5- Der fliehende Apfel

Es ist hart sich zusammenzuhalten, wenn man nur noch loslassen will. Ich bin eine Form, die auslaufen will. Einfach auf dem Boden schwimmen und über nichts weiter nachdenken, gestaltlos und ohne Grenzen.

Der Blick in die gläsernen Scheiben der Cafeteria ist vorhin erschreckend gewesen. Ich wollte lächeln, doch mein Spiegelbild lächelte einfach nicht zurück. Tränen. Mit aller Mühe habe ich versucht sie in Form zu halten. Grenzen und Mauern für den Fluss.

Überall sitzen lachende Menschen über Tische gebeugt und unterhalten sich angeregt. Menschen, die sich durch das Lärmen sichtbar machen. Lärmend und sichtbar.
Fällt jemand heruntersehendem auf, dass ich die einzige bin, die nichts sagt? Ein Perspektivenwechsel von dem man klarer aus sehen kann, da alles untergeht innerhalb einer Masse. Ich bin unsichtbar.

Die Kommilitonen sind vertraut, ich kenne Namen und Adressen, Vorlieben und Abneinungen, Wünsche und Haustiere. Ich sehe ihre Steckbriefe, die vielen Etiketten. Und doch weiß ich nicht, was ich sagen soll. Geschweige möchte ich ihnen gar nicht zuhören, da es oft deprimierend ist. Manchmal sind alltägliche und albernde Gespräche, diese Banalität, wie ein Feuerzeug. Sie zünden in mir eine Flamme der Wut an. Es gibt wichtigeres im Leben über das man ein Wort verlieren sollte und doch schweigt dann der Mensch.

Nichtsdestotrotz beneide ich sehnend, dass ich nicht auch mit solch einer Lockerheit dasitzen und das Leben genießen kann. Es tut weh.

Wie soll ich von anderen erwarten, dass sie mich verstehen, wenn ich es selbst nicht tue?
Meine Beine kleben am Boden. Allein der Gedanke aufzuspringen und aus diesem Raum zu rennen, fühlt sich so einfach an. Ein Gedanke, der zum Greifen nah ist. Allerdings haftet Sekundenkleber an meinen Gliedern. Ich bleibe, doch meine Gedanken fliehen vor dem Gedanke des Fliehens.

Ich ziehe einen Apfel aus der Tasche. Unnötige Aufmerksamkeit wird man mir zuteilen, wenn ich als einzige nichts esse.

,,Woah." Jake zieht eine Augenbraue hoch. ,,Wie alt ist der denn?", fragt er und deutet mit dem Kinn auf meine Hand.

,,Keine Ahnung. Laufe immer mit einem Apfel für mehrere Wochen in der Tasche herum, da ich ihn vergesse." Ausgerechnet jetzt spricht er mich an.

Er braucht nicht zu übertreiben. Ich nehme einen Bissen. Der Apfel hat zwar ein paar Dellen, aber schmeckt dafür noch ganz akzeptabel.

Ich schlucke und als ich aufblicke, sind da mehrere überraschte Gesichter.
,,Was ist?" Genau, was ist mit mir? Der nächste Bissen bleibt mir im Hals stecken. Ich hätte es nicht versuchen sollen.

,,Was ist?", frage ich lauter und mit fester Stimme.

,,Nichts", murmelt Jake und der Rest der Gruppe blickt weg.

Ich stehe auf. Alle blicke liegen auf mir. Ist das nicht genau das, was ich verhindern wollte? Innerlich schlage ich mir mit der Hand an die Stirn.

,,Violet, jetzt beruhig dich mal!" Ich bin ruhig. Ich bin ruhiger, als das Meer zu frühen Morgenstunden. Das braucht er nicht wissen.

,,Es ist nur", Jake schaut hilfesuchend zu den anderen, die mit starrem Audruck den Tisch betrachten.
Er sucht nach den richtigen Worten, um mir etwas unangenehmes zu beichten- das würde sogar ein Außenstehender erkennen. Ein anderer Lärmender.

,,Jetzt sag schon", kommt es aufgebrachter raus, als geplant.

,,Es ist das erste Mal, dass wir dich in den letzten zwei Jahren hier etwas essen sehen haben." Falsche Worte. Er hat die falschen Worte ausgewählt. Er fixiert die Wand hinter mir. Da steckt mehr dahinter. Da muss einfach mehr dahinter stecken.

,,Wir sind nicht blöd. Wir sehen die dunklen Schatten unter deinen Augen."

Sie scheinen alle immerzu einladend, aber sobald ich mich ihnen anschließe, versucht niemand sich mit mir zu unterhalten. Und genau jetzt, wo sie sich mit mir unterhalten, kommen sie mit solch einem Thema. Der Mensch als Paradox.

Ich hätte nach der Vorlesung geradewegs nach Hause gehen sollen. Zu meinem Vorteil liegt meine Wohnung nicht weit vom Campus.

Ich greife nach Jacke und Tasche.
,,Ich gehe."

