Kapitel 16
Wie konnte sich etwas wohlig flauschig und doch kalt wie Metall anfühlen? Wie konnte Schweiß meinen gesamten Körper benetzen und mich trotzdem vor Kälte bibbern lassen?
Meine Zähne schlugen aufeinander.
»Ah, sie ist endlich wach.«
Es war meine Muttersprache, die ich vernahm. Doch ich konnte diese Stimme niemandem zuordnen. Das Kratzen darin ließ mich vermuten, dass es eine ältere Frau war, doch meine Oma war es nicht. Außerdem war da ein Dialekt zu hören – vielleicht Schwäbisch? – der mich vollkommen durcheinanderbrachte.
»Gleich wird es wärmer, versprochen!«
In einem Moment spürte ich einen kalten Windzug um meine Beine, im nächsten war da nichts als warme Luft, die sich quälend langsam von meinen Beinen zum Rest meines zitternden Körpers hochkämpfte.
Ich versuchte, meine Augen aufzureißen, doch das gleißende Licht ließ sie mich wieder zukneifen. Ich spürte eine Hand auf meiner, die sich kalt, aber keineswegs unangenehm anfühlte.
»Lass dir Zeit, Schätzchen. Du hast alle Zeit der Welt.«
Ein stechender Schmerz durchfuhr meine Schädeldecke. Ich stöhnte. Die Berührung auf meiner Hand verschwand und wurde ersetzt durch das Wegstreichen einiger Haarsträhnen. Ich blinzelte erneut, kniff aber wieder meine Augen zusammen.
»Licht.« Das Krächzen, das aus meinem Mund kam, hörte sich an, als wäre ich zwanzig Jahre lang Kettenraucherin gewesen.
»Aber natürlich. Wie konnte ich nicht daran denken?«
Ich vernahm schnelle Schritte, die sich von mir entfernten, und kurze Zeit später wieder zurückkehrten.
»Jetzt sollte es angenehmer sein.«
Als ich dieses Mal die Augenlider aufschlug, war das Licht angenehm gedimmt und beleuchtete schwach ein mütterlich lächelndes Gesicht, welches ich sofort erkannte. Margarete. Als ich mich aufsetzen wollte, drückte sie mich sanft zurück.
»Langsam, meine Liebe. Ganz langsam.«
Ich verdrehte die Augen. Auch wenn mir diese Bewegung ein weiteres Stechen im Schädel einbrachte, spürte ich in meinem Inneren, dass ich so schnell wie möglich aufstehen und mich entschuldigen musste.
»Wo ist Suz? Ich muss dringend mit ihr reden.«
Der Druck von Margaretes Händen auf meinen Schultern erhöhte sich, als ich mich erneut aufsetzen wollte.
»Deinen Freunden geht es wunderbar. Um sie brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
Mein Herz setzte einen Schlag aus.
»Sind sie ...? Hat es ...?«
Margarete nickte. Ihr Lächeln wurde noch strahlender. »Ich muss zugeben, dass das der interessanteste Heiratsantrag war, dem ich beiwohnen durfte, aber solange es zwei Liebende zueinander führt? Wer bin ich schon, um darüber zu richten?« Sie kicherte und ich spürte, wie die Anspannung allmählich aus meinem Körper schwand.
Ich wandte meinen Kopf zur Seite, nur um einen Tropf zu erblicken, dessen Kabel geradewegs unter meiner weißen Decke verschwand. Jetzt erst spürte ich den Druck in meiner Armbeuge, der durch die Infusion herrührte. Ich sah zu Margerete.
»Wo-wo bin ich? Und warum bin ich hier?«
»So oft wie du hier warst, müsstest du diesen Ort dein Zuhause nennen.« Margaretes Lachen klang echt, doch ihre Augen erreichte es nicht. Ihre Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. »Du bist auf der Krankenstation, Liebes.«
Ich wartete auf eine Erklärung – auf eine Begründung – doch sie kam nicht.
»Warum bin ich hier, Margarete?«
»Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst?«
»Suz' aufgebrachtes und irgendwie auch besorgtes Gesicht.« Meine Augen verengten sich. »Ich bin wieder ohnmächtig geworden, oder?«
Margarete nickte. Die Stille, die danach einsetzte, fühlte sich keineswegs angenehm an. Mit einem Mal wurde mir übel. Margarete verlor keine Zeit und reichte mir eine silberne Schüssel. Magensäure kämpfte sich durch meine Speiseröhre und brachte mich schließlich zum Speien.
»Warum passiert mir das ständig?«, murmelte ich, nachdem Margarete die Schüssel an sich genommen hatte. Doch anstatt mir eine Antwort zu geben, erhob sie sich. Meine Hand griff nach ihrem Handgelenk.
