7- Ich sehe etwas, was du nicht siehst

Angenommen, der Mensch hat die Fähigkeit, die Freude mit den Fingerspitzen zu fassen und über alle wie Schnee fallen zu lassen.
Es ist nicht von Bedeutung, wen es erreicht; sie verschmilzt mit uns und um uns.
Kann ein freudloser Mensch austeilen?

,,Sie glauben wirklich, die Welt wird zu einem besseren Ort, sobald Sie sich besser fühlen? Und das erreichen Sie nur, indem Sie Idealen nacheifern?", fragt Dr. John Gilbert in kritischem Tonfall. Seine Hände ruhen vor ihm auf dem Tisch. Ich sitze in derselben Position auf dem Stuhl, stelle ich überrascht fest.

Soll ich der Zunge meines Vaters glauben, so sind die Menschen schon seither ausgetrocknet. Noch nie hat er sonderlich viel von sich gegeben und schon gar nicht Gescheites. Allerdings ist er dem hinsichtlich sehr einleuchtend gewesen. Auch wenn er sich dabei volltrunken kaum auf den Beinen halten konnte. Der Mensch hat vor langer Zeit verlernt, was Menschsein bedeutet. Aber meinen Tränen gewähre ich, wie Regen über die Welt zu fallen. Nicht von Leid geprägt, jedoch von erleuchtender Erkenntnis. Frieden.

,,Ich hab absichtlich viel Wasser getrunken. So kann ich mehr weinen." Mein Regen soll wieder in mich sickern nach einer langen Reise. Auf das Hoffen nach innerem Frieden. Dass es mein allseits gesuchtes 'besseres Gefühl' mit sich bringt.

,,Sie haben einen sonderbaren Humor."

,,Ich mache keine Scherze." Lüge.

Er sagt, ich habe seine vorherige Frage übersprungen. ,,Ich habe keine Antwort parat, Doktor."

Sein Blick haftet an mir. Als könne er jede Bewegung und jeden einzelnen Gedanken in sich aufsaugen.

Ob er bemerkt, wie mein Bein hin und her wippt? Unbehagen.

Vermutlich versucht er, durch mich hindurchzusehen. Der Versuch weiter tief in mein Inneres zu blicken und mehr zu erfassen, als es eigentlich zu bieten hat. Letztendlich muss er objektiv über mein Vorhaben urteilen. Wie erschütternd, dass Objektivität nicht existiert. Wie erschütternd, dass die Mehrheit des Subjektiven klare Grenzen angibt, wo das Richtige endet und das Falsche beginnt. Ein selbst erbautes Konstrukt innerhalb dieser Gesellschaft. Definitiv ein unausgesprochenes Gesetz.

,,Der springende Punkt ist, ich bin mir sicher, dass ich das will und dass es richtig ist. Dafür bin ich hier!"

Bin ich das wirklich- sobald ich mich bereit fühle, alles in die Welt hinaus zu schreien, muss ich es sein, oder? Aus den Tiefen meiner Kehle.

Blut tropft auf den Tisch. Langsam. Schnell. Langsamer. Schneller. Rinnend verlässt es meinen Mund und folgt dem Kinn, Hals und Brustkorb hinab. Färbt jeden einzelnen Finger in dem roten Farbreiz. Ist es das Blut der Ungewissheit und Zweifel, das es so warm und klumpig an mir klebt? Es staut sich an. Ich kriege den Mund nicht mehr auf- ersticke- lechze nach Luft.

Zitternd wage ich es, an den Hals zu fassen, über die Lippen zu fahren. Ich schmecke, rieche nichts. Da ist nichts. Kein Blut.

Zweige scharren über die Gitterfenster. Die letzten Blätter des glühend roten Herbstes rascheln und zischen im pfeifenden Windzug. Kälte wird ins Haus gegrüßt und wirbelt den weißen Vorhang auf. Ein Kleidungsstück flattert in den Fängen eines Astes am Straßenende.

Ächzend erhebt sich Dr. John Gilbert , um das Fenster mit einem Ruck zu schließen. Stille. Der Vorhang schlägt nicht weiter gegen Wand und Glas, Äste wiegen sich nicht mehr weinend und der Ruf der Krähen kann nicht mehr erhört werden. Alles verebbt. Im nächsten Augenblick ist sein rasselnder Atem so unglaublich laut. Als würde er seine alten Lippen an mein Ohr pressen.

