Die untergehende Insel
Mit einem Ruck öffnete ich die Augen und sah roten Himmel. Die Wolken Grau und düster. Vom Himmel rießelte schnee. Ich spürte ein Beben, es war der Boden unter mir, der in unregelmäßigen Abständen erschüttert wurde. Mit einigen Mühen richtete ich mich auf, blickte vom blutroten Himmel zu der Umgebung in meiner unmittelbaren Nähe.
Ich lag auf einer steinernen Straße mit steinernen Häusern. Sie alle hatten eine schwarze Färbung. Ich griff nach dem Schnee neben mir und begriff, dass es viel zu warm für schnee war. Es war Asche, die langsam vom Himmel fiel und alles bedeckte. Vorsichtig stand ich auf und klopfte den Schmutz von meinem weißen Kleid. Es war im stil der neusten Mode meiner Insel geschnitten. Ein langer Streifen Stoff wurde dabei raffiniert mit Spangen und Gürteln um den Körper gewunden. Es war in vielen Aspekten der männlichen Toga sehr ähnlich. Ich liebte dieses Kleid, obwohl es nicht meines war. Es gehörte meiner Herrin, sie hatte es an ihrem Hochzeitstag getragen und dann weggeworfen. Damals war es mir egal gewesen welche Regeln ich damit brach, ich wollte dieses Kleid nur unbedingt tragen.
"Aus dem Weg!", schrie plötzlich jemand und rempelte mich an. Ärgerlich sah ich dem jungen Mann hinterher. Er war nicht der einzige der schreiend und panisch herumlief. Um mich herum versuchten viele Menschen zu entkommen. Mit wachsendem Entsetzen erkannte ich den Grund für ihre Angst.
Vor meinen Augen spukte ein großer Vulkan feuer, Asche und Lava über meine Insel. Meine Heimat. Ich hatte den Vulkan immer als einen stillen Wächter meiner Insel betrachtet und nun erkannte ich seine grausame Wut. Aber alles was ich empfand war Trauer. Ich verlor gleichermaßen ihn wie meine Heimat. Mir war klar, das es keine Rettung gab, für niemanden. Traurig schlenderte ich die Straßen entlang, ignorierte die Schreie meiner Nachbarn und das grollen des Vulkans. Stattdessen versuchte ich unter der grauen Wolkendecke einen Blick auf die Sonne zu erhaschen.
Schließllich kam ich zu meinem Lieblingsplatz auf der Welt. Die Promenade, dort konnte man über das blaue Meer sehen und sich vergessen. Genau das wollte ich tun. Ich wollte mich und den drohenden Untergang vergessen. Seufzend lehnte ich mich an die Brüstung. Vor mir breitete sich das unendliche Meer aus, doch statt dem beruhigenden Blau sah ich schwarz. Das Meer war tiefschwarz und brodelte. Einige Boote versuchten der Insel und dem Vulkan zu entkommen und wurden dann im kochenden Meer lebendig gekocht. Meine Enttäuschung vom Meer verwandelte sich in resignation.
Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Brüstung und beobachtete die Menschen. Noch immer rannten sie hektisch herum, warfen mir seltsame Blicke zu und blieben doch nie stehen. Ich hatte keine Familie um deren ich mir sorgen machen musste. Weder Vater noch Mutter und keine Geschwister. Tatsächlich war meine einzige Familie, meine kleine Tochter still auf die Welt gekommen. Sie hatte den blauen Himmel nie gesehen. Ihr Vater war mein Herr und hatte nicht um sie getrauert, im Gegenteil. Er war froh gewesen kein zusätzliches Maul stopfen zu müssen. Ich war nur eine Sklavin, die von ihrem Herren ein Kind erwartet hatte, nichts besonderes für ihn noch für meine Insel.
