4- Vielleicht ein Tag für Antworten

,,Ich möchte einmal mit einer Regenbogenflagge durch Saudi Arabien rennen."

,,Ich möchte den Leuten aus der Schule einmal in die Visage hauen und ihnen zeigen, dass ich nicht schwach bin." Viele murmeln zustimmend.

,,Und ich möchte", sie scheint zu überlegen, ,,nie wieder einen Rasierer kaufen mit einer anderen Absicht, als in einem kurzen Sommerkleid zu tanzen." Sie zieht die Ärmel runter, als alle ihr die Aufmerksamkeit widmen.
Die Andeutung eines Lächeln liegt auf ihren Lippen.

,,Ich möchte essen und mich trotzdem schön fühlen."

,,Was ist mit dir, Violet?" Die Gruppenleiterin dieser Selbsthilfe, Sam, sieht mich aufmunternd an.
,,Es gibt keine falschen Antworten." Allerdings kann es schlechte Fragen geben.

Eine weitere Frage in meinem Leben, auf die ich keine Antwort habe. Langsam wird das mehr als nur frustrierend. So viele Fragen und niemand, der mit Antworten dasteht.

Ich möchte nicht antworten. Woher soll ich wissen, was ich möchte in meinem Leben, in diesem einzigen und kurzen Menschenleben? Was gibt mir die Sicherheit, dass ich etwas wirklich will? Ich weiß noch nicht mal genau, warum ich überhaupt hier bin. Etwas Simples muss ausreichen. Ich sehe die Erwartung in deren Augen.
Ich zähle. Alle 16 Augenpaare liegen nun auf mir.
Ich glaube mein Spiegelbild zu sehen in ihren Augen, Erwartungen und Fragen.

,,Du musst nicht antworten, wenn du nicht möchtest. Alles geschieht hier freiwillig." Sam.
Ich vermute, ihr warmes Lächeln ist echt. Entgegen ihrer Jugend sind zahlreiche Lachfalten um ihre Augen erkennbar. Es spricht für sie.

,,Ich glaube-." Mein Herz klopft laut. ,,Ich möchte glücklich sein."

Nachdenklich mustert Sam mich. Das Bild ihrer Jugendlichkeit wird von einer Stirnfalte gestört. ,,Gute Antwort", kommt es nach einem Augenblick der Stille.

,,Glück", ergreift jemand das Wort. Seine Mundwinkel wandern nach oben, der Blick auf den Händen.

,,Es dreht sich alles um Glück im Leben. Dabei ist es nur eine Ausrede. Glück kommt und geht. In diesem Leben, jetzt, ich möchte zufrieden sein."
Er schaut auf und blickt mir geradewegs in die Augen. ,,Zufrieden leben und zufrieden sterben. Zufriedenheit ist konstant und bildet das höchste Gut. Nicht der unbeständige Zustand eines glücklichen Empfindens."

Mein Körper, von oben bis unten, wird von einer schauernden Gänsehaut ergriffen. Es fällt mir schwer, seinem Blick nicht auszuweichen. So persönlich das Thema auch ist, das hier ist um ein vielfaches intensiver. Unangenehm.

,,Das ist alles, was ich möchte", fügt er hinzu. Seine langen Beine sind unter dem Stuhl gekreuzt und der Oberkörper leicht nach vorne gebeugt.

Das stechende Grün verkörpert so viel Ehrlichkeit und Gelassenheit, dass es mich aufwühlt. Das Gefühl, dass er versuchen mir etwas mitzuteilen, aber ich zu unbesonnen dafür bin, lässt mich nicht los. Etwas, das so offensichtlich ist, dass es nahezu närrisch ist. Ein geschlossener Raum zeigt unerschütterliche Ruhe, bis man alle Wände herunterreißt und das Innere erfasst wird; er scheint, nicht einmal mit der Wimper zu zucken.

Trotz der gelassenen Ruhe ist da eine gewisse Achtsamkeit, mit der er mich mustert. Als würde er in mir wie in einem offenen Buch lesen und Seite für Seite durchblättern. Die nötige Distanz, die mich vorm Erröten bewahrt, ist mein Unwissen über ihn.

,,Liam, heute besonders philosophisch drauf?" Sam lächelt. Sam scheint durchgehend zu lächeln.

,,Immer doch." Er zwinkert und streicht sich die Locke aus der Stirn.

Eine mageres Mädchen mit blonden Haaren, ich glaube Loraine, stimmt ihm offenkundig zu. ,,Glück stellt eine Abhängigkeit dar." Bekräftigend nickt sie.

Nach einem weiteren Moment der Stille, klatscht die Lächelnde in die Hände und steht auf. ,,Das war's für heute. Ich bin so stolz auf euch. Denkt daran, immer weitermachen!" Ihr Optimismus wäre sogar aus mehreren Meilen Entfernung erkennbar.
,,Dann kann man auch nicht viel falsch machen", scherzt sie noch.