Er hinterlässt ein Knarren in den hölzernen Dielen, während er sein linkes Bein hinter sich schleift. Mit ineinander gefalteten Händen sitzt er wieder am Tisch und führt das Starren fort. Für gewöhnlich sind die meisten Ärzte viel gesprächiger.

Ein nasser Wischlappen trieft von Wasser. Das Ganze, diese Stunde trieft nur von Skurrilität und ausgesprochen Surrealem, das nicht aufzuhören scheint und stetig nur zunimmt. Es muss ein Traum sein! Es fühlt sich einfach mehr nach einem Traum an als der Realität. Und um den Willen der Wahrheit, ich weiß nicht recht, was mir lieber wäre.

Bekanntlich setzt sich das Leben zusammen aus einer unabsehbar langen Kette an lebenden Bildern. Im Gesamtbild der Sterne steht geschrieben, für alle sichtbar in der Dunkelheit, dass irgendwann aus Eigenwillen diese filmartige Kette abrupt angehalten wird.

Die Frage, wie es zu diesem angehaltenen Bild kommen konnte, wie es sich kurzerhand so weit zu diesem einen Ereignis zutragen konnte, lässt einen nicht mehr los. Antworten werden in Gedankengängen, vergangenen Entscheidungen und Geschehnissen gesucht. Bild für Bild. In diesen muss doch die Ursache der Gegenwart liegen, wenn alles eine Wirkung hat, nicht wahr? Die Frage nach dem Auslöser widme ich Miles. Wo bist du, Miles, wo bist?

Die tänzelnde Kerzenflamme wirft hoch flackernde Schatten an die gelblichen Wände. Ich ziehe das Glas mit der Kerze an mich heran und umschließe es mit beiden Hände.

,,Sie sagen nichts."

,,Sie auch nicht."

,,Aber Sie sind der Arzt."

,,Ich beobachte Sie, Violet. Das kann Einiges aussagen. Informationen liegen nicht nur im Gesagten, da ist weit mehr." Die Hitze ist wohltuend, ich schließe die Augen. Der Schmerz pulsiert auf meiner Handfläche und zieht sich durch das Fleisch. Wenn ich nur lang genug warte, wird die Wärme bestimmt mein Inneres erreichen.

Ich kneife die Augen fester zu. Nach Gefühl richtet sich meine rechte Hand über das Glas, ohne der Flamme zu nahe zu kommen. Vorsichtig wandert mein Zeigefinger in das Glas und streicht über die nach wie vor festen Stellen des Wachs, warm und weich. Er versinkt in die Flüssigkeit, ehe ich darüber nachdenken kann. Ich zucke zusammen, grabe den Nagel tiefer in die schmierige Masse. Das Pulsieren geht über in einen um sich schlagenden Schmerz, stechend.

Mit zusammengebissenen Zähne hebe ich den Blick und nehme erst jetzt seinen irritierten Ausdruck wahr. Beide Augenbrauen hochgezogen und ein offenstehender Mund. Ich ziehe schlagartig die Hand zurück und lehne mich räuspernd zurück.

,,Haben Sie je darüber nachgedacht, ob Schönheit wirklich ein Ideal ist? Vielleicht mehr ein Kampf. Die Ohnmacht gefällt niemandem, keinem einzelnen Menschen. Das ist deren Natur." Er neigt den Kopf schräg. ,,Verstehen Sie?"

,,Ja, ich verstehe."

,,Tun Sie das wirklich?"

,,Ich sagte doch bereits."

,,Warum sind Sie dann noch hier?"

Ich erwidere, dass das nichts zur Tatsache tut.

,,Das denken Sie. Also denken sie nochmal. Und denken noch fünf weitere Male. Denken Sie solange nach, bis Sie 'was anderes glauben, zu wissen." Das ist zu viel Denken auf einmal.

Er spitzt die eingerissenen Lippen und mit einem Mal Pusten erlischt die Flamme. Schade. Etwas Rauch steigt auf, der den Geruch von Verbranntem freigibt. Als hätte sie nie existiert, die Flamme. Eine Öllampe inmitten des Raums erhellt das Bild und entgegnet der weltlichen Dunkelheit. Auch der Herbst zögert nicht, zur frühen Abendstunde seine schwarze Decke über die Welt zu legen.

