2- Das Ausrufezeichen
Meine Augen liegen auf den vorbeiziehenden Wolken. Ich werde ein Teil dieses Bildes und dieses Bild ein Teil von mir, wenn ich mitwandere, nicht loslasse. Oberhalb der New Yorker Straßen bietet der Himmel ein bildschönes Farbenspiel aus grau und blau Tönen, während hier unten der gewohnt wirre Klang von Hektik und Chaos durch die Menschen zieht, unüberhörbar. Die Wolken ziehen durch den Himmel, unübersehbar.
Gänsehaut. Überall breitet sich Gänsehaut auf meinem Körper aus. Ich schaudere, als seine Stimme sich an mich heftet, um mich kalt zu durchfahren. Wie aus dem nichts.
,,Ich hatte dir die Wahl gelassen, ein einsames Leben oder ein bedeutsamer Tod." Dunkel.
,,Ich weiß nicht." Ich weiß nicht, was ich weiß und ich will nicht wissen, was ich nicht weiß. Der Druck in meiner Schläfe nimmt zu, ich muss atmen. Ich werde nie wieder in Stimmung sein für dieses Gespräch, die Art von Gespräch, die dich verzweifelt nach Worten ringen lässt. Unsinniger Gedanke. War ich es denn je; bereit sein?
,,Nein. Violet, nein." Seine Mundwinkel wandern nach unten, das Augenpaar verengt sich zu Schlitzen. Sie müssen nur noch rot aufleuchten und ich würde losrennen, irgendwohin. An einen Ort, der nicht dieser ist und nie sein wird, ein Ort ohne Erinnerungen, aber mit viel Wärme, um die Innere Kälte auszugleichen und von Neu zu beginnen.
Neben all den leeren Reihen findet ein widriges Gefühl in mir Platz. Zögere, wäge ab, wähle mit Bedacht meine Worte. Doch vor allem zweifle ich, als die Buchstaben spontan in neuer Ordnung rausrollen.
,,Ich will keines von beidem."
Sein Ausdruck gefriert an dieser Stelle, auf diesem Stück Rasen, und wird mich doch bis in meine Träume verfolgen. ,,Natürlich willst du das nicht." Purer Spott. ,,Dein altes Ich muss sterben, um das neue zu gebären. Mein Vater erzählte Geschichten von Aufopferung. Märchen, die über Wünsche erzählten und lehrten. Und weißt du, was sie alle gemeinsam haben?"
Er lächelt. Warum lächelt er jetzt? ,,Wann immer es voranschreiten sollte, stand die Figur für die Aufopferung der ihr bedeutsamen Dinge ein. Wünsche sind ein Wollen und Begehren! Allerdings kann auch ein Brauchen dahinterstecken."
,,Ich muss mich entscheiden", murmele ich.
,,Du musst dich entscheiden, genau!", wiederholt er mit einer gruseligen Selbstverständlichkeit. ,, Du brauchst es, wie du auch das Ende in Klarheit zu sehen brauchst. Wir sind Visionäre!"
Das Ende. Seufzend nicke ich. Wie kann ein Ende das Ziel sein, wenn es doch das Ende ist? Wenn alles mit dem Ende endet, muss da ein neuer Anfang sein. Auf mich wartet ein Neubeginn, ein unbeschriebenes Blatt, eine Farbpalette mit mehr als nur blau und grau Tönen.
Ich strecke meine Beine aus, spüre das nasse Gras kitzelnd in der Kniekehle, schaue zu ihm auf. Schaue wortwörtlich und gleichzeitig nicht zu ihm auf. Unter meine Bettdecke kriechen oder mich vielleicht unter die braune Erde vergraben, das möchte ich. Vielleicht Tee trinken. Ich brauche Wärme. Wissen, wo ich stehe und wo ich bleiben kann- wo ich mich verstecken kann. Ich friere, es hört nie auf.
,,Von Beginn an bist du im Bilde über dein Brauchen. Es ist so viel mehr, ein Instinkt, den uns die Natur zu Nutzen machte."
So viel mehr. Die Zeit des Zagen gehört dem Gestrigen an, gestern ist kein Teil mehr von heute. Und das Heute ist ein Schritt nach vorne. Zumindest fühlt es sich so an. Aber es gibt eben eine große Schlucht zwischen dem, was man denkt und wie man letztendlich handelt.
