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Ich hatte niemals jemanden gerettet. Einmal, auf unserer Tour quer durch Europa, war ich Zeuge geworden, wie jemand im offenen Meer drohte zu ertrinken. Wir waren nicht auf den Ertrinkenden aufmerksam geworden, denn Ertrinken war eine stumme Angelegenheit, sondern auf diejenigen, die ihm bereits zu Hilfe geeilt und um weitere Unterstützung schrien. Es hatte Warnhinweise gegeben, nicht zu weit aus der Bucht herausszuschwimmen, denn gleich dahinter begann die Schleuse für die Kreuzfahrtschiffe. Doch irgendwer hatte sich nicht daran gehalten, hatte die Strömung unterschätzt oder war einfach nur leichtsinnig gewesen. Diejenigen, die als erstes zur Hilfe geschwommen waren, wurden nun selbst Opfer der Strömung. Die Katastrophe schien perfekt. Carlos, den wir im Hostel kennengelernt hatten, stürzte sich ohne weiteres Zögern ebenfalls ins Meer. Als bräuchte es nur genug Menschen, um die Strömung der Schleusen zu überwinden. Ich war festgefroren. Starrte aufs Wasser, starrte auf die Punkte, die Menschen waren und von denen ein Teil in größter Gefahr war. Aber ich bewegte mich nicht. An diesem Tag, an jedem anderen Tag, rettete ich niemanden.

Shannon weinte jetzt jeden Morgen. Zu große Äpfel, zu dicke Brotscheiben. Einmal schrie sie und warf ihren Teller gegen die Wand, später saß jemand auf einem Klappstuhl vor ihrer geöffneten Zimmertür. Die Gerüchte wurden laut, dass man überlegte, sie in eine andere Einrichtung zu verlegen, weil sie hier keine Fortschritte machte. Kats Worten hallten noch immer in unseren Köpfen nach, aber das hier, das war hart. Finneas saß seinem Trigger gegenüber, Jacky zuckte bei jedem Laut, den Shannon von sich gab, zusammen und Max, der allzeit getriebene Max, war schon nach dem Frühstück so gereizt, dass er spätestens zur Mittagszeit mit Vorsatz in einen von uns krachte. Harry seufzte neben mir immer öfter, leise genug, dass nur ich ihn hören konnte, als hätte er gar keine andere Wahl, als Shannons Kampf mitzufühlen. Ich war derjenige, der es schließlich nicht mehr aushielt.

Ich stand auf, ließ mein Frühstück unberührt und verlangte stattdessen in der Küche das exakt gleiche Frühstück, dass sie Shannon jeden Morgen vorsetzten. Einen gleichgroßen Apfel. Aufs Gramm abgewogene Brotscheiben, identischer Belag, die gleiche Sorte Joghurt. Reuben war mir gefolgt, griff jedoch selbst dann nicht ein, als ich mir zusätzlich zu dem Frühstück die Küchenwaage unter den Arm klemmte. Ich setzte mich neben sie, als wäre es nie anders gewesen, imitierte die Anordnung ihres Frühstücks mit meinem und nahm mir, ehe ich mich setzte, das Buttermesser von Harry, denn ich durfte noch immer kein eigenes am Platz haben.

Shannon verstummte. Unser Frühstück, selbst das Haltbarkeitsdatum unserer Joghurts, war identisch. Sie würden ihr nicht erlauben, die Küchenwaage zu benutzen, also wog ich zum Beweis zunächst ihre, dann meine Portion. Ich stellte unsere Äpfel nebeneinander, damit sie sah, dass sie gleich groß waren, dann nahm ich das Buttermesser und schnitt beide Äpfel in schiefe Viertel. Keine Wurmlöcher. Ich beugte mich so nah zu ihr herüber, wie sie und ich es ertrugen.

„Ich hab gesehen, wie sie dieses Essen zubereitet haben. Keine Tricks." Ich sprach so leise, als würde ich ihr ein Geheimnis über mich anvertrauen. Offiziell galt immer noch Sprechverbot. „Wir können tauschen, wenn du willst."