Meiner Tochter wäre es ebenso ergangen. Sie wäre eine Sklavin gewesen, verdammt zu einem Leben ohne Würde. Ich konnte keinem Kind mein Leben schenken, das wäre nicht fair. Die logischen Gründe, das frühe Ableben meines Kindes zu rechtfertigen, machten mein Herz nicht leichter. Sie war alleine dort in der Unterwelt. Da war niemand der sich um sie kümmern würde. Und Einsamkeit kam Folter sehr nahe. Mein kleines Mädchen sollte nicht alleine durch die Unterwelt wandeln. Ich wollte ihr folgen. Sie beschützen, sie lieben. Gemeinsam wären wir nicht alleine. Eine Bewegung am Himmel ließ meine Gedanken zurück zum jetzt gleiten.
Es war ein fliegendes Ungeheuer. Ein klobiger Körper und ein rießiges Maul. Groß wie eine Kuh mit spitzen Krallen und Zähnen. Und es war nicht alleine. Mit seinen Freunden jagte das Ungeheuer die Bewohner der Insel. Im schnellen Sturzflug rissen sie Menschen auseinander und fügten dem vorhanden Farbspektrum doch keine andere Farbe als Rot hinzu. Sanft strich ich über eine meiner blauen Venen auf meinem Unterarm. Ich wünschte mir so sehr mein Blut wäre blau. Vielleicht würde ich damit dem Meer seine wahre Farbe zurückgeben können. Als die Ungeheuer zu nahe kamen, beschloss ich zu gehen. Ich schlenderte durch die Gassen meiner Stadt, sah die Leichen meiner Nachbarn am Boden liegen und stieg über sie hinweg. Da war nichts das ich für sie tun könnte.
Lava rann in heißen Flüssen den mächtigen Berg herab und in die Straßen. Vorsichtig wich ich einigen dieser flammend heißen Lavaströme aus. Mein Ziel war die Stadtmitte. In dessen Zentrum stand eine Statue von der Göttin Demeter mit ihrer Tochter Persephone. Ich wollte zu ihr beten und sie bitten mich mit meiner Tochter in der Unterwelt wieder zu vereinigen. Demeter würde Mitleid haben, sie würde mir bestimmt helfen. Ich erblickte die Statue zur selben Zeit wie die seltsame Person neben ihr. Es war eine Frau, dessen Gliedmaßen in stoffe gewickelt waren. Sie hatte schwarzes Haar wie ich und trug diese Stofffetzen selbst im Gesicht. Es verhüllte alles, sogar die Augen. Mich misstrauisch umblickend trat ich näher und wich dabei einem Vulkanstein aus. Zitternd umarmte ich mich selbst.
Nach den Tagen ohne Essen fühlte ich mich schwach und hilflos, aber ich würde so nahe an meinem Ziel nicht halten. Ich musste für mich und meine Tochter beten. Die Fremde sah mich mit ihrem einbandagierten Gesicht an, wartete offensichtlich auf eine Handlung meinerseits. Ich ignorierte sie. Nichts war wichtiger als dieses Gebet. Bedächtig kniete ich mich vor die Statue der Demeter und ihrer Tochter und fing an.
"Demeter, Göttin der Fruchtbarkeit und des Ackerbaues, bitte erhöre mein Flehen."
"Was machst du da?", fragte die Fremde. Sie kniete neben mir, das verhüllte Gesicht meinem sehr nahe. Ihre Stimme war heißer und tief, da war wenig weibliches an ihr. Ich zögerte, war gleichermaßen irritiert wie genervt vom unterbrechen dieser Frau. Erkannte sie nicht, dass ich im Stillen beten wollte. Wusste sie nicht, dass gerade die Welt unterging.
"Ich muss beten.", gestand ich widerwillig ein.
Die Fremde nickte verständnisvoll. "Weil der Vulkan brennt und die Insel stirbt." Es war keine Frage. Sie sprach es als Feststellung aus. Ich schüttelte den Kopf und sackte in mich zusammen. Wieso sollte ich sie anlügen. Die Wahrheit hatte keinen Grund sich zu verstecken.
"Der Tod ist mir gleich. Ich fürchte ihn nicht. Eher begrüße ich ihn." Neugierig legte die Fremde den Kopf schief. "Wirklich? Wieso?"