,,Sind das Tränen in deinen Augen?", fragt eine andere.

,,Nein." Mir ist weder nach Weinen zu Mute, noch hätte ich einen Grund.

,,Violet, deine Augen glänzen", beharrt sie.

,,Das tun sie immer." Mit diesen abschließenden Worte, reiße ich die Glastür auf.

Dieses beschissene Gefühl von Hoffnung, das mich immer wieder in solche Situationen schleudert, möchte ich am liebsten wie ein Stück Papier zusammenknüllen und in die nächste Tonne werfen. Anschließend würde ich die Tonne abfackeln, damit die besagte Hoffnung nicht entfliehen kann und sich wieder in mir einnistet. Der Gedanke gefällt mir- ich muss ihn später unbedingt aufschreiben.

Seufzend ziehe ich den Zettel aus den Tiefen meiner Tasche, auf dem alle noch zu erledigenden Dinge stehen. Ganz oben steht die Hausarbeit für den nächsten Monat an, mit der ich zu meinem Bedauern noch nicht begonnen habe und langsam knapp wird.
Anstelle jetzt Nachhause zu gehen, kann ich auch in die Bibliothek und ein paar Vorbereitungen treffen. Das ist viel besser, als nur gelangweilt auf der Couch zu liegen und nichts zu machen.

Ich laufe schneller. Er ist wieder da.
Wie ein Kleinkind versuche ich nicht auf die Rillen des Asphalts zu treten. Eine lächerliche Gewohnheit.

,,Du hättest dir eine Jacke anziehen sollen. Die warme Jahreszeit ist längst vorbei."

,,Ich weiß, Miles", schnaube ich. Er müsste doch wissen, wie gut sich die Kälte anfühlt. Wie belebend und einnehmend- sich einfach fallen lassen und den Atemwolken zusehen, wie sie empor steigen.

,,Jetzt reiß dich mal zusammen. Noch dramatischer geht das bei dir nicht", kommt es direkt zurück. Du würdest der Welt einen Gefallen tun, wenn du still bist, Miles. Nur für einen kurzen Moment. Bitte.
Der Griff um meine Tasche wird fester und meine Schritte noch schneller, als das große Gebäude sich vor uns erschreckt.

Die Ästhetik der Bibliothek ist bereits von außen erfassbar. Jedes Mal bessert sich meine Laune erheblich bei diesem wunderschönen Anblick. So schlimm ist der Tag nicht, er ist nicht zu Ende und die Nacht schließt sich noch an.

Ich ziehe an der riesigen Tür vor uns. Sie geht nicht auf.
,,Ist abgesperrt." Verwirrt drehe ich mich zu ihm um.

Er lacht. ,,Du musst drücken."

,,Oh. Das hätte ich nicht wissen können." Genervt rollen meine Augen. Wir wissen beide, dass ich es sehr wohl wissen könnte, so oft wie ich hier bin. Falsch gedacht. Der Tag zieht sich doch viel zu sehr in die Länge.

,,Genau! Was ist mit dem Schild oben rechts auf dem fett und groß 'Drücken' steht?"

In solchen Momenten erwidere ich lieber nichts.
Ich laufe geradewegs zu den Treppen, da ein Stockwerk höher die Bücher der Geschichtswissenschaften liegen.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, wandert mein Blick über die Umgebung. Um diese Uhrzeit sind so viele Menschen hier, dass von der geschätzten Ruhe nicht zu sprechen ist. Die Lärmenden und Sichtbaren in dieser Welt

Innerhalb weniger Minuten hat sich schon ein riesiger Stapel an Bücher angesammelt.
Leider bin ich nur mit zwei Händen gesegnet worden. Die könnte ich niemals auf den Armen alleine tragen.

Irgendwo sind immer Plastikkörbe aufgestellt für die Ausleihe. Ich entferne mich von den Regalen und laufe den Gang entlang. Bei den Aufzügen und Treppen stehen mehrere aufeinander gestapelt. Wenn man bedenkt, wie oft ich hier bin, hätte mir das früher auffallen müssen.

Ich greife nach dem obersten Korb, als plötzlich mehrere Bücher in diesen fallen.

,,Schön dich wiederzusehen, Vie."

Ich hoffe, die Geschichte gefällt euch soweit. Es ist mein erstes Buch, das keine Kurzgeschichte ist und woran ich wirklich arbeiten will (vielleicht versage ich deshalb beim Outlining lol).
Kritik ist mein bester Freund! Traut euch ;)
Findet ihr die Kapitel zu lang oder zu kurz? Auf Rechtschreibfehler könnt ihr mich aufmerksam machen und ich versuche, diese dann schnellst möglich zu verbessern.
Sind die Gefühle von Violet zu sehr beschrieben?
Jaa, ein etwas unnötiges und uninteressantes Kapitel, aber ihr braucht mehr Hintergrundwissen über die Prota. So versteht ihr auch, warum sie so handelt und denkt, wie sie es tut.

Danköö und bis zum nächsten Mal ;)

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