,,Ich möchte höflich sein. Wenn Sie hier für einen klitzekleinen Moment warten würden, hole ich Ihnen einen Tee."

,,Wie gut, dass ich höflich genug bin, um zu warten."

,,Ach, da zeigt sich Ihr Humor erneut." Ich erwidere das Lächeln und zucke mit den Schultern. Er verlässt das Zimmer, das ein Wohnzimmer zu sein scheint, und kehrt gleich darauf mit einem Tablett zurück.

,,Ich erzähle meiner Tochter immer, dass Tee wie eine Feder für Geist und Leib ist. Sie ist zu jung, um das zu verstehen." Vielleicht bin ich auch zu jung, um zu verstehen.

,,Doktor, ich bin nicht zum Philosophieren hier. Es freut mich für ihre Tochter. Es ist spät und ich habe noch 'was vor." Wie gern würde ich diese Worte aussprechen, doch schweige ein weiteres Mal in meinem Leben.

Er stellt das Tablett vor uns auf den Tisch und ich greife instinktiv nach dem gelben Becher.

Sein Blick entgleist. Ruckartig reißt Gilbert den Becher an sich, wobei etwas Flüssigkeit verschüttet wird. ,,Das ist meiner!" Er schiebt den Becher an das andere Tischende. ,,Der Rote ist Ihrer. Meiner ist ohne Zucker. Sie wissen doch, Gesundheit in dem Alter und so! Grüntee." Ein nervöses Lachen.

,,Es ist stellt doch kein Problem dar, dass ich mir erlaubt habe, in Ihren Zucker dazuzugeben?"

,,Nein, natürlich nicht. Mag ich sowieso lieber." So plötzlich wie das geschehen ist, wechselt er auch das Thema. Ein merkwürdiger Herr, doch wer bin ich, um urteilen zu dürfen?

,,Nun trinken Sie! Ist noch heiß. Violet, den Tod der Gezeit haben Sie mit hereingebracht- es wird gut tun."

,,Sie sprechen vom Tod, als wäre er unerwünscht."

,,Sie heißen ihn willkommen? Den Tod."

,,Das hab ich nicht gesagt. Aber er ist ein Teil von uns. Was wäre das Leben ohne den Tod? Vielleicht ist Leben und Tod nur ein Geschwisterpaar?", antworte ich. Ich bin nicht zum Philosophieren hier.

,,Ich dachte, Sie sind nicht für die Philosophie hier, aber gerne. Trinken Sie!" Ich möchte nicht, mein Kopf schreit und Liams Schreie und seine vorherigen Worte inmitten des Chaos. Ich vertraue ihm nicht.

Mit einem aufgesetzten Lächeln setze ich die Tasse an. ,,Das dachte ich mir auch eben."

Süßlicher Geruch steigt auf und die aufsteigende Wärme kitzelt. Erwartungsvoll, erschaut mich an, während er seine Eigene ergreift. Ich schlucke. Wenig.

,,Warum ist es nötig, die Beratung anderenorts Ihrer Praxis zu führen? Was ist mit dem OP Ablauf?" Er seufzt. ,,Und ich kann Ihnen auch jetzt einen Teil der Kosten geben!", kommt es lauter heraus, als beabsichtigt."

,,Lassen Sie sich nicht ablenken!", schreit er und und reißt den Arm in die Luft. Aus Reflex legen sich meine Arme schützend um den Kopf und ich presse die Augenlider fest aufeinander. Schlechte Erinnerungen stürzen auf mich ein. Das Glas fällt klirrend zu Boden. Schwerer Atem. Die Ruhe, die wie diese Glasscherben wieder zusammengepuzzelt werden muss. Mutter, Vater, ich höre euch. Die Kerze rollt noch. Sie bleibt vor der Haustür stehen, findet dort ihre eigene, vollkommene Ruhe, ihren Platz.

,,Oh. Verzeihung. Ich habe oft Zuckungen. Schrecklich! Das verstehen Sie doch sicherlich."

Das Klirren von zerberstendem Glas erklingt noch in meinen Ohren, immer wieder. Alles ist zu viel. Alles ist zu wenig, dass da nichts ist, wonach ich als Halt greifen kann. Ich möchte mich auf den Boden legen und wie eine Kerze einfach wegrollen- von diesem Planeten fallen und im Nichts versinken, ein Teil von dem Nichts werden, nichts sein.

