Prolog
Der Wind heulte durch die verschneiten Baumwipfel, und die Schatten der Nacht verschlangen den letzten Funken Licht. Das Lager des FlockenClans lag still, doch die Erinnerungen an jene verhängnisvolle Zeit waren so lebendig wie das Blut, das einst den Boden färbte.
„Das Schicksal hat gesprochen," hatte Eisstern verkündet, seine Stimme kühl und unerschütterlich. „Und es zeigt uns den Preis der Unvorsichtigkeit."
Monde zuvor hatte der FlockenClan an einem Wendepunkt gestanden. Streuner hatten die Grenzen überschritten, ihre Gier nach Beute und Macht kannte keine Schranken. Sie hatten nicht nur das Land des Clans verwüstet, sondern auch ihre Gesetze verhöhnt. Schicksalsschläge, einer nach dem anderen, hatten die Clankatzen erschüttert: Jagdgebiete gingen verloren, Junge starben an Hunger, und die Krieger begannen zu zweifeln.
Doch für den FlockenClan gab es keine höheren Mächte, keine Götter, an die sie sich wenden konnten. Sie kannten keine Geschichten von Sternen oder Geistern – nur das Schicksal, unergründlich und unerbittlich. Die Ältesten hatten immer gesagt: „Das Schicksal führt uns, aber nur die Starken dürfen seinem Pfad folgen."
Um zu überleben, musste der Clan sich anpassen. Es war Eisstern, der die neuen Gesetze verkündete, klare Regeln, die jedes Risiko und jede Schwäche beseitigen sollten.
„Niemand wird je wieder unsere Grenzen überschreiten – weder von außen noch von innen."
Es war Eisstern, der die ersten Regeln des neuen Gesetzes verkündete. Er sprach mit einer Härte, die den Clangeist für immer formen sollte.
„Niemand wird je wieder unsere Grenzen überschreiten – weder von außen noch von innen."
Doch es war Felsenstern, sein Nachfolger, der das Gesetz zur absoluten Wahrheit machte. Unter seiner Führung wagte keine Katze es je, die Grenzen zu hinterfragen. Nicht einmal ein Blick über die Grenze wurde geduldet. Jede Schwäche wurde ausgemerzt, jede Versuchung im Keim erstickt.
Der FlockenClan wurde zum Inbegriff von Stärke und Disziplin – aber auch von Angst und Isolation.
Und doch, in den stillen Stunden der Nacht, flüsterte der Wind von anderen Welten, von Pfaden jenseits der Grenzen. Ein Flüstern, das das Schicksal selbst zu rufen schien...
Von jener verschneiten Nacht an, in der ein kleiner silber-weißer Kater das Licht der Welt erblickte, veränderte sich die Stille im Lager des FlockenClans. Der Wind trug mehr als nur die Kälte des Winters – er trug Stimmen. Stimmen, die nur wenige zu hören schienen, doch Sommerranke, der beige Heiler des Clans, in Unruhe versetzten.
„Es ist nicht nur der Wind," hatte er eines Nachts zu Felsenstern gesagt, seine Stimme zitternd vor etwas, das er selbst nicht benennen konnte. „Es ist, als ob... etwas beobachtet. Etwas spricht. Höhere Mächte, die wir nicht verstehen."
Felsenstern, der immer so fest an die Lehren des Schicksals geglaubt hatte, ließ sich nichts anmerken. Seine braune Augen bohrten sich in die des Heilers, seine Stimme blieb kalt und entschlossen.
„Es gibt keine höheren Mächte, Sommerranke. Es gibt nur das Schicksal – und uns, die seinen Pfad folgen."
Doch Sommerranke ließ sich nicht beirren. Immer wieder sprach er von dem Flüstern, das ihn heimsuchte, seit der silber-weiße Kater geboren worden war. „Es ist, als hätte das Schicksal selbst ihn geschickt. Aber wozu? Ich weiß es nicht."
Die Unruhe, die diese Worte auslösten, ließ Felsenstern nicht kalt. Er hielt seine Krieger dazu an, wachsamer denn je zu sein. Keine Schwäche durfte im Clan Fuß fassen, kein Zweifel durfte ihre Stärke gefährden.
Doch tief in seinem Herzen – in jener dunklen Kammer, die er vor allen verborgen hielt – fragte sich Felsenstern, ob das Schicksal tatsächlich sprach. Oder ob es etwas anderes war, das die Grenzen ihres Wissens überstieg.
Der kleine silber-weiße Kater wuchs unter den strengen Augen des Clans heran, ohne zu ahnen, dass das Flüstern, das ihn umgab, die ersten Fäden seines eigenen Schicksals spann.
Die Tage wurden länger, doch die Kälte blieb. Der Schnee bedeckte das Lager wie ein weißes Grabtuch, und selbst die kräftigsten Krieger spürten, wie die frostige Luft an ihrer Stärke nagte. Sommerranke fand keinen Frieden mehr. Nächte, in denen er das Heilerbau verlassen hatte, um die Sterne zu beobachten – nicht, weil er an sie glaubte, sondern um Antworten zu finden –, endeten stets mit diesem Flüstern in seinen Ohren.
Eines Morgens, kurz vor Sonnenaufgang, kehrte er mit gesträubtem Fell in Felsensterns Bau zurück. Seine bernsteinfarbenen Augen schienen heller als sonst, voller Unruhe und etwas, das Felsenstern als Furcht erkannte.
„Ich habe eine Botschaft erhalten," sagte Sommerranke mit gedämpfter Stimme. „Nicht von Sternen oder Geistern, sondern... von dem Wind. Es ist das Schicksal, das spricht. Es war keine Vision, sondern Worte, die in meinen Geist drangen."
Felsenstern zog eine Augenbraue hoch, ließ sich aber nichts weiter anmerken. „Und was hat das Schicksal zu sagen?"
Sommerrankes Stimme wurde leiser, kaum mehr als ein Flüstern. „Wenn der silberne Frost den ersten Sonnenstrahl berührt, wird das Schicksal seinen Pfad wählen. Ein Herz wird die Grenzen brechen, und mit ihm der Clan."
Felsenstern schwieg lange, ehe er schließlich mit schneidender Stimme antwortete: „Das Schicksal wählt immer. Das ist seine Natur. Doch unsere Gesetze sind stark, und kein Herz, kein Wille, keine Tat wird sie brechen."
Der Heiler nickte, doch in seinem Blick lag etwas, das Felsenstern beunruhigte. Eine Ahnung, dass diese Worte nicht nur eine Warnung, sondern ein unausweichliches Versprechen waren.
Im Lager erwachte das Leben langsam. Die Katzen begannen, sich zu regen, ihre Pelze gegen die Kälte zu sträuben. Und in einer kleinen, geschützten Ecke des Kinderstubs lag ein silber-weißer Kater und schlief, unberührt von der Welt um ihn herum, benannt nach seinem silber-weißen Pelz und der kalten Nacht seiner Geburt.
Frostjunges.
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