz schön fest."
Meine Augen sprangen blitzschnell in Shawns Richtung. Sofort fing er meinen Blick auf und schaute mich intensiv an.
"Verrätst du mir, warum?"
Sofort schüttelte ich den Kopf, auch wenn es nur langsam passierte. Zu einem höheren Tempo war ich nicht in der Lage. Er war zwar Shawn, aber er hatte kein Recht, sich sowas zu erlauben.
"Nein", blockte ich ab und räusperte mich automatisch. "Nein, auf keinen Fall."
Eigentlich hatte ich nun mit einem Shawns verletzter Blicke gerechnet, doch es folgte keiner. Er sah mich einfach nur an und auf seinen Lippen bildete sich ein Lächeln. Es war ein anderes Lächeln.
"Dann nicht. Vielleicht mal irgendwann."
Als wäre nichts gewesen, nahm er seinen alten Platz entgegengesetzt von mir ein.
"Das war doch nicht schlecht für den Anfang."
Wie konnte er so tun, als hätten die letzten zwei Minuten nicht stattgefunden? Ich musste neben ihm wie ein kompletter Idiot wirken, so wie ich hier stand und keine Ahnung hatte, was gerade abging.
"Jetzt bin ich dran. Eigentlich müsste ich zuerst den Obliviate lernen, aber der kann warten. Wie hast du das mit dem Desillusionierungszauber gemacht? Das war beeindruckend!"
Unsere Nachhilfestunde ging noch gut eine volle Stunde, in der ich Shawn so gut es ging in seiner Zauberstabbewegung verbesserte. Am Ende konnte er zumindest seinen Kopf und seinen halben linken Arm anpassen.
Mein Verhalten war eher schüchtern, da ich die Situation nicht verdrängen konnte. Shawn schien das alles nichts aus zu machen, er verhielt sich ganz normal. Kein Blick, kein Kommentar, nicht mal eine geschmacklose Anspielung.
"Treffen wir uns dann am Dienstag?", fragte Shawn, als wir um kurz vor neun unsere Taschen schulterten.
"Klingt gut", murmelte ich, obwohl ich nicht sicher war, ob ich es auch so meinte. "Wieder hier oder in dem anderen Raum?"
"Hier finde ich es eigentlich besser", überlegte er. "Ich sag dir am Dienstagmorgen Bescheid, ja?"
"Alles klar, aber Dienstag esse ich erst spät", ließ ich ihn wissen.
"Gut, dann finde ich dich um zehn vor neun in der großen Halle."
Wir verließen das Klassenzimmer und Shawn schloss die Tür hinter sich.
"Könntest du vielleicht ... wieder abschließen?", bat er mich verlegen.
Ich zog meinen Zauberstab, richtete ihn auf das Schloss und sagte: "Fechado!" Das Schloss leuchtete hellblau auf.
Zum Test rüttelte Shawn an der Tür, um festzustellen, dass sie tatsächlich fest verschlossen war.
"Perfekt, danke. Siehst du Professor Goldstein morgen? Dann könnte ich Alia oder Victoire den ach so tollen und sicheren Schlüssel geben, und du gibst ihn Goldstein zurück."
"Kannst du machen, gute Idee."
"Sehr gut, dann kriegt einer der beiden ihn sofort", versprach er. "Gehst du auch in den Gemeinschaftsraum?"
"Ja, ist ja schon fast neun", stellte ich mit einem Blick auf die Uhr fest.
"Dann beeilen wir uns besser, sonst gabelt uns Professor McGonagall auf", grinste Shawn. "Das kann ich jetzt echt nicht gebrauchen."
"Oder Jules erwischt uns und wir kriegen Punkte abgezogen", kicherte ich.
"Oder das", bestätigte Shawn lachend.
Gemeinsam liefen wir schweigend die vier Stockwerke nach oben. Uns kamen nur noch vereinzelt die Schüler entgegen, die aus den hintersten Ecken des Schlosses aufgrund der Zeit zurück in ihre Häuser flüchteten.
Doch im fünften Stock kam plötzlich Melody um die Ecke. Ich sah nur noch ihre feuchten Haare und anhand der Richtung, aus der sie kam, schloss ich, dass sie sich wohl im Vertrauenschülerbad gewaschen hatte.
"Ich bin nicht da", zischte ich Shawn schnell noch zu und sprang hinter die nächste Ecke.
Shawn sah sich verwirrt nach mir um, aber ich drückte mich nur panisch gegen die Wand.
"Shawn!", hörte ich Melody rufen und verdrehte die Augen. Das war eines der Dinge, die mich schon immer an ihr genervt hatte.
"Hi ... Melody, richtig?", versuchte Shawn freundlich zu klingen, aber ich hörte deutlich seine Verzweiflung heraus, was mich fast zum Lachen brachte.
"Wie geht's dir? Wo kommst du gerade her?", fragte sie und ich konnte mir fast bildlich vorstellen, wie sie breit lächelnd Shawn anschwärmte.
"Oh, ich ... war noch bei Professor Longbottom, ich musste was klären ..."
"Nimmst du dieses Jahr am Quidditch-Auswahlspiel teil?", bohrte Melody weiter.
"Ja", stammelte Shawn. "Eigentlich schon ..."
"Geil, dann schau ich mal vorbei", kicherte Mel. Ihre Falschheit ließ mich fast brechen.
"Na, wen haben wir denn hier?", säuselte plötzlich eine Stimme neben mir.
Peeves. Der hatte mir gerade noch gefehlt.