,,Das verstehen Sie sicherlich", wiederholt er sich. Ich verstehe nichts, gar nichts.

,,Wo befindet sich das Bad?" Wortlos nickt er zum Flur. Ich springe auf und falle in einen schwarzen Strom. Meine Hände klammern sich am Stuhl und ich habe das Gefühl, zu Boden zu fallen.

,,Was ist mit Ihnen? Alles in Ordnung?" Alles dreht sich und etwas liegt schwer in meiner Brust. Du musst atmen, Vie, atme! Meine Hand legt sich auf meine Brust und ich zähle langsam bis zehn und wieder und wieder, bis ich halbwegs den Stuhl loslassen kann.

,,Ja", krächze ich. ,,Alles in Ordnung." Nicht. Ich wage es nicht, die Verneinung laut auszusprechen.

,,Zweite Tür links. Das Bad." Ich blinzele. Das Bild nimmt an Klarheit zu. Einerseits steht mein Herz still, andererseits höre ich das Blut in den Ohren pochen.

Er räuspert sich, worauf mir wieder mein Vorhaben einfällt. Der erste Schritt ist einfach, denn die Verzweiflung, hier wegzukommen, ist überwältigend. Aber mit jedem einzelnen Schritt werden die Gedanken lauter und überschlagen sich. Er ist der einzige Arzt, der die Hoffnung am Leben halten kann. Mein einziger Ausweg, ich brauche ihn. Verdammt, diese Tränen sind unwillkommen. Wo bist du, wenn ich dich brauche, Miles?

Mein Schatten verfolgt mich die Wand entlang- größer und anmutiger. Es soll sich auflösen oder von mir trennen und verschwinden. Ich möchte mit meiner Misere, mit mir als Hauptrolle, allein gelassen werden. Nur mein Schatten scheint zu überleben in dieser Welt. Die Erinnerungen sind so präsent wie eine zweite anliegende Haut. Was würde er an meiner Stelle sagen und tun? Meine Faust trifft auf die Wand. Ich keuche auf, der Schmerz gleicht eiskaltem Wasser. Ich muss mich beruhigen. Ich muss aufwachen. Etwas fühlt sich unangenehm nass und kalt an. Mit dem Ärmel wische ich über mein Gesicht. Erneut kein Blut. Nur Speichel. Oder Tränen. Vielleicht beides.

Am Flurende sind vier Türe. Zweite Tür rechts. Die Türklinke krächzt und lässt sich nur schwer runterdrücken. Das dämmrige Licht im Flur lässt keinen Blick, in das im Dunkeln liegende Bad, zu. Gezwungenermaßen suche ich die Wand nach einem Lichtschalter ab, aber verziehe das Gesicht. Feucht und uneben. Das Haus wirkt umso mehr heruntergekommen und verschwiegen.

Mit dem Fund der Lichtquelle stellt sich heraus, dass sich hier nichts befindet. Ausschließlich ein blauer Karton ist inmitten des Raums platziert. Alles steht still. Gefühlt. Aus dem Augenwinkel sehe ich eine große Motte flattern. Mein Blick wandert zu den heruntergezogenen Rollläden, deren untere Hälfte komplett fehlt. Bemerkenswert.

Es ist viel zu dunkel draußen. Vermutlich sollte ich umkehren und endlich das Bad aufsuchen, um alles möglichst schnell hinter mir zu bringen. Vermutlich ist das Folgende von Anfang an bestimmt gewesen, als ich dieses Haus betrat.

In dieser Traumwelt oder Realität bücke ich mich und hebe den Deckel des Kartons an. Zwei schwarze Lederhandschuhe befinden sich darin. Fein säuberlich, fast schon penibel, sind sie nebeneinander geordnet. Jeder Finger auseinander gelegt und glattgestrichen, wie es bei einer gespreizten Hand wäre.

In dieser Traumwelt oder Realität gewöhne ich mich an diese Eigentümlichkeit, die aus den Ecken wie Efeu gekrochen kommt und sich zwischen jede Lücke schlingelt. Die Neugierde ist größer.

Als ich den Deckel drauf lege und mich aufrichte, klopft es. Leise und zaghaft.
,,Wie konntest du mir das antun?"

