9- Ein Stein rollt weg
Heute ist ein Tag, der ein Abbild vom gestrigen ist und der morgige wird sich auch diesem angleichen. Wie deprimierend es doch ist, in einer endlosen Schleife gefangen zu sein und nicht ausbrechen zu können. Leere Tage und Nächte; so viele, dass ich schon lange mit dem Zählen aufgehört habe.
Zeit ist etwas, dass ich nur halb akzeptieren kann und umso mehr ertragen muss.
Über die Wochen hinweg habe ich nach einer Erklärung von Schmerz gesucht, denn der Versuch mich selbst zu verstehen, wuchs stets mehr in die Verzweiflung. Genau ein Mal habe ich das Haus verlassen und bin in der Bibliothek von Wörterbuch zu Wörterbuch gewandert und habe diesen Begriff nachgeschlagen.
Schmerz. Er wird beschrieben als ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden physikalischen Schädigung verknüpft sein kann.
Bisher hat diese Definition nicht gereicht, sodass die Verzweiflung drängender wird, bis sie ins Unermessliche gewachsen ist.
Wie soll ich etwas verstehen, das definitiv immer da, aber nie sichtbar zu erkennen ist? Die Art von Schmerz, die keinen physische Ursache hat. Wer kann mir nun sagen, wohin das Pflaster geklebt werden muss? Ich blute. Schon so lange blute ich nun, ohne wirklich zu bluten.
In der Definition wird es als unangenehm bezeichnet. Dieses Gefühl klingt ertragbar. Gibt es eine andere Begrifflichkeit dafür, wenn dieses etwas in mir nicht mehr zu ertragen ist? Unerträglich. Ich habe bisher keins gefunden. Nur das Wort Schmerz.
Ich atme tief ein. Meine Lungen füllen sich mit Luft, das Blut zirkuliert in Venen und Arterien, meine Sinne sind scharf. Alles wie gewohnt. Doch der Schmerz ist auch präsent, ich will, dass er endet. Etwas stimmt nicht mit mir. Ich verstehe nicht.
,,Weißt du was?!" Ich liege auf meinem Bett und er sitzt neben mir.
,,Ich hab mir einen Traumfänger auf Bauch und Arm gemalt."
,,Gute Idee." Liam lächelt.
,,Ich habe ein wenig geschlafen." Lüge.
,,Das ist wirklich schön." Vermutlich weiß er, dass ich nicht die Wahrheit sage. Und warum ich das tue, kann ich nicht einmal selbst beantworten. Es ist ein Reflex. Zudem ist es schwierig so etwas auszusprechen. Wenn die Worte und Tatsachen unausgesprochen in mir bleiben, werden sie in der Realität vielleicht etwas weniger real und weniger tatsächlich.
,,Und guck mal! Da, dieses Buch neben dem Bett habe ich gelesen. Sehr interessant." Lüge. An dem Tag vor ein paar Wochen habe ich aufgehört mit Atmen und halte seitdem die Luft an. Wie soll ich jemandem meinem blau angelaufene Welt erklären, wenn er nur bunt sieht?
Er greift nach dem Buch, blättert drin herum, liest den ersten und letzten Satz.
Ich spreche weitere Lügen aus, kann den Fluss nicht stoppen und wünsche mir diese Worte wären wahr.
,,Irgendwie geht es mir jetzt viel besser." Danke. Danke, dass du nie etwas so hinnimmst und hinterfragst. Vor allem danke, dass du misstrauisch die Datenbank der registrierten Ärzte im Umkreis aufgesucht hast. Die Hilfe, die du geholt hast, nachdem Gilbert nicht auffindbar war im Computer deines Vaters, hat mir den Hintern gerettet. Ich kann an nichts anderes denken und lediglich stumm flehen, danken und schreien. Ich lebe stumm und sterbe laut.
,,Ich weiß. Es ist die Zeit, sie hilft." Doch sein Blick zeigt deutlich, dass er das genaue Gegenteil weiß; die Wahrheit.
,,Ich war am überlegen, etwas Neues auszuprobieren. Veränderung. Es würde gut tun?", spreche ich es mehr wie eine Frage statt Aussage aus.
Er nickt. Lächelnd. Egal, wie viel du lächelst, es wird nicht für zwei Personen ausreichen, würde ich am liebsten schreien. Aber stattdessen reiße ich die Schublade auf und hole eine Schere hervor. Er runzelt die Stirn.
Wo auch immer die Quelle meines plötzlichen Muts und Entschlossenheit liegt, ich hoffe sie bleibt bestehen.
Wortlos eile ich ins Bad. Ich ersticke,
sehne mich nach dem verdammten Gefühl von Leichtigkeit.
Der Blick in den Spiegel ist unangenehm, aber unvermeidbar. Ich starre und starre, bis ich alles wahrgenommen habe, was wahrzunehmen ist. Nichtsdestotrotz ist da so viel mehr, das ich nicht einfangen kann.
