- 13 -
Kein Nullpunkt. Zumindest nicht für Harry und mich. Wir hatten keinen unvoreingenommenen Ursprung. Denn ich hatte ihn gesehen, wie er aus diesem Wagen gestiegen war, hatte seine Ankunft vor allen anderen bemerkt. Und davor hatte ich ihn mir vorgestellt.
Sie hatten uns angewiesen, ihn wie jeden anderen zu behandeln - was auch immer das an einem Ort wie Mason Manor bedeuten sollte - doch ich hatte mir ausgemalt, dass er uns dafür gar keine Wahl lies. Dass ihn Bodyguards und Manager ankündigten, dass man ihm einen ganzen verdammten Flügel zuwies, in dem er gleich mehrere Zimmer, ein eigenes Bad und eine Heerschar an eigens für ihn eingeflogenen Ärzten besaß. Mason Manor roch nach dem Geld seiner Patienten, doch Harry, so dachte ich, würde uns alle überstrahlen.
Es gab keinen Nullpunkt.
Also kehrte ich zu meinem eigenen Nullpunkt zurück. Ich machte einen Wettbewerb daraus, wie sehr zu spät ich zu einzelnen Punkten meines Tagesplans erscheinen konnte, bevor es Konsequenzen gab. Ich redete nicht, und wenn ich doch musste, zuckten sie bei meiner Wortwahl zusammen. Und ich leugnete unsere Routine: ich ignorierte Harrys leere Kaffeetasse, holte mein Besteck selbst und räumte am Ende bloß meinen Platz ab. Die Toilettenkabine blieb leer und ich mit meiner Übelkeit in meinem Zimmer, die Stirn gegen die kühle Wand gelehnt und wenn es mich doch einmal überkam, griff ich nach dem Papierkorb unter meinem Schreibtisch. Harry ließ mich und das machte mich rasend, denn er brauchte keine Worte, um sein Verständnis auszudrücken. Er brauchte nicht einmal Blicke, für das, was er sagen wollte.
Es war Kat, die schließlich die Geduld verlor. Nicht nur mit ihm und mir, sondern mit uns allen.
Am Nachmittag zur Gruppentherapie saßen wir in einem der Therapieräume im Kreis und Max und Finneas versuchten, sich nicht anzuschreien, drohten aber, an ihren Egos zu scheitern. Max hätte den Fitnessraum benutzt, obwohl sich Finneas für die Mittagspause dafür eingetragen hatte. Die Liste, die sonst an der Tür zum Fitnessbereich hing, war nicht aufzufinden und Max, der normalerweise wenig sagte aber unter Wut zu viel, hatte Finneas gesagt, dass es sowieso besser so wäre. Er solle weniger trainieren und mehr essen.
Ihre Versionen von dem, was passiert war, unterschieden sich in Details. Deswegen war Max nun rot angelaufen und Finneas biss so sehr die Zähne zusammen, dass seine Kiefermuskeln sichtbar wurden. Miriam saß buchstäblich zwischen beiden Parteien und intervenierte, wann immer es zu hitzig wurde.
Die Explosion kam von rechts. Hätte ich aufgesehen, statt auf meine Schuhspitzen zu starren, hätte ich es vielleicht vorraussehen können, denn Kat hielt nicht viel von einem Poker Face. So traf es mich wie alle anderen unvermittelt und ausnahmsweise gehörte auch ich zu denen, die wegen Worten zusammenzuckten. Oder mehr noch: wegen ihrer Eindringlichkeit.
„Ihr seid unglaublich dumm. Ihr alle. Ist euch das klar?"
Jeder im Raum verstummte. Jackys Augen waren riesig, Shannon sah aus, als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen. Miriam setzte an, um etwas zu sagen, ihrem Gesichtsausdruck nach etwas darüber, dass sie mit Kats Wortwahl absolut unzufrieden war, doch Kat hob die Hand in ihre Richtung und stand auf. Ich hatte Kat niemals außerhalb dieser Einrichtung erlebt, aber ich glaubte, manchmal bekamen wir Bruchstücke von der Version ihrer Selbst, die sie vor all dem gewesen war. Nicht die Drogen. Sondern diese junge Frau, die sich nicht davor scheute, die Aufmerksamkeit einzufordern, die ihr zustand.
„Miriam, ich hab Sie lieb, aber irgendwer muss das mal sagen. Und wenn mich einer von euch unterbricht, zieh ich ihm meinen Stuhl über den Schädel, klar?" Sie sah uns der Reihe nach an. Nur in Harrys Richtung verlor ihr Blick an Schärfe, als wolle sie sagen: Du bist nicht gemeint.
„Ich unterstütze die Sache mit dem Stuhl."
„Halt den Mund, Flankery."
Ich zuckte theatralisch zusammen, als erwartete ich tatsächlich einen Hieb mit ihrem Stuhl. Kat verzog keine Miene.
„Ihr, oder wir, auch wenn ihr mich bald los seid, sind alle aus dem gleichen Grund hier. Klar, die Anlässe sind andere, aber der Grund ist der gleiche: die fucking Gesellschaft hat uns verstoßen, weil wir verrückt sind. Manche mehr", sie deutete auf mich und da wusste ich, dass sie mir nicht ernsthaft böse war. „Manche weniger. Wir sind Außenseiter. Allesamt. Wir haben nur noch uns. Das könnte unsere größte Waffe sein. Stattdessen habt ihr alle nichts anderes zu tun als euch bei jeder Gelegenheit ein ganzes Messerset in den Rücken zu rammen und das ist wirklich, mit Abstand, das dümmste, was ich jemals mitansehen durfte. Und bei Gott, wir wissen, was ich alles sehen durfte."
Sie ließ sich zurück auf ihren Stuhl fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. Noch einmal wanderte ihr Blick zwischen uns umher und da wusste ich, was sie meinte: Sie hielt uns zusammen wie eine große Schwester. Bei ihr heulten wir uns aus, sie rügte uns für unser Fehlverhalten, sie sorgte für eine natürliche Ordnung. Denn sie war am längsten hier, und allein das machte sie zu unserer Anführerin. Doch es gab niemanden, der diesen Platz einnehmen würde, wenn sich die Türen ersteinmal hinter ihr geschlossen hatten. Keiner von uns war soweit.
Kat seufzte hörbar. „Ich hab das alles hier nicht überstanden, weil ich ständig gegen alle Krieg geführt habe."
Einen Moment war es still. Darin einten wir uns. Jeder für sich ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen; wir alle waren stur und launisch, aber keiner von uns dumm genug, den wahren Kern hinter Kats Ausbruch nicht zu begreifen. Max und Finneas wechselten einen Blick.
„Nun."
Wir alle hatten Miriam vergessen.
„Danke Kat. Deine Wortwahl ist und bleibt fragwürdig, aber du hast nicht unrecht."
Harry saß zu meiner Linken. Shannon und Jacky trennten uns voneinander. Er begegnete meinem Blick, als hätte er nur auf mich gewartet. Harry, der mich sein ließ, selbst wenn ich nicht gut war. Er saß beim Frühstück noch immer neben mir, trotz Aiden. Er sah mich nicht an, weil er sich mit jemandem das Maul über mich zerriss oder erwartete, dass ich jeden Moment die Kontrolle verlor. Er sah mich an, weil er mich wahrnahm. Er legte den Kopf ein kleines bisschen schief. Keine Veränderung in seinen Zügen, kein offenkundiges, für jeden sichtbares Lächeln. Ich nickte, kaum merklich. Kein Lächeln. Kein Wort. Nur er, der mich ansah und ich, der lernte, ihn wahrzunehmen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top