Vor Schreck mach ich einen Schritt zurück und stolpere über meine eigenen Füße. ,,Was?" Nun muss die Weltuhr stillstehen. Mein Herz schlägt schneller als jede Sekunde auf diesem Planeten, kaum wahrnehmbar.

,,Wie konntest du...du...u mir das antun?", schluchzt die hohe, kindliche Stimme.

,,Was?", dränge ich und suche nach der Stimme. In der Ecke sitzt zusammengekauert ein kleines Mädchen. ,,Wer bist du?"

Zwei geflochtene Zöpfe fallen ihr seitens hinab und ein weißes Kleid ziert ihren Körper. Das Kleid wird nie mehr weiß sein.

,,Wie konntest du nur? Wie?" Ihre Augen scheinen die Quelle des Blutes zu sein. In dicken Schlieren verteilt es sich überall an ihr.

Sie klammert sich an die Wand, das Schluchzen zunehmend. Als sie auf beiden Beinen steht, bilden die roten schreienden Tropfen einen Kreis um sie.

,,Was ist hier los? Wer bist du?" Die Szenerie ist vertraut. Ich habe die Kleine schon mal gesehen. Diese Tränen und Verzweiflung sind bekannt- ein Bild mit Spuren von Linien. Ich habe das Bild zuvor gesehen, zusammengefaltet und in die Kiste der Vergängnis verbannt.

Die kleine Stimme fordert auf, dass ich mich umdrehe. Ich gehorche, ohne sie aus den Augen zu lassen.

,,Sieh in den Spiegel", befiehlt sie schreiend.

,,Da ist kein-." Ein großer Scherbenhaufen liegt an dieser Stelle. Er ist vorher nicht da gewesen. Nun werde ich offiziell verrückt. Gut. Sehr gut sogar.

,,Wahnsinn...Woher?", will ich fragen, doch sie setzt sich hin und wiegt sich vor und zurück. Ich verstehe nicht. Nichts. Was passiert hier gerade? Was ist mit mir?

Sie hebt den Kopf. Ihre Lippen bewegen sich schnell, aber keine Laute kommen heraus.

,,Was? Ich verstehe nicht."

Ich mache einen Schritt näher. Sie reibt sich die Augen. Ein weiterer Schritt. Sie reibt schneller, fester, lässt das Blut an ihren Armen runterrinnen. Noch ein Schritt. Sie hebt den Arm, wobei der Stoff aus Spitze an ihrem Handgelenk runterrutscht. Lange rote Striche.

Ich greife nach ihr, will sie instinktiv in den Arm nehmen, doch es geht in die Leere. Wie, das kann doch nicht sein, kann es?

,,Wo...wo bist du hin?" Ich drehe mich um, alles in mir dreht sich um. Da steht sie vor der geschlossenen Tür. Die bekannte Unbekannte. Eine vertraute Unvertraute.

Das kleine bekannte, vertraute, unbekannte, unvertraute Mädchen macht einen Handstand. Der Stoff rutscht runter. So viele Verletzungen zieren ihre Oberschenkel. Sauber und tief gezogene Linien durch das Fleisch.

,,Hast du...", beginne ich die Frage, aber falle hin. Meine Beine tragen mich nicht mehr. Plötzlich merke ich wie sehr schwitze, wie eng die Luft hier doch drin ist. Ich bin müde.

Ein lauter Knall. Draußen. Ich blicke neben mir. Sie ist weg. Weg wie ganz verschwunden, nicht mehr anwesend, gegangen. Es ist ein Traum, es kann nur ein Traum sein. Die Scherben sind mit ihr verschwunden. Faktisch gesehen, kann das alles nicht real sein.

Die Tür wird aufgerissen. ,,Mädel, das ging ja schneller als gedacht. Liebend gern." Gilbert lacht.

,,Was ist hier los?", schreie ich mit letzter Kraft. Meine Augen fühlen sich so schwer an wie der Rest meines Körpers. Mein Kopf legt sich auf den Boden. Ich hole tief Luft, aber da ist nicht genug.

,,Morphium. Du weißt sicherlich, was das ist oder soll ich dir einen Arzt zur Aufklärung suchen", spottet er. Dieses grässliche Lachen. Liam hatte recht.

