49 - Sicily

In den letzten 24 Stunden habe ich das letzte bisschen Kontrolle über mein Leben verloren, welches mir zugestanden hat. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich aus der Katastrophe retten soll, welche ich nun als meine Realität bezeichne. Telese kocht uns beiden etwas zu essen und ich ziehe die Vorhänge zu, sobald ich mich zu ihr in die Küche geselle. Die Paparazzi verfolgen mich, seit Nacer und ich in den Schlagzeilen gelandet sind und er zudem noch festgenommen wurde – was natürlich zu einer neuen Schlagzeile geworden ist. Es gibt tausende Gerüchte und so viel Hass, welcher sich wie ein Lauffeuer über ihn gelegt hat. Die meisten nehmen an, dass alles seine Schuld ist, obwohl sie die Geschichte gar nicht kennen. Sie kennen Nacer und mich nicht. Denn offiziell wird ihm die Schuld gar nicht gegeben, sondern er ist momentan lediglich der Hauptverdächtige. Luciano wurde allerdings ebenfalls einer Befragung unterzogen. Es ist merkwürdig, aber wir haben abgemacht, dass er morgen bei Telese und mir zu Mittag isst. Heute gesellt sich stattdessen Pasque zu uns, welcher gestern am Morgen ebenfalls nach England geflogen ist.

„Guten Morgen", meint Telese und begrüßt mich mit einer solidarischen Umarmung. Ich kann nicht behaupten, einen guten Morgen zu haben, aber ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich ohnehin schon den größten Teil des Morgens verpasst habe. Zum Glück.

„Hast du ein bisschen schlafen können?"

Ich zucke mit den Schultern und reibe mir über das Gesicht. Meine Augenringe sind vermutlich tiefer als der Marianengraben.

„Es ist ungewöhnlich, dass jetzt alles anders ist. Ich habe lange darüber nachgedacht."

Telese nickt mit einem verständnisvollen Blick. Gestern habe ich es noch geschafft, allen eine Kündigung und ein Entschuldigungsschreiben zu verfassen, weil ich die Nachricht erhalten habe, dass das Silver Dreams aufgrund von giftigen Gasen definitiv keine Zukunft mehr hat und ich auch nicht auf die Schnelle einen neuen Standort für das Restaurant finden kann. Telese habe ich vorläufig im Pub angestellt, aber wir haben auch schon diskutiert, dass ich diesen an sie verkaufen könnte. Sie hält das eigentlich für eine gute Idee, möchte aber nichts übernehmen, bis ich nicht sicher wieder auf beiden Beinen stehe.

„Bist du zu einem Schluss gekommen?"

Ich seufze und setze mich an den Küchentisch, wo schon alles für das Mittagessen gedeckt ist. Es ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn ich das Frühstück überspringe. Pasquale wird vermutlich bald hier eintreffen und es riecht hier auch schon so, als wäre bald alles fertig.

„Es fühlt sich einfach alles falsch an", gestehe ich ihr. Einige Momente lang sieht sie mich über die Schultern fragend an, dann nimmt sie das Essen vom Herd und bedeckt es mit einem Deckel.

„Was meinst du damit?", fragt sie, sobald sie sich zu mir an den Tisch setzt.

„Nacer hat gesagt, dass ich ihm glauben sollte, und dass das nicht sein Werk ist. Was auch immer er damit gemeint hat."

Telese nickt und zwirbelt sich gedankenverloren Haarsträhnen um den Finger.

„Das ist ziemlich merkwürdig. Hat er irgendetwas davon gesagt, dass er dich liebt oder irgendwelche sonstigen Worte des Abschieds hingeblättert?"

Ich schüttle den Kopf und trommle mit den Fingern unruhig auf den Tisch. Ich höre allerdings wenige Sekunden später damit auf, weil ich dadurch an das Klavierspielen und den zerstörten Flügel meiner Großmutter denken muss.

„Es hat sich von seiner Seite nicht wie ein Abschied angefühlt, sondern viel eher, als wollte er mir etwas damit sagen. Es fühlt sich so an, als würde ich schon wieder nicht verstehen, was los ist. Als könnte ich die Situation nicht einschätzen. Es fühlt sich so an, als hätte ich den Überblick verloren und das macht mir Angst."

Telese sieht so aus, als würde sie das verstehen, was mich überrascht. Ich habe ihr die Geschichte von Nacer und mir gestern nochmals in allen Details erzählt und sie hat danach nicht mehr so wütend ausgesehen wie als sie den Artikel zum ersten Mal gelesen hat. Ich denke, dass es ihr so geht wie mir. Es geht nicht alles auf, vor allem, wenn Nacer nur vorläufig festgenommen ist. Denn das bedeutet, dass seine Festnahme keine direkten Belege oder zumindest nicht genügend Belege hat.

Doch sie kommt nicht mehr zu Wort, als es an der Tür klingelt. Ich presse die Lippen zusammen, während sie geht und Pasquale reinlässt.

„Hey, Sisi", begrüßt er mich mit einem traurigen, angespannten Lächeln. Er umarmt mich kurz, was ich erwidere, auch wenn ich eigentlich nicht in der Stimmung bin, ihn zu umarmen. Bei Telese ist es schon schwierig gewesen, aber sie ist in den Geschehnissen mein Fels in der Brandung gewesen, weshalb ich auch nicht hinterfrage, wie sie sich verhält. Ich habe Schwierigkeiten, alle Beteiligten in dieser Geschichte einzuordnen, aber sie ist eine Konstante gewesen. Jemand, der mir hilft und mich nie anlügt. Ich weiß, dass sie nichts mit all dem zu tun hat – weder als eine Täterin noch als ein Opfer. Pasquale ist in alldem offensichtlich das Opfer.