»Wo gehst du hin?«
»Ich bringe das hier weg.« Sie deutete auf die Schüssel. »Dann werden wir reden, versprochen. Du bleibst so lange im Bett!«
Ihr Blick war plötzlich so ernst, dass ich nur schlucken und nicken konnte. Ich beobachtete Margarete dabei, wie sie zur Tür ging und sie hinter sich schloss. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt und die alles umhüllende Stille machte es keineswegs besser. Zum ersten Mal nahm ich die Umgebung wirklich wahr. Ich selbst lag auf einem Krankenhausbett. Unter der Decke verschwand ein dickes, graues Rohr, welches wohl die Quelle des immerwährenden Stroms warmer Luft sein musste. Das Zimmer war vollends mit weißen Fliesen verkleidet. Überall befanden sich unterschiedlichste, medizinische Apparaturen, die das Unwohlsein in mir ins Unermessliche beförderten. Mein Blick blieb auf der Bettfernbedienung haften, die in Reichweite war. Gerade als ich den Knopf für das Aufstellen der oberen Hälfte der Matratze betätigte, kam Margarete wieder ins Zimmer.
»Ich habe deinem Besuch gesagt, dass du wieder wach bist und es dir gut geht.«
Ich runzelte die Stirn.
»Meinem Besuch?«
»Deine Großeltern und Freunde haben stundenlang vor der Tür verbracht, weil sie sich Sorgen gemacht haben.«
Ich richtete mich ein wenig mehr auf.
»Du kannst sie gerne hereinkommen lassen.«
Doch Margarete schüttelte den Kopf.
»Du wolltest doch wissen, was der Grund für dein ständiges Unwohlsein ist, nicht wahr?«
Meine Augen weiteten sich und mein Bauch krampfte sich zusammen.
»Wie schlimm ist es?«
Einen winzigen Augenblick wirkte Margarete geschockt, ehe sie mir ein herzliches Lächeln schenkte.
»Du meine Güte! Ich bin solch ein Dussel.« Ihre Hand legte sich auf meine. »Es ist nichts Schlimmes. Nur bin ich der Meinung, dass du als Erste von deinem glücklichen Umstand erfahren solltest.«
Ich schluckte.
»Was denn für ein glücklicher Umstand?«
Margaretes Hand wanderte von meiner Hand zu meinem Bauch. Ich runzelte die Stirn, blickte von meinem Bauch zu einer grinsenden Margarete.
»Um Himmels Willen! Margarete, würdest du bitte aufhören, mich auf die Folter zu spannen und mit der Sprache rausrücken?«
Ihr Lächeln wurde etwas unsicherer, bis sich plötzlich Verständnis in ihren Blick mischte.
»Aber natürlich! Nach allem, was du durchgestanden hast, müssen für dich die Signale nicht eindeutig genug sein.«
Sie blickte zu meinem Bauch.
»Du bist schwanger, meine Liebe.«
Ich erstarrte, atmete nicht. Selbst meine Gedanken schienen wie gelähmt. Ein lautes Lachen hallte durch den Raum. Ich brauchte einige Augenblicke, um zu realisieren, dass es mein eigenes Lachen war.
»Ich hätte dir nicht zugetraut, dass du so ein Scherzkeks bist, Margarete«, presste ich zwischen Gelächter hervor.
Margaretes Stirn legte sich in Falten, doch sie blieb stumm.
Erst als mein Bauch anfing zu krampfen, ebbte mein Lachen wieder ab. Margarete seufzte.
»Es wird sicherlich etwas Zeit brauchen, bis du diese Neuigkeit verdaut hast, aber ich verspreche dir, die Muttergefühle kommen von ganz–«
»Stopp, Stopp, Stopp, Stopp, Stopp!« Ich nahm Margeretes Hand von meinem Bauch. »Langsam ist das nicht mehr lustig.«
Ich starrte Margarete an. Wartete darauf, dass sie mir irgendwie kenntlich machte, dass sie mir einen bösen Streich gespielt hatte. Doch ihr Blick blieb warmherzig.
»Deine Blutwerte waren eindeutig.« Sie nahm meine Hand zwischen ihre und drückte zu. »So etwas kann passieren. Manchmal wirkt die Verhütung nicht oder man vergisst es im Eifer des Gefechts. Aber, glaube mir, das ist überhaupt nichts Schlimmes!«
Ich entriss Margarete meine Hand.
»Ich habe keine Ahnung, von wem du die Blutwerte analysiert hast, aber meine sind es ganz sicherlich nicht!« Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Denn soweit ich weiß, muss man, um schwanger zu werden, Sex haben. Und den hatte ich ganz sicher nicht! Ich bin noch Jungfrau, verdammt!«
Margaretes Lächeln erstarb. Ich konnte förmlich beobachten, wie jegliche Freude aus ihrem Gesicht wich und Entsetzen Platz machte. Mein Herz blieb einige Momente stehen.
»Das ist nicht möglich. Das kann nicht sein. Wie? Wann?«
Mein Atem kam immer stockender, immer schneller. Doch die Luft war nicht ausreichend. Ich brauchte immer mehr Luft, doch es war nie genug.
»Cassandra, beruhige dich. Hör mir zu. Langsam einatmen. Langsam wieder ausatmen.«
Ich versuchte, ihrer Stimme zu gehorchen, doch meine Lungen lechzten immerwährend nach Luft. Irgendwann erschien eine Art Beutel mit Aufsatz vor meinem Gesicht und landete schließlich auf meinem Mund.
»Einfach weiteratmen.«
Etwas strich rhythmisch über mein Haar.
»So ist es gut. Schön weiteratmen.«
Langsam aber stetig beruhigte sich mein Atem. Doch das Gedankenkarussell, bestehend aus zigtausend unzusammenhängenden Fetzen, hörte nicht auf, sich zu drehen.
Wann?
Wie?
Wer?
Und wo?
Nichts ergab einen Sinn.
Der Plastikbeutel verschwand aus meinem Gesicht, während das beruhigende Streichen über meinen Kopf andauerte.
»Wir werden das Rätsel gemeinsam lösen. Schritt für Schritt. In Ordnung?«
Ich spürte, wie mein Kopf ein Nicken mimte. In Wahrheit sehnte sich jede Zelle meines Körpers nach Stille, Ruhe und Unwissenheit, denn jeder weitere Enthüllungsschritt würde ES nur realer machen.
Margarete räusperte sich.
»Ist es für dich in Ordnung, wenn ich einen Arzt dazuhole? Denn ich bin lediglich–«
Ich riss meine Augen auf und griff nach Margaretes Arm.
»Nein!« Meine Sicht verschwamm. »Bitte nicht.«
Ein schmerzverzerrter Ausdruck mischte sich in Margaretes Gesicht. Ihre Hand, die zuvor noch über mein Haar gestrichen hatte, legte sich um meine verkrampften Finger.
»Okay. Ich bleibe hier. Wir werden das zusammen durchstehen.«
Sie nickte unablässig, bis ich meine Finger von ihrem Unterarm löste. Dann strich sich Margarete ihre Haare hinter die Ohren und atmete laut hörbar aus.
»Cassandra, ich würde gerne einen Ultraschall von deinem Bauch machen, in Ordnung?«
»Einen Ultraschall?« Ich schluckte. »Ich weiß nicht.«
Dann schüttelte ich den Kopf.
»Nein. Ich will es nicht sehen. Ich will einfach nur, dass es vorbei ist.« Wieder krallten sich meine Finger um Margaretes Arm. »Kannst du machen, dass es vorbei ist?«
Margaretes Lippen verzogen sich zu einem Strich. Sie schloss ihre Augen und schüttelte langsam den Kopf.
»Cassandra, du musst jetzt tapfer sein, verstehst du? Und ich kann dir nur helfen, wenn ich mehr Informationen habe.«
Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel und ein Schluchzer entrang meiner Kehle. Margarete löste indes meine Finger von ihrem Arm und rang sich ein mitfühlendes Lächeln ab.
»Wenn du möchtest, werde ich den Bildschirm wegdrehen, sodass du nichts sehen kannst. Würde dir das so mehr zusagen?«
Anscheinend musste ich irgendeine Art von Zustimmung gegeben haben, denn Margarete setzte sich in Bewegung. Ich war mir indes sicher, dass sich meine Seele von meinem Körper verabschiedet hatte. Weder Gedanken noch Gefühle wollten sich formen, als ich Margerete dabei beobachtete, wie sie eines der medizinischen Geräte zu mir schob, es einschaltete, meinen Bauch freilegte und das Gel auf den Ultraschallkopf auftrug.
»Das könnte zu Beginn etwas kalt sein.«
Als Antwort legte ich meinen Kopf auf die entgegengesetzte Seite. Weder wollte ich dabei zusehen, wie die Sonde über meinen Bauch glitt, noch welche Ausdrücke über Margaretes Gesicht huschten. Ich spürte die Kälte auf meinem Bauch und schluckte. Während der gesamten Prozedur schaffte ich es, ruhig zu bleiben. Einzig die Tränen, die unablässig über meine Wangen glitten und das Kissen benetzten, blieben mein steter Begleiter.
Der Ultraschallkopf hielt inne.
Margarete räusperte sich.
»Wie schlimm ist es?«, hörte ich mich fragen.
Margarete ließ einige, unerträglich lange Sekunden verstreichen, ehe sie zu einer Antwort ansetzte.
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll.«
Ich stieß die Luft laut hörbar aus.
»Also ist es wahr.«
Margaretes Schweigen war Antwort genug.
»Ist ein medikamentöser Abbruch noch möglich?«
Als Margarete dieses Mal schwieg, war das letzte Fünkchen Hoffnung, das irgendwo in meinem Inneren geschlummert hatte, dahin.
»Bist du dir sicher, dass du dir nicht selbst ein Bild machen möchtest? Es ist ... «
Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, meinen Kopf in Margaretes Richtung zu wenden. Vielleicht war es das Lächeln, das ich in ihren Worten vernahm. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass ein Zurück nicht mehr möglich war. Ich nickte Margarete zu, was sie zum Anlass nahm, den Bildschirm des Ultraschallgerätes in meine Richtung zu drehen.
Ich ließ das schwarzweiße Bild auf mich wirken. Durch die stetige Bewegung meines Bauches war es immer in Bewegung und doch war es unverkennbar. Mein Mund stand offen. Selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre ich nicht in der Lage gewesen, es laut auszusprechen. Das Sprechen übernahm Margarete für mich.
»Es sind Zwillinge.«
Da waren sie. Zwei weiße, menschenähnliche Formen in zwei schwarzen Blasen.
»Siehst du die Wand dazwischen?« Margarete zeigte auf den weißen Teil zwischen den zwei schwarzen Flecken. »Es sind zweieiige Zwillinge.«
Dann zeigten ihre Finger auf eine der Kreaturen.
»So wie ich das sehe, bist du irgendwo zwischen dem ersten und zweiten Trimester. Aber ich bin nur Köchin und Krankenschwester, keine Gynäkologin.«
Dann bewegte sich der Ultraschallkopf auf meinem Bauch und das Bild änderte sich. Margarete zeigte auf einen schwarzen Punkt inmitten einer der weißen Formen.
»Und das? Das ist der Herzschlag.«
Der schwarze Punkt bewegte sich gleichmäßig und schnell. Es war so, als ob ich das Pochen gleichzeitig spüren und hören konnte. Womöglich war es auch nur mein Herz, dass so laut und schnell schlug, dass das ganze Zimmer um mich herum zu vibrieren schien.
Ich schloss meine Augen. Ich hatte genug gesehen. Der Druck von meinem Bauch verschwand.
»Wie fühlst du dich, Liebes?«
Wie ich mich fühle?
»Wie die heilige Jungfrau Maria.«
Margarete lachte nicht. Stattdessen spürte ich, wie ihre Hand die meinige drückte.
»Du bist sehr tapfer, weißt du das?«
Tapfer? Ich habe das Gefühl, dass ich jede Sekunde zusammenbrechen werde.
Doch bevor ich mir gestattete, komplett die Fassung zu verlieren, brannte mir eine letzte Frage auf der Zunge.
»Wann wurden sie gezeugt?«
»Das kann ich dir nicht genau sagen. Aber vor drei Monaten scheint mir ein guter Richtwert zu sein.«
Vor drei Monaten.
Vor Norwegen.
Vor der Jahreszeremonie.
Als sich das Bild von Michails grinsendem Gesicht vor meinem inneren Auge auftat und ich seine giftigen Worte, ich würde mein gesamtes Leben lang - jeden einzelnen Tag - an ihn denken, in meinem Kopf hörte, wurde mir speiübel.
Hallihallo zusammen 🧡
Mir fiel es unfassbar schwer, dieses Kapitel zu schreiben. Ich habe mehrere Stunden gebraucht, um mich in diese Situation einzufinden und endlich zu tippen zu beginnen. Jedenfalls hoffe ich, dass ich Cassies Gefühl im genau richtigen Maß herüberbringen konnte und dass ihr selbst nicht zu traumatisiert seid.
Ich habe es als notwendig erachtet, dieses Kapitel hier beenden zu lassen und den Rest in das Nächste zu packen. Der Plan war eigentlich ein anderer, aber ich wollte dieser Szene den nötigen Raum geben. Jedenfalls sind wir jetzt bei der Mitte des dritten Bandes angekommen.
Was meint ihr? Wie wird es jetzt mit dieser neuen Situation weitergehen? Lasst es mich gerne wissen.
Ich wünsche euch eine gute Nacht 🥰
Kat 🧡
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