,,Der Tee!", wird mir mit einem Schlag klar. Ich muss hier weg. Dieser Traum ist schrecklich, ich verliere die Kontrolle.

,,Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich verspreche, niemand wird etwas erfahren!"

Ich versuche aufzustehen, aber die Schläfrigkeit nimmt zu und mir klappen fast die Augen zu. Er stellt sich vor mich und zieht unter seinem Pullover ein Seil hervor. Was hat er nur vor?

Ich will nicht.

Er zieht mich an den Haaren zur Heizung und ich heule auf. Es tut weh. Es tut so sehr weh. Meine Wangen werden nass, werden von all den ungeweinten Tränen auf einmal überschwemmt.

Alles dreht sich, er und der Raum und mein mittlerweile nackter Oberkörper und meine machtlosen Hände drehen sich, die Welt.

Er sagt, ich soll spüren, was Hitze wirklich bedeutet. Ich will nicht.

Die Heizung ist heiß, viel zu heiß, heißer als gedacht, wenn dasselbe Stück Fleisch anliegt. Ich schreie auf. Der Schmerz ist unbeschreiblich.

Er drückt meinen Körper an das brennende Metall und beginnt, mit dem Seil mich festzubinden. Das ist mein Ende. Niemand hätte gedacht, dass es so zu Ende geht.

,,Weißt du...ich mag es, wenn Menschen Selbstgespräche führen. Das erinnert mich an mich selbst. Du bist wie ich. Nur dass ich nicht rechts mit links verwechsel." Erneut dieses höhnende Lachen.

,,Ich bin nicht wie du", schreie ich mit letzter Kraft. Verdammt. Das Seil liegt so fest an, dass ich mich gar nicht bewegen kann. Schmerz. Höllenqualen.

,,Das sagen sie alle."

Er dreht sich um und läuft zur Tür. ,,Mal gucken, was mir für Spielchen für dich einfallen. Ich werde kreativ sein."

,,Warte! Bitte. Das ist alles nur ein Missverständnis. Ich sollte nicht hier sein." Ich kann nicht mehr. Die Hitze nimmt zu.

Das Mädchen. Wie konnte ich das Mädchen, dieses Mädchen vergessen?

,,Wer war hier vorhin?"

,,Mädel." Er schüttelt den Kopf. ,,Weißt du, was ein Zug ist oder brauchst du dafür einen Arzt? Ein Zug hat immer eine Endstation. Akzeptier', dass das hier deine ist. Niemand weiß, niemand wird sich erinnern."

Sein Lachen schallt, als er die Tür hinter sich zieht.

Ich zähle, zähle und zähle, bis ich aufgeben werde, um nicht nichts gemacht zu haben. Und als ich endlich aufhören will mit dem Zählen, mich dem Schmerz vollkommen hinbegebe und die Augen schließe, ertönt ein lauter Schrei, Stimmen zwischen mehreren Schritten und eine Hand, die ich niemals abschlagen könnte.


~

Die Erkenntnis schlägt in einer hässlichen Welle über mich. Die letzten Stunden, Minuten und Sekunden kommen mir so entfernt vor, doch spüre ich sie eisern in den Knochen festsitzen.Ich spüre sie auch auf meinem Rücken, die große rote Wunde lässt nur die Schmerzen erahnen.

Dieses Gefühl von Verlorenheit schafft Freiraum. Endlich weiß ich, was mir die ganze Zeit über entgangen ist. Ich schaue in sein Gesicht, statt mich dem Haus mit den Erinnerungen zu widmen.

Ich schüttele den Kopf. Zu schwach und erschöpft, um zu erklären, dass es meine Schuld ist. Alles. Ich bin selbst schuld. Es will aus meiner Brust. Ich will alles aus den Tiefen holen und von mir werfen. Ich schreie, schreie und schreie, und werde gehört, aber nicht verstanden.

,,Liam. Liam. Liam", heule ich um ihretwillen. ,,Da ist noch ein Mädchen." Die Tränen verschwimmen mir die Sicht und ich klammere mich an alles Greifbare, zerre und zerre und zerre. Es gibt keinen Halt. Er versteht nicht.

,,Hör mir zu! Du musst mir zuhören, Liam." Nach jedem Wort schnappe ich nach Luft, doch es scheint nicht zu genügen.