Sie wendet sich an mich und spricht: ,,Es freut mich sehr, dass du diesen Schritt gewagt und den Mut aufbringen konntest, hierher zu kommen. Sowas ist nie einfach. Vor allem nicht am Anfang. Ich hoffe, du bist auch künftig anwesend, aber natürlich ist das völlig dir überlassen."

Ich danke ihr und schenke ihr das größte Lächeln, das ich aufbringen kann. Es ist nicht genug.
Alle verabschieden sich noch untereinander, aber da hab ich schon meine Tasche gegriffen und bin dabei zur Tür zu laufen. Gerade als ich sie hinter mir schließen will, ist da ein Widerstand. ,,Liam?"
Er hat dieses komische Grinsen, bei dem nur ein Mundwinkel hochgezogen ist. ,,Heey."
Nebeneinander laufen wir still die Treppen runter, worauf er mir im Erdgeschoss die Tür aufhält. ,,Nach Ihnen, gnädige Frau." Spielerisch verbeugt er sich und ich schaffe es nicht, mir das Lachen zu verkneifen. Amüsant.

,,Also, wie bist du auf die Gruppe gestoßen?", fragt er nach einer Weile, in der wir nur still durch den Park gelaufen sind, der an das Hochhaus grenzt.

Ich will nicht darüber reden. ,,Ich hab mich in letzter Zeit einfach einsam gefühlt. Keine Ahnung." Ich zucke mit den Schultern, denn mehr sage ich nicht dazu.
Du merkst erst wie einsam du bist, wenn du am Ende eines Tages Nachhause kommst und so viel zu erzählen hast, aber da niemand ist, der zuhört. Das spreche ich natürlich nicht aus. Ich möchte wirklich nicht, über dieses Thema nachdenken. Das tue ich zu oft, wenn ich im Bett liege und hoffe einzuschlafen, bevor die Tränen kommen.

,,Was ist der schönste Tag deines Lebens?", haue ich spontan raus und bereue es schon. Verdammt, fällt mir nichts besseres ein? Meinen Kopf gegen die nächstbeste gelegene Wand zu klatschen, klingt plötzlich so ziemlich verlockend.

Wenigstens schmunzelt er. ,,Ich habe keinen schönsten Tag im Leben. Jeder Tag hat seinen eigenen Reiz. Auch wenn das manchmal eher ein Brechreiz ist."

,,Wow. Diese Antwort hätte ich nicht erwartet." Er hat Sinn für Humor.

,,Was ist mit dir?", zeigt er Interesse.

,,Ich hab früher mal gezeichnet und ich behaupte jetzt mal, dass ich gar nicht so schlecht war", ich verstumme. Das ist eine der wenigen Erinnerungen, die noch vollkommen erhalten sind von damals.
,,Für den Muttertag hab ich meiner Mutter etwas gezeichnet und zum ersten Mal hat sie mich wirklich gelobt, mir gesagt, dass sie stolz ist, dass es wunderschön ist. Mutter hat mich umarmt und einen Kuss auf die Wange gedrückt. Dann hat sie die Zeichnung in ihrem Schlafzimmer aufgehängt."

,,Das ist schön. Und wenn wir schon dabei sind, was ist deine schlimmste Erfahrung? Sofern das nicht zu persönlich ist, aber alle haben einen offenen Umgang miteinander in der Gruppe."
Er kann nicht ahnen, was diese Frage für ein Durcheinander in mir auslöst. Manchmal würde ich mir am liebsten den Mund zu nähen, um nie wieder zu reden. Meine Zunge ist immer schneller als mein Verstand.

,,Ich war sieben, denke ich. Ich hatte mich auf den Boden geschmissen und an das Bein einer Mutter geklammert. Eine Mutter, die eigentlich ihr Kind halten sollte. Ich dachte wirklich, umso lauter ich weine, desto stärker kann ich sie überzeugen. Ich habe noch nie so sehr geweint und geschrien. Es war ein Abend. Meine Mutter und ich standen auf dem Balkon im 5. Stockwerk. Im Hintergrund stand mein Vater und brüllte sie an, sie solle doch springen, wenn sie ihr Leben und uns nicht mehr will."






Heey, hier ist der neue Stoff für euch. Lesestoff ^^
Wie findet ihr das Kapitel oder das Buch an sich bisher? Soll ich mehr aufdecken oder ist alles klar soweit? Kritik ist jederzeit willkommen.

Übrigens habe ich einen genialen Anime fertig geschaut. Violet Evergarden. Könnt immer noch weinen, wenn ich dran denke -.-
Also wenn ihr mal nichts zu tun habt, ihr nicht gerade mein Buch lest und alle eure Internetfreunde offline sind, könnt ihr Violet Evergarden schauen😍😂
In einem Monat sind Ferien :D

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