„Hi", murmle ich und bringe ein wenig Abstand zwischen uns. Pasque tut so, als würde er es nicht bemerken, auch wenn ich mir sicher bin, dass er es tut.

„Die Polizei hat deine Wohnung heute wieder durchsucht", informiert er mich.

Unsere Wohnung", korrigiere ich ihn, worauf er mich fragend ansieht.

„Die Wohnung ist nicht meine Wohnung, sondern Nacers und meine Wohnung", führe ich den Gedanken aus, worauf Telese mich überrascht ansieht.

„Okay. Sie haben eure Wohnung durchsucht. Ich habe nicht gewusst, dass es doch ernst gemeint ist zwischen dir und ihm."

Ich zucke mit den Schultern. Ich nehme an, dass das jetzt auch keinen Unterschied mehr macht.

„Haben sie mit dir geredet?", möchte ich wissen. Pasquale schüttelt nur den Kopf. Telese bringt das Essen zu Tisch – Spaghetti All'Arrabbiata – und beginnt uns allen zu schöpfen, während sich Pasquale noch mit mir unterhält.

„Nein. Sie haben da nur nach irgendwelchen Hinweisen gesucht. Ich habe keine Ahnung, was genau ihr Ziel gewesen ist, aber ich schätze, dass das ohnehin nicht wirklich von großer Bedeutung ist."

Ich sehe ihn überrascht an.

„Meinst du das ernst? Nicht wirklich von großer Bedeutung? Das ist ein riesiger Fall, Pasquale!"

Er hebt beschwichtigend die Hände und Telese scheint mit dem Schöpflöffel einige Sekunden länger als nötig in der Luft zu verharren.

„Das ist mir bewusst, Sisi. Glaub mir. Nacer hat mein Auto beschädigt. Die Kabel, wenn man sich versteht. Ich wäre fast wegen ihm gestorben, also bin ich der Letzte, der das als einen Spaß ansieht. Ich sage bloß, dass nichts Spektakuläres zu Beobachten gewesen ist. Und glaub mir, dafür musste ich die Wohnung gar nicht verlassen, denn man kriegt bei meinen Wänden alles mit, weil es so schlecht isoliert ist. Aber ich verstehe nicht, wieso du dich so aufregst. Nacer ist offensichtlich problematisch. Gefährlich, wenn ich genau sein sollte. Er ist unberechenbar, weshalb in den letzten Tagen alles zur Katastrophe geworden ist. Du hast das am meisten von uns allen gemerkt, Sisi. Was ist denn noch notwendig, dass du verstehst, dass es keine gute Idee ist, dich jetzt noch weiter in diese Probleme hineinzureiten?"

Pasquale wirft mir einen so aufrichtigen Blick zu, dass ich gar nicht auf ihn wütend sein kann. Normalerweise mag ich es nicht, wenn mich andere Menschen belehren, aber ich kann nicht leugnen, dass er recht hat. Ich sollte die Fakten einsehen und die sprechen nicht für Nacer. Ich liebe ihn, aber ich sollte mich davon auch nicht täuschen lassen.

„Es ist einfach viel komplizierter, als ich mir das Ende aller Ermittlungen und Anschuldigungen vorgestellt habe. Es fühlt sich nicht richtig an", gestehe ich.

Ein Teil von mir würde gerne mit Nacer reden und gerne seine Seite der Geschichte hören, weil ich mich nicht auf die Worte und Geständnisse von allen anderen fokussieren sollte, weil seine die einzigen sind, welche für mich zählen sollten. Ich sollte nicht auf mein Herz hören, denn dieses ruft ganz klar nach Nacer.

„Ich weiß. Es ist nicht einfach, Dinge zu akzeptieren, wenn sie Inhalte haben, die uns nicht gefallen, Sisi", meint Pasquale in einem mitleidigen und gleichzeitig beruhigenden Tonfall. Er schenkt mir ein aufheiterndes Lächeln, aber ich kann mich nicht dazu bringen, es zu erwidern. Stattdessen sehe ich zu Telese und überlasse ihr das nächste Wort. Ich habe nämlich keine Ahnung mehr, was ich sagen sollte.

„Ich denke, dass wir versuchen sollten, den Mittag zu genießen. Wir können die Umstände für ein paar Stunden auch einfach ausblenden. Sie dreht sich weiter, auch wenn wir sie ignorieren", bringt sie mit einem gepressten Lächeln hervor. Ihr Blick sagt, dass sie diese Worte eigentlich nicht so meint, aber sie versucht es zu überspielen. Ich mustere sie fragend, was sie ignoriert. Vermutlich sehnt sie sich auch nach einem bisschen Ruhe. Ich nehme mir vor, sie später auszufragen, aber ihr jetzt das Mittagessen nicht zu verderben. Immerhin hat sie sich gekocht und ist eine wundervolle Gastgeberin und das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann.

„Telese hat recht", stimme ich ihr zu, bevor Pasquale ihr widersprechen kann. Aber auch wenn wir nicht darüber sprechen, die Situation hängt immer noch im Raum und dimmt die gute Stimmung, egal wie sehr die beiden sie auch zu überschatten versuchen.

Was geschieht wohl als nächstes mit Nacer und Sicily?

Haben euch die Kapitel gefallen?

Habt eine schöne Woche & wir lesen uns bald wieder 💓

[DOPPEL-UPDATE 2/2]

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