,,Vie, beruhige dich." Seine Hände legen sich um mein Gesicht und er blickt mir geradewegs in die Augen. ,,Niemand ist mehr im Haus. Die Polizei hat alles durchsucht. Bis auf den letzten Fleck. Er ist weg, er wird nie mehr jemandem wehtun können."

Ich schubse ihn ungläubig weg. Das kann nicht sein. Da war ein Mädchen.
,,Nein." Verzweifelt schüttele ich den Kopf. ,,Du muss mir zuhören", presse ich hervor. ,,Da ist noch ein Mädchen." Ich muss ihr helfen. Ich muss sie retten. Oh Gott, ich kann sie dort nicht zurücklassen."

,,Vie, bitte. Beruhig dich."

,,Das war nur Einbildung. Versprochen." Verdammt, das war es nicht. Das kann es nicht sein.

,,Aber wenn ich mich beruhige, können wir zusammen nachgucken gehen?"

,,Es wird vermutet, dass du noch unter Drogen stehst. Wir müssen erst einmal mit der Polizei reden und später mit einem richtigen Arzt ein paar Tests machen." Morphium.

,,Bitte geh nicht."

,,Ich lass dich nicht allein, Violet. Hätte aufmerksamer sein müssen." Es ist alles meine Schuld. Alles.

,,Nein." Verdammt. Ich verschlucke mich an jedem unausgesprochenem Wort.

Die Hoffnung ist schwach. Um einiges schwacher als die Realität, um an ihr festzuhalten. Ich kneife die Augen zu, möchte nicht in die Gesichter der fremden Uniformierten und Nichtuniformierten. Fakten sind geschrieben, kann ich sie irgendwie auslöschen?

Mein Körper ist fremd, ich hebe den Arm und wische über die Stirn, seufze, höre nicht auf, mich zu bewegen. Ich bin das. Ich bewege mich. Ich suche nach dem richtige Gefühl für diese Situation, für meinen Kopf und Körper. Überfordert. Aus allen Seiten hämmert es auf mich ein, doch stehe ich da, falle nicht, halte mich fest auf beiden Beinen.

Der schneidende Wind zerrt an mir und der Regen peitscht. Wie ein Schrei des Erwachens. Du lebst. Du lebst. Du lebst.

Die Wörter zerfließen auf meiner Zunge. Ich möchte ihm danken, als er mich zum Baum in Gilberts Garten führt, vorbei an all den Menschen, die nur helfen wollen. Ich wollte mir selbst auch nur helfen. Ich krieche tiefer und näher an den Stamm, grabe meine Nägel in die nasse Erde, lasse mich endlich fallen, um aufatmen zu können. Diese verfluchten Hände legen sich um meinen Kopf, vor was auch immer ich mich verstecke, wie ich es bisher so oft getan habe. Die letzten Gefühle wirble ich auf, falte sie zusammen, bis sie so klein sind, dass sie sich auflösen. Ich glaube, nichts mehr zu spüren. Das Blut verlässt meinen Körper und sickert durch den Boden. Durch die feuchte braune Erde. Ich bin lediglich eine leere Hülle.

Die Welt ist relativ klein, doch immer noch größer als man selbst. In manchen Zeiten greife ich nach den Sternen und in anderen bin ich lediglich ein Käfer. Jemand ist auf mir getreten.







Ich bin eine Autorin, die nicht schreibt. Aber macht das Schreiben einen nicht zum Autor? Okay, doch ich schreibe, aber nicht viel. War viel los hier. Tut mir leid, dass ich für dieses Kapitel so unglaublich lang gebraucht habe. Aber hier ist es endlich! Es hat mir einiges abverlangt. Wie findet ihr es? Es ist das längste Kapitel, das ich je geschrieben habe xD

Übrigens werdet ihr noch erfahren, wer die Kleine ist. Und ihr werdet verstehen, was es mit dem Handstand auf sich hat.

Und an alle die mich kennen, ihr habt den Insider rausgelesen oder?😂😂 das flatternde Kleidungsstück am Ast. Ohje xD Wollt ihr die kleine Story dazu hören?😂
Und habt ihr irgendwie Fragen an mich oder so :) Bin offen für alles (^-^)
Oh und haben wir hier auch Vegetarier und Veganer am Start? Würde mich sehr interessieren🙃😊

Bis zum nächsten Mal, Freunde der lesenden Sonne 🌞

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