"Versteckste dich? Hihihi!"
Der Poltergeist schwebte mit dieser Möglichkeit, mich zu ärgern, um die Ecke. Ich wollte ihn aus Reflex am Jackenzipfel packen, aber meine Hand glitt einfach durch seinen durchlässigen Geisterkörper.
"Huaah!", kreischte Peeves. "Schaut, wer sich da vor dir versteckt!"
Ich wartete kurz, ehe ich meinen ahnungslosesten Blick aufsetzte und um die Ecke kam. Ich tat überrascht, als ich Shawn und Melody sah.
Peeves flog glücklicher Weise gackernd zwei Stöcke tiefer, wo er zwei Erstklässler entdeckte, die anscheinend dabei waren, sich zu verlaufen.
"Oh, hi, Mel", begrüßte ich sie freundlich und hoffte, dass ich glaubwürdiger als sie rüber kam.
"Hi, wo kommst du denn her?", fragte sie. In ihrer Stimme schwang ein Schwall Provokation mit, die mir nicht entging. Mel verschränkte die Arme vor ihrem Umhang.
"Ich hab Teddy noch schnell ein Buch gebracht, das hat er bei uns vergessen. Hab eine Abkürzung genommen", log ich ohne mit der Wimper zu zucken.
"Ach so, gut. Musst du nicht hoch?", schaute sie mich finster an. "Ist schon spät, du willst doch nicht noch eine Verwarnung kriegen."
"Nein, da hast du recht", stimmte ich ihr einfach zu. "Bis dann."
Ich stieg die Treppe nach oben, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Ich hörte, wie Shawn sich aus Melodys Klauen wand und mir folgte. Da ich Angst hatte, dass Mel uns nachsah oder sogar folgte, drehte ich mich bis zum siebten Stock nicht um.
"Sie ist weg", beruhigte Shawn mich am Ende der Treppe. Er hatte mich eingeholt.
"Oh Merlin, zum Glück", atmete ich erleichtert auf.
"Was war denn plötzlich los?", wollte Shawn wissen.
"Ein andermal, okay?", wimmelte ich ihn ab. Ich hatte jetzt keine Lust, mich rechtfertigen zu müssen.
"Ist okay. Bis Dienstag", verabschiedete Shawn sich und umarmte mich einfach.
Erneut war ich heftig überrascht, aber diesmal legte ich meine Arme um seinen Rücken, auch wenn es sich furchtbar seltsam anfühlte.
Breit lächelnd ließ Shawn mich los, winkte mir und ging frohen Mutes nach rechts. Ich lächelte kläglich zurück und stolperte nach links.
Was auch immer gerade in meinem Leben passierte, ich war restlos überfordert. Ich musste irgendjemandem davon erzählen, aber ich wusste nicht wem. Es war nicht, dass ich meinen Freunden nicht vertraute. Ich hatte einfach Angst. Angst, dass sie mich vielleicht nicht ernst nähmen und mich aufzogen, aber vor allem, dass sie mich mit anderen Augen sähen.
Ich wollte sie unter gar keinen Umständen verlieren.
Mein Weg führte mich rechts um die Ecke.
Ich realisierte immer noch nicht richtig, was eigentlich passiert war. Shawn kannte mich die ganze Zeit. Er hatte mich über vier Jahre nicht vergessen. Das musste der Grund sein, wieso er alles daran setzte, Zeit mit mir zu verbringen. Er fand mich interessant.
Aber war ich interessant? Für manch einen würde meine Familiensituation vielleicht interessant klingen. Mein Streit mit Melody, wenn sich jemand meine stümperhafte Unfähigkeit antun wollte. Meine Kindheit, falls meine empfindliche Art ertragbar wäre.
Verträumt öffnete ich die Tür zur Wendeltreppe, die hinauf zu unserem Turm führte.
Shawn wusste davon nichts - er konnte nichts davon wissen, wie denn auch.
Meine von ihm getaufte "Mauer" würde er nicht zum Einsturz bringen, denn sie hatte schon viele Angriffe überlebt. Risse hatte sie nie bekommen, lediglich weitere Schichten Steine.
Folglich ergab es recht wenig Sinn; Shawns Geheimnis um seine Bemühungen war noch nicht ganz gelüftet.
Auf einmal wusste ich, mit wem ich reden konnte, wer mich nicht verurteilen oder Gerüchte über mich verbreiten würde.
Es war erst neun Uhr, ich würde hoffentlich nicht lange brauchen, wenn ich mich jetzt -
Ich erschrak mich zu Tode, als ich plötzlich von den Füßen gerissen wurde.
Es war dunkel, jemand hatte die Kerzen an der Wand gelöscht.
Ich spürte einen kräftigen Arm an meiner Kehle, eine kalte Wand an meinem Rücken und einen Zauberstab, der in meinen Unterkiefer gedrückt wurde.
ϟ ϟ ϟ
So, wer reißt mir für diesen Cliffhanger jetzt den Kopf ab?
Vermutungen, wer das wohl sein könnte?
Was sagt ihr zu "Shy" als Shipname?
Ich hab mir übrigens überlegt, dass ihr mir gerne Fragen zu Charakteren oder anderen Dingen stellen könnt, wenn ihr wollt oder euch welche einfallen. Wenn sie nicht zu viel vorwegnehmen, beantworte ich via Instagram (wobei es egal ist, wo ihr die Fragen stellt).
Bis demnächst, Amelie :)
Next Update ⥋ 24.10.2017 (Tuesday)
[19.10.2017]
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