Der Sekundenzeiger meiner Uhr läuft. An meinem Handgelenk liegt mein Ende. Ein Mensch muss mit der Zeit rennen, denn sonst überholt sie ihn. Ich bin ein Mensch, muss rennen, aber darf nicht hinfallen. Fallen gibt Narben, ich habe schon so viele, bin gezeichnet von der Welt und zeichne selbst. Der Druck nimmt einfach nicht ab, als ich mir die pochende Schläfe massiere.
Von Entschlossenheit ergriffen, steh ich auf beiden Beinen. Ob ich wirklich mit zwei Beinen auf dem Grund stehe, fest und sicher, ist etwas anderes. Allerdings ist der Boden immer für mich da, wenn ich falle. Ich lache. Ein glückliches Lachen klingt anders, ich habe es oft bei anderen gehört und gesehen, brauche nicht den Geist, meinen Geist, erblicken, um zu wissen, ich bin es nicht. Ich bin nicht glücklich.
Sein missbilligender Blick ist eine Last, die getragen werden kann, aber nicht muss. Diesmal werde ich mich leichter fühlen. Wenn dies das Gefühl von Schwere ist, werde ich lachen, um nicht zu weinen. Denn durch Tränen nimmt diese Schwere nicht ab, noch kann ich den Stein wegspülen. Ich muss beginnen, zu leben, wie ich denke und denken, wie ich lebe, nach den Sternen greifen, statt ihnen nur aus sicherer Entfernung nachzuschauen, weniger versprechen und mehr machen, denn jede Aussage ist ein Versprechen. Ein Versprechen, dass meine Realität so aussieht und dass ich dich an meiner Wahrheit teilhaben lassen, dass sie so und nicht ganz anders ist. Er geht von Ehrlichkeit aus, er vertraut mir, er braucht mich oder brauche ich ihn? Das kann ich kontrollieren, ein unversprochenes Versprechen, nur ausgesprochene Wörter in kurzen Sätzen, Aussagen nennt man sie. Ich bin soweit.
Ohne ein Wort setzt er zwar einen Schritt von mir weg, doch entfernt sich kein bisschen aus meinem Kopf. Miles ist weg. Aus meiner Sicht verschwunden, als wäre er nie hier gewesen. Er hat etwas hinterlassen, in den Erinnerungen ist er präsent. Jedes Wort klebt an mir und lässt sich nicht abwaschen. Der Regen fällt und mit der Nässe, die durch meinen Mantel sickert, scheinen auch seine Worte sich vollzusaugen. Sie werden schwerer und deutlicher; es ist unmöglich, sie zu ignorieren.
Die Blätter rascheln unter meinen Absätzen. Mit dem Etikett auf meiner Stirn laufe ich schneller. Jeder Zweifel wird von den Regentropfen gefangen und in die Tiefe des Grundes gezogen. Die Erde ist feucht, meine Absätze versinken. Doch das Ende von Heute liegt noch fern, ferner liegt das Gestern und jeder letzte Augenblick. Ich weiß nicht, wo ich bin, alles scheint verschwommen, aber
ich bin soweit. Ich will schön sein, deswegen muss ich leiden.
-
,,Violet Devaney." Meine Finger trommeln auf dem Tresen, während ich warte. Ich warte auf mein Ende oder auf meinen Anfang. Mich lässt das ungute Gefühl nicht los, dass mein Gesicht so kreidebleich wie die Wand gegenüber ist.
,,Ich nehme an, Sie sind neu hier?", fragt die Empfangsdame, deren Lächeln so echt ist, wie das Gebiss meiner Großmutter.
Zwei mal nicken und ein mal mehr lächeln, ob es echt ist, interessiert niemanden hier. Sie reicht mir einige Blätter. ,,Frau Devaney, das sind notwendige Formalitäten, die ausgefüllt werden müssen. Sie können solange im Wartezimmer Platz nehmen, bis Sie aufgerufen werden."
Erneut kurz nicken und eine handvoll Schritte eilen, ehe ich mich setze. So weit entfernt von der Tür, wie nur möglich ist. An einem Montag, der wie jeder andere sein könnte und es trotzdem nicht ist, sitze ich in einem gottverlassen Zimmer der plastischen Chirurgie. Das Ende und der Anfang empfängt mich. Umgekehrt. Vielleicht so oder ganz anders.
Ganze zwanzig Minuten und dreiundvierzig Sekunden vergehen, bis ich meinen eigenen Namen höre. Eine Schätzung oder auch nur die erste Zahl, die mir in den Sinn gekommen ist. Ich springe auf. Ein Mann mittleren Alters, der jetzt mehr als nur Mensch sein muss, ein Erschaffer, ein Weltverbesserer, spricht.
