Chapter 9

Als ich genug in mich hinein gestopft hatte, merkte ich erst, dass Raynard im Türrahmen lehnte und mich beobachtete. "Jugendliche essen immer so viel", meinte er tonlos. "Sie müssen ja noch wachsen." "Bitte nicht, dann wirst du größer als ich." Diesmal war ich es, der Lächeln musste. "Ich bin schon seit ein paar Monaten nicht mehr größer geworden." "Dann gibt es auch keinen Grund so viel zu essen." Ja, da hatte er mich, das gab ich zu. Und dafür hatte er noch nicht mal nachdenken müssen schien es mir. Ich hätte länger gebraucht mir die Antwort zurechtzulegen. Aber irgendwie verunsicherte es mich, dass er so kalt war. "Darf ich denn nicht essen?" Diesmal dauerte es länger bis er antwortete. "Das Problem ist, dass ich nicht mehr viel habe und einkaufen kann ich nicht." "Ich kann das für dich machen." Ich hatte seinen Blick nicht noch dazu gebraucht, um zu realisieren wie dumm diese Aussage gewesen war. Er hatte mich entführt. Naja, halbwegs. Jedenfalls hatte er mich gestern gefesselt und mir heute Morgen einen riesigen Schrecken mit dieser Leiche eingejagt. Wer mochte sie überhaupt sein? Eine arme, alte Hausbesitzerin, die er kaltblütig umgebracht hatte, um hier sein Versteck aufzubauen? Eine alte Frau, die nunmal niemand vermissen würde? Oder hatte er sie gekannt? Ich traute mich nicht zu fragen, vielleicht würde ich dann genauso enden. Aber fest stand, dass jeder vernünftige Mensch in meiner Situation abhauen würde, sobald er die Gelegenheit dafür bekam. Und wenn er mir auch noch Geld zusteckte und ich für ihn einkaufen sollte? Wer würde da nicht die Flucht ergreifen? Aber er wusste gar nichts über mich. Er kannte mich nicht, genauso wenig wie ich ihn kannte. "Am besten bringe ich dich wieder in den Tunnel und du bist mir nicht weiter im Weg." Meine Augen weiteten sich. "Oh nein, bitte nicht!" Er sah mich ausdruckslos an. "Und jetzt auf jeden Fall." "Warum? Was habe ich getan?" Er reagierte nicht und sein Schweigen machte mir nur noch mehr Angst. Hatte er mich bisher zu nichts gezwungen, weil ich alles mitgemacht hatte? War er jemand, der es hasste wenn man ihn widersprach? "Ich laufe nicht weg, ehrlich!" Als er an mir vorbei lief hielt er inne. "Ach nein? Und woher soll ich das wissen? Wie kann ich dir vertrauen?" Er hatte seine Stimme erhoben und klang abschätzig. Genauso abschätzig wie die anderen Menschen, wenn sie mich sahen. Aber sie wussten nicht, dass sie mich dazu gebracht hatten so zu werden wie ich jetzt war. Sie wussten nicht, dass ich auf der Straße und von der Straße lebte, weil sie daran schuld waren. Gar nichts wussten sie. Überhaupt nichts. "Weil du mich verstehst", wimmerte ich in einen letzten Versuch. "Ich würde dich nicht verraten." Sein Blick änderte plötzlich von abschätzig zu liebevoll, als würde er seinen Sohn tadeln. Dieser Mann war nicht durch und durch böse. Er wurde so geformt von der Gesellschaft. Er hatte schreckliche Dinge miterlebt, die ich nie sehen würde. Er war gezeichnet. Gezeichnet vom Leben und von den Menschen. "Wir... wir haben viel mehr Gemeinsamkeiten als du denkst! Wir könnten das zusammen machen. Ich könnte dir helfen!" "David..." Es war das erste Mal, dass er meinen Namen aussprach und es klang wunderschön. "Du bist nicht so wie ich. Du hast dein Leben noch vor dir. Nutze es." Dann lief er endgültig weiter, aber erst, nachdem er mir etwas in die Hand gedrückt hatte. Es war Geld. Aber das erkannte ich erst, als er schon zur Tür hinaus war.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top