Ich nehme die erste lange Strähne in die Hand, konzentriere mich nur auf sie und versuche, den Rest auszublenden. Ich weiß, weder wie noch was ich schneiden will, nur dass ich es muss. Weniger ersticken, weniger Last tragen.
Dann schnappt die Schere zu, etliche male, planlos von A bis Z und Z bis A, aber stets sich von unten nach oben bewegend. Chaos. Katastrophe. Desaster. Schöne Wörter sind das. Sie sind mein Leben, das allerdings nicht so schön ist. Es geht um den Klang dieser Buchstaben.
Es ist befreiend. Ich trenne mich von etwas, das ein Teil von mir ist. Ich schließe die Augen, um sie kurz darauf wieder zu öffnen und fühle, wie die Leichtigkeit sich mir nähert oder umgekehrt ich mich ihr annähere. Die Erleichterung breitet sich aus und nimmt dem schweren Stein in meinem Magen jeglichen Platz weg.
Ein Klopfen. Ich muss verrückt aussehen, als ich wie wild weitermache. Aber er stellt sich hinter mir. Seine Atemzüge sind zu hören und die Körperwärme zu spüren, so dicht stehen wir. Im Spiegel kann ich ihn sogar lächeln sehen. Ich liebe die Stille zwischen uns, wir brauchen sie nicht mit Worten füllen, um zu kommunizieren.
Er nimmt mir die Schere aus der Hand und ich lasse es zu. Mit den Fingern fährt er durch das Chaos/ die Katastrophe/ das Desaster auf meinem Kopf. Er räumt auf und verwandelt es in Ordnung. Ich wünschte, er könnte das auch mit meinem Kopf machen. Einfach all das Schlechte wegfegen.
Auf dem Boden sammeln sich Stücke der Vergangenheit an. Immer mehr Strähnen wandern hinab.
Liam krempelt die Ärmel hoch. Ich folge seinen geschickten Bewegungen im Spiegel. Schön. Das fällt mir ein, wenn ich ihn so ansehe. Seine himbeerroten Lippen sind leicht geöffnet und die kastanienbraunen Haare fallen ihm ins Gesicht. Seine grünen Augen haften an mir. Ich verstehe nicht, warum er noch hier ist. Die letzten Wochen waren mehr als schwer und seitdem er mich kennt, hat er eine Last mehr zu tragen. Ich weiß nicht, was das zwischen uns ist. Es ist verwunderlich. Aber umso mehr frage ich mich, wann wir beschlossen haben, uns gegenseitig zu vertrauen. So merkwürdig das alles ist, es lässt sich nicht in Worte fassen.
Mein Augen wandern runter zu seinem Oberkörper. Welch ein Klischee! In den Geschichten und Filmen ist der Kerl immer viel größer als das linkische Mädchen. Wir entsprechen einem Klischee.
Ich verdrehe die Augen. Wie lächerlich ich bin, Liam und mich mit Geschichten zu vergleichen. Das sind wir nicht- nur die verkorkste Realität.
Ich versuche woanders hinzugucken, was schwer ist, wenn der Spiegel sich genau vor der Nase befindet.
Das kann nicht echt sein! Ich kneife die Augen zu, versuche genauer hinzusehen. Instinktiv greife ich mir an die eigenen Oberschenkel und versuche ruhig einzuatmen. Die altbekannte Hitze übermannt mich und ich hab das Gefühl, seinen Herzschlag hinter mir zu spüren, dabei ist es nur mein eigener.
Eine helle, dicke Narbe ziert seinen linken Arm länglich. Weitere kleinere Narben bedecken seine Haut wie eine Leinwand.
Ich zwinge mich dazu, den Blick von seinem Unterarm zu reißen und schaue zum Gesicht.
Er hat nichts mitbekommen von der Reaktion.
Wie viel weiß ich eigentlich über ihn? Niemals hätte ich ihn für so einen Menschen gehalten. Trägt er deswegen nur Langärmliges und besucht die Selbsthilfegruppe?
Wie ein Schlag trifft es mich. Ich muss ihn mit runtergezogen haben! War ich so sehr auf mich selbst fokussiert, dass ich nichts bemerkt habe? Hat er Probleme von denen er mir nichts erzählt?
Auf einmal sehe ich die dunklen Ringe unter seinen Augen und seine Trägheit. Wann hab ich zuletzt sein Lachen gehört? Er lacht, aber es klingt definitiv zurückhaltender als sonst. Aber auf jeden Fall erkennt man, dass die Narben alt sind, ich schlucke bitter. Sein Ärmel offenbart nur einen kleinen Teil- was sich da wohl noch versteckt?
Endlich durchbreche ich die Stille. ,,Wie kommt es, dass du mehr über mich Bescheid weißt als ich über dich? Ich meine, wir sind doch sowas wie Freunde, oder?" Oh Hölle, ich hab Freunde, realisiere ich.
,,Klar sind wir das", schmunzelt er, ,,So...fast fertig."
,,Darf ich dich paar Sachen fragen, Dinge, die man einfach weiß über Freunde."