,,Dr. Enckens. Der behandelnde Chirurg, guten Tag."
Mein Blich wandert von seinen Schuhen, meinen Schuhen, seinem Gesicht und wieder zur Wanduhr. Ich versuche, selbstsicher zu lächeln. Wenn ich mir nur genug Mühe gebe, so arg lächele, bis meine Gesichtsmuskeln wehtun, werde ich es wirklich sein. Glaube wird Realität.
Ich wische mir möglichst unauffällig die verschwitzte Hand an meiner Hose ab, bevor ich den Händedruck erwidere. Ich habe mal gelesen, dass die Art, wie man jemanden die Hände schüttelt, viel über einen aussagt. Mit der Hoffnung, dass er sich über meinen schwachen Händedruck nichts denkt, entgegne ich ihm auch lächelnd- wieder ist es doch egal, ob echt oder falsch, denn niemanden interessiert es.
,,Wenn Sie mir bitte folgen würden." Er fährt sich durch das dichte Haar, das mit den Jahren vereinzelt ergraut ist und läuft voraus. Die Wände sind weiß. Weiß, so schlicht und simple, dass es schon auf Eleganz trifft. Der Flur riecht, schmeckt und sieht nach Desinfektionsmittel aus. Es ist ein langer Gang.
Stille. Meine Schritte auf dem Linoleum Boden sind das einzige, das sich mit der Lautlosigkeit verträgt. Der Lärm bietet dieser Stille so oft ein Zuhause an, die Stille bietet dem Lärm so oft eine Pause an. Laut sind meine Schritte in diesem Ort. Sie Hallen an den Wänden und Glastüren ab und stürzen auf mich ein. Ich halte Geräusche in einem Vakuum, das mich zum Fallen bringt. Mein eigener Sturz bleibt aus. Schauder durchfährt jeden einzelnen Finger, in meinen Bauch und von da in die Beine bis Zehen. Ich laufe ihm weiter hinterher.
Irgendwo grüßt jemand. Sekunden, die wie Minuten erscheinen, verstreichen langsam. Endlich. Er deutet auf den Platz.
,,Hier. Setzen Sie sich."
Ich bin so weit. Ich bin nicht nervös. Ich bin bereit, ehrlich, ehrlich und nochmals ehrlich. Jetzt. Vielleicht bin ich etwas nervös. Aber das brauch ich ihm nicht zeigen. Verdammt, natürlich bin ich es. Wer wäre es nicht?
Ich atme ruhig aus und sitze aufrechter. ,,Danke." Der Schmerz in meiner Schläfe kommt zurück.
Ich bin soweit. Jeder einzelne Buchstabe fügt sich in seinem Platz wieder und vervollständigt das Bild. Buchstaben sind dazu da, dass man sie zusammensetzt wie ein Puzzle. Das ist mein Puzzle, das Bild gefällt mir. Ich muss es in meinen Kopf hämmern, darf es nicht verlieren, sonst verliere ich mich selbst.
Ich will das wirklich.
Dr. Enckens hält meine Identität in der Hand, die Formulare.
,,Violet Devaney, geboren 1995 und auf jeden Fall kerngesund?" Er schaut mit einem großen Lächeln auf. ,,Devaney", fängt er an und ich ahne, was als nächstes kommen wird. „Sagt Ihnen Robert Devaney etwas?"
,,Mein Vater."
,,Seine Bücher stehen weit oben in meinem Regal", gibt er kichernd von sich.
Meine Schultern heben sich und sinken. Ich bin es gewohnt darauf angesprochen zu werden. Spätestens nach seiner letzten Veröffentlichung ist mir klar gewesen, das würde sich nicht so schnell legen.
Sein Lächeln wird noch breiter, was ich nicht für möglich gehalten hätte. ,,Ich bin ein begeisterter Leser seiner Werke. Es ist mir eine Ehre." Die Ehre ist ganz meinerseits? Ich überlege. Was soll ich darauf antworten? Mit einem Lächeln belässt er es jedoch dabei und augenblicklich kommt ein drückendes Gefühl in der Magengegend auf. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen und wiederholen.
,Nun...wie kann ich Ihnen helfen?" Ich betrachte stumm sein Gesicht, das nur leicht von den Spuren der Zeit gezeichnet ist. Überlege und überlege, was der beste Weg wäre, um ihm mein Anliegen mitzuteilen.
,,Ich möchte schön sein!"
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