Shannon hatte mich noch nie ausstehen können und ich konnte es ihr nicht verübeln. Sie hatte keinen Grund mir zu trauen, sie hatte nichtmal einen Grund, mir mehr als alles Verderben zu wünschen, so gemein war ich zu ihr. Das hier waren weder Friedensangebot noch Heilung, weder für sie, noch für unsere Beziehung. Doch sie überwand ihr Zögern, tauschte unsere Teller und führte sich die Brotscheibe an die Lippen. Sie weinte noch immer lautlos. Neben ihr war der Ekel spürbar, mit dem sich ihr ganzer Körper gegen jeden Bissen Nahrung wehrte. Als sie anfing, auf einem Krümel zu kauen, nahm ich mir einen der Apfelschnitze.

Shannon dankte mir nicht. Vielleicht wusste sie, dass ich damit nicht hätte umgehen können.


In den Nächten blieb ich jedes Mal vor seiner Tür stehen und klopfte dann doch nicht. Ich war mir sicher, dass er dahinter darauf wartete, dass ich klopfen und ihn abholen würde, wahrscheinlich würde er nicht mal ein Wort über Aiden verlieren. Aber ich klopfte nicht, denn ich hatte keine Ahnung, wie man auf Menschen zuging. Ich schlich an ihnen vorbei, so wie ich Nacht für Nacht an seiner Tür vorbeischlich. Wenn ich Glück hatte, bemerkte er mich nicht. Ich rauchte schweigend, jetzt wo niemand mehr da war, mit dem ich hätte reden wollen, und dachte an Shannon, die glaubte, dass in jedem ihrer Äpfel ein Wurm war. So wie ich dachte, dass mir jeder Mensch etwas Böses wollte. So wie Max dachte, dass er nur dann etwas wert war, wenn er jeden Tag mehr leistete als alle anderen. So wie Jacky irgendetwas dachte, doch keiner von uns wusste, was sie dachte, weil etwas sie hatte verstummen lassen. Ich rauchte noch mehr, weil diese Gedanken kein Ende zu finden schienen.

Harry hingegen wusste, wie man auf Menschen zuging. Vielleicht überraschte mich das Klopfen an meiner Tür deswegen nicht. Fahrig. Eine Spur zu laut dafür, dass es weit nach meiner Ausflusgzeit und noch weiter nach Nachtruhebeginn war. Der Himmel vor meinem Fenster war tiefschwarz und ich schon längst in diesem Stadium, in dem ich wusste, dass ich in dieser Nacht nicht würde schlafen können. Es klopfte und ich legte das Buch, das ich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, zur Seite, öffnete bloß in Boxershorts und T-Shirt und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte.

Das war nich nicht Harry, wie er immer in meiner Nähe saß. Nicht Harry, der sich scheinbar mühelos mit jedem in Mason Manor unterhalten konnte. Nicht Harry, der er vor ein paar Stunden im Fitnessraum neben mir auf dem Laufband gestanden hatte. Dieser Harry war fahle Haut, zitternde Hände und aufgerissene Augen. Sein Atem folgte keinen Rhytmus mehr; die einzelnen Atemzüge schienen sich in der Brust mit seinem Puls zu verheddern. Er versuchte zu sprechen, doch sein Mund blieb ein verlassener Ort. Alles was ihm blieb war, die Hände nach mir auszustrecken.

Und ich griff nach ihnen. „Soll ich die Nachtschwester rufen?"
Er schüttelte vehement den Kopf und ich glaubte, dass seine Augen noch eine Spur größer wurden.
„Okay, ich..."
Ich schloss die Tür hinter ihm und mir, sperrte alles aus, was nicht die Stille dieses Zimmers war, ohne dabei seine Hände loszulassen. Das Geräusch seiner Atemzüge erfüllte den ganzen Raum.
„Harry", ich drückte seine Hände sacht, er reagierte nicht. „Darf ich dich berühren?"

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