,,Jap, Vie."
,,Gut, beginnen wir mit der Standardfrage: Wie geht's dir? Und wehe du kommst mir mit der Standardantwort Gut."
,,Aber es geht mir wirklich gut", zuckt er lächelnd mit den Schultern.
,,Wirklich?"
,,Wirklich", bekräftigt er.
,,Warum hast du dir eine Pause vom Studieren genommen?", fällt es mir plötzlich ein.
,,Familie." Eine verdächtig knappe Antwort. An seinem Stirnrunzeln merkt man, dass er nicht drüber reden will. Er weicht meinen Augen im Spiegel aus. Verständlich.
,,So, mein Werk ist endlich vollendet!" Ich lasse den Themenwechsel zu.
Direkt presse ich die Augenlider zu. Die Sache hat mich so abgelenkt, dass ich meine Haare nicht mehr beachtet habe.
Was wäre, wenn es nun schlimmer als zuvor aussieht? Dieses impulsive Verhalten hat noch keinen weit gebracht, ich dummes Ding. Ausgerechnet jetzt offenbart sich die Angst.
,,Hey, mach die Augen auf!"
,,Ich trau mich nicht", nuschel ich durch den Händen, die mein Gesicht decken.
,,Mach sie auf, dann würdest du sehen, wie wunder-toll du aussiehst."
,,Ach, willst du mir schöne Augen machen?", versuche ich die Nervosität mit Witzen zu unterdrücken.
,,Nicht nötig. Die hast du schon...also schöne Augen", grinst er. Zumindest glaube ich, dass er grinst.
,,Oh, wow", pruste ich los und wage es endlich hinzusehen.
Überraschenderweise ekel ich mich nicht vor dem Mädchen, welches da abgebildet wird. Sie trägt ihre braunen Haare nun schulterlang. Sie scheint lockerer zu sein und starrt einfach nur geradeaus. Nirgendswo sind die Sorgen zu erkennen. Nur die dunklen Augenringe der schlaflosen Tage und Nächte sind erkennbar. Sie ist ausreichend in dem Moment.
Er hat es sogar geschafft, die Unordnung zu bändigen, die ich am Anfang verursacht habe. Das befreiende Gefühl ist noch da, weitere Sekunden vergehen und der Stein ist nicht zurückgerollt.
,,Violet? Wie findest du es?"
,, Danke. Wirklich. Du bist schön", rutscht es raus. Das Lächeln ist nicht zurückzuhalten. Schön bezeichnet all die Eigenschaften, die ihn verkörpern, die Liam zu Liam machen.
,,Nicht der Rede wert." Verlegen fährt er sich durch die Haare und scheint jetzt seine Ärmel zu bemerken. Augenblicklich zieht er sie runter.
Ich schaue weg, tue so, als hätte ich nichts bemerkt. Mir brennen viele Fragen auf der Zunge, aber möchte ihn nicht bedrängen. Wenn er drüber reden will, wird er es doch, oder? Ich hoffe inständig drauf.
Wir verlassen nach einer gefühlten Ewigkeit das Bad und er legt sich wieder auf das Bett.
,,Wohnst du hier eigentlich alleine?"
,,Mein Vater auch noch."
,,Und wo ist der?" Trotz der unzähligen Male, die er hier war, hat er ihn bisher noch gar nicht zu Gesicht bekommen. Zum Glück.
,,Auf jeden Fall nicht hier", weiche ich der Frage aus und gehe zu meinem Kleiderschrank. Wie immer fällt mein Blick zu dem weißen Spitzenkleid, das ich vor Jahren zu Mutters Beerdigung getragen habe. Wenn sie mich damals immer ihren Engel nannte, konnte ich doch unmöglich in schwarz auftauchen.
,,Welchen Wochentag haben wir?", frage ich Liam und studiere den Inhalt meines Schrankes. Die Veränderung tat gut, sie hat mir etwas Kraft verliehen. Ich bin mir nicht sicher, ob diese plötzliche Stimmungsschwankung wirklich damit etwas zu tun hat oder mein Kopf sich das einredet.
,,Donnerstag, warum?"
Ich drehe mich zu ihm um. Die folgenden Worte erstaunen mich selbst mehr als ihn.
,,Lass uns zur Selbsthilfe gehen."
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Heeey, Freunde der (lesenden) Sonne :')
Endlich ein weiteres Kapitel! Bin genauso überrascht wie ihr, aber habe endlich eine weitere Idee bezüglich des Verlaufs.
Schule ist ziemlich anstrengend und gibt mir echt krasse anxiety, aber da muss man wohl durch... Und wie geht es euch so? Alles Fit im Schritt😂😂
Hab gerne ein freies Ohr für euch, schreibt mir einfach (:
Übrigens wie findet ihr das Kapitel? Habt ihr den Wink mit dem Kleid in Violets Schrank bemerkt? Halluzination... die Sache mit Gilbert...ihre Oberschenkel... Narben...Blut.
:D
Bis dann, mes amis
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