"Das geht dich nichts an.", erwiderte ich zickig und drehte mich weg. Trotz meiner Stellung hatte sie kein Recht meine Gründe zu erfahren. Wenigstens so kurz vor dem Tod wollte ich ein Gefühl von Freiheit verspüren. Plötzlich stürzte die Frau sich auf mich. Starke Hände legten sich um meinen Hals und drückten zu. Reflexartig versuchte ich sie zu bekämpfen, ich schlug und trat, doch schlussendlich ließ ich all dies bleiben und starrte in den blutroten Himmel. Warum sollte ich mich wehren? Ich hatte mein Gebet gesprochen, oder zumindest Teile davon. Sie würde mir immerhin einen schnellen Tod gewähren. Mir wurde schwindelig und kraftlos schlossen sich meine Augen. Meine letzten Gedanken gehörten meiner Tochter. Ich hatte ihr nicht einmal einen Namen geben können. Meinem süßen Kind.
Als ich die Augen wieder aufschlug sah ich den blutroten Himmel über mir. Aber bei genauem hinsehen, erkannte ich blaue Streifen in dem rot. Mein Körper fühlte sich schwach und kränklich an. Ich bewegte den kopf und erkannte, dass ich in einer Holzkiste lag, deren gläserner Deckel mir nur den Himmel zeigte. Leicht panisch versuchte ich mich gegen den Deckel zu stemmen und erkannte, dass ich in diesem Sarg gefangen war. Nun hatte die Panik mich vollkommen in ihrer Gewalt und wild schlug ich um mich, kratzte an den Wänden meines Gefängnissen und schrie um Hilfe. In meinem Blickfeld erschien die bandagierte Frau. Sie führte ihren Zeigefinger zu ihren Lippen und deutete mir damit ruhig zu sein. Durch die gläserne Decke konnte ich ihre Stimme kaum hören.
"Ruhig, Kind. Ich schenke dir etwas." Hektisch atmend klopfte ich erneut gegen den Glasdeckel.
"Was?! Was willst du von mir?!" Wut mischte sich in meine Stimme, doch die Fremde schien sich nicht daran zu stören. Sie trat näher, legte sich auf mein Gefängniss und brachte ihr verhülltes Gesicht nahe an den Deckel.
"Sch, ganz ruhig. Dir kann nichts passieren."
"Bitte, lass mich raus....bitte, ich will nur sterben." Tränen rannen meine Wangen hinunter. Was hatte diese seltsame Frau nur mit mir vor. Wieso war ich nicht längst tot? Sanft strich die Fremde über das Glas und kicherte.
"Ich weiß. Also schenke ich dir ewiges Leben, ewige Jugend. Niemals wirst du sterben oder verwelken." Entsetzt starrte ich sie an. Wer war diese Frau, die es wagte mir meinen seligen Tod zu verwehren, die mich von meinem geliebten Kind abschnitt?! Wütend schrie ich und trat gegen die Wände meines Sarges an. Kampflos wollte ich nicht aufgeben. Niemals. Ich hatte diesen Tod verdient. Ich wollte ihn. Die Fremde richtete sich wieder auf, blieb aber auf meinem Gefängnis sitzen.
"Wieso? Wieso tust du das!", schrie ich sie an. Ich legte all meine Wut, meine Furcht und meine Trauer in diese Worte. Die Fremde spielte mit ihrem schwarzen Haar und meinte leichthin.
"Weil mir langweilig ist. Und du wahrhaft interessant bist. So einen interessanten Menschen kann ich doch nicht einfach sterben lassen. Ich bin gespannt, was du mit all deiner Lebenszeit anstellst."
"Das kannst du nicht machen!", rief ich ihr entgegen, doch die Frau stand grazil auf und verschwand aus meinem begrenzten Blickfeld. Mein Kopf fühlte sich leer und müde an. Beim Gedanken an ewiges Leben wurde mir schlecht und nur mit mühe schaffte ich es mich nicht zu übergeben. Plötzlich wurde mein Sarg bewegt. Unsanft schwankte ich darin hin und her. In der Ferne konnte ich die Fremde lachen hören. Verzweifelt weinte ich und betete zu Demeter für ein schnelles Ende und eine Wiedervereinigung mit meiner Tochter in der Unterwelt.
"Bitte, ihr Götter im Olymp, lasst dies